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Das Wurmloch von Bayview
Nach dem Verschwinden unserer Eltern hatte sich meine Schwester verändert und ich redete mir ein, dass ich mich täuschte. Unser gemeinsamer Verlust schweißte uns stärker zusammen denn je. Anfangs redeten wir oft darüber, trösteten uns gegenseitig in den Schlaf und sprachen uns jeden Morgen neuen Mut zu. Wir erfanden ein Spiel, in dem wir die Ranger von Bayview verkörperten: Ich, Theodor, der verwegene Antiheld mit dem lockeren Colt, und sie, Eleonora, die geheimnisvolle Femme fatale. Gemeinsam jagten wir die Verbrecher, die unsere Eltern gekidnappt hatten. Der Fall bereitete uns ganz schön Kopfzerbrechen.
Ein paar Wochen danach fiel es mir zum ersten Mal auf. Wir sassen nebeneinander auf der Couch und ich hatte beide Hände am Steuer, tat so als würde ich unseren Dienstwagen durch den Stadtverkehr lenken. Eleonora legte ihrer Femme fatale gerne fremdartige forensische Wörter in den Mund, um ihren Intellekt zu betonen, aber diesmal klang ihre Sprache ganz komisch, rau und kratzig, als hätte sie den Stimmbruch, und ich fragte mich, ob sie heimlich rauchte oder sich draußen vielleicht eine Krankheit geholt hatte. Auf jeden Fall klang sie viel älter, nicht wie siebzehn, aber ehrlicherweise hatte ich sowieso vergessen, ob sie nun siebzehn oder schon dreiunddreißig war.
Mit der Zeit bemerkte ich ebenfalls eine Veränderung in ihren Augen. Eines Morgens lag ein Glänzen in ihnen, dass ich erst auf die Müdigkeit schob. Vielleicht hatte sie schlecht geschlafen. Sie wäre nicht die Einzige gewesen. Doch es war auch am Abend, am nächsten Morgen und selbst eine Woche später noch da. Als würde sie mich heimlich verspotten oder als hätte sie ständig unglaublichen Hunger. Dazu kam das Gefühl, dass ihre Augen sich mit jedem Tag verengten.
Diese Vorstellung wurde so intensiv, dass ich davon träumte. Wie sie eines Morgens, die Lider zu zwei engen Schlitzen zusammengewachsen, kopflos durch das Haus taumelte oder lachend und schmatzend in der Küche sass, ihr Bauch zu einer dicken Kugel angeschwollen.
Aber wenn ich dann genau hinsah, waren es immer noch ihre Augen und das Glänzen fiel mir erst wieder auf, wenn ich es schon fast vergessen hatte.
„Was ist mit dir?“, fragte sie einmal während des Abendessens.
„Ach nichts“, antwortete ich. „Ich mag deine Augen. Sie erinnern mich an das Meer.“
Unser Vater war Astrophysiker gewesen. Die Bücher in seinem Büro, das direkt an die Lobby angrenzte, ließen wir unberührt und sie hatten mit der Zeit eine dicke Staubschicht angesetzt. Manchmal verbrachte ich dort die Tage, sass im Ohrensessel und stellte mir vor, tief zwischen seinen Polstern zu versinken, hinab in eine Welt, wo alles noch beim Alten war. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich die Stimmen unserer Eltern hören. Mutter bettelte mich an, ihnen zu helfen, oder Vaters Flüstern, dass es ihm leidtäte, schwebte durch den Raum.
Ich versuchte, nicht daran zu denken, aber manchmal studierte ich herum, was ihnen wohl zugestoßen war. Irgendwann fiel es mir unmöglich, zu sagen, wie lange sie schon fort waren. Ein Tag konnte sich anfühlen wie eine Woche und der nächste war so kurz, dass ich glaubte, es wären nur eine oder zwei Stunden vergangen.
Meine einzige Orientierung bestand aus den festgelegten Abläufen. Aufstehen. Frühstücken mit meiner Schwester. Den Eingangsbereich vom Sand befreien. Um ungefähr zehn Uhr verließ sie das Haus und ich war allein. Meine Zeit verbrachte ich in Vaters Sessel oder las in alten Magazinen, sass auf der Couch rum und beobachtete den tanzenden Staub im Sonnenlicht. Falls mir das zu langweilig wurde, klimperte ich eine Melodie auf dem Steinway, die mir Mutter beigebracht hatte.
Gegen den späteren Nachmittag, wenn die Sonne bereits tiefe Schatten ins Wohnzimmer warf, kam meine Schwester zurück. Dann kochte sie für uns und am Abend erzählte sie mir von draußen. Ihre Geschichten waren stets dieselben, doch gab ich mich interessiert, stellte ihr möglichst viele Fragen, um das Schlafengehen hinauszuzögern. Ich fürchtete mich davor, aufzuwachen und alles wieder von vorne zu erleben.
Die eine Frage, die mich wirklich beschäftigte, stellte ich ihr lange Zeit nicht. In Wahrheit dachte ich irgendwann gar nicht mehr viel über unsere Eltern nach, sondern nur noch an die Warnungen meiner Schwester. „Geh nicht nach draußen oder in den Keller, während ich weg bin“, sagte sie, bevor sie zu ihren Ausflügen aufbrach.
Seit das mit der Stimme und dem Verengen der Augen schlimmer geworden war, sprach sie öfters davon. Manchmal war der Satz reines Kauderwelsch, von dem ich nur ein paar ähnlich klingende Silben aufschnappte. Ich glaubte nicht, dass ihr diese Veränderungen bewusst waren, aber meist versuchte sie es dennoch ein zweites Mal, und fügte an: „Am besten setzt du dich einfach ins Wohnzimmer und wartest auf mich.“
Unsere Mutter hatte bei Bayview Wildlife Watch gearbeitet, zumindest bis sie entlassen wurde, weil irgendwann keine Touristen mehr hergekommen sind. Was wollten die sich noch ansehen bei uns? Die fortschreitende Versteinerung einer einst berühmten Tier- und Pflanzenwelt? Das Landefeld war längst verlassen und von Vaters Sessel hatte ich einen guten Blick auf die Ankunftshalle und den Navigationsturm. Dessen Rundumfenster schillerte in der Sonne wie ein Prisma, als wäre noch Leben hinter ihm, als versuchte jemand, mir eine Botschaft zu übermitteln.
Wanderdünen hatten die meisten Gebäude unter sich begraben und nur die obersten Stockwerke der Hotels ragten noch daraus hervor. Kantige Felsformationen im roten Sand. Unser Haus stand zum Glück auf einem Hügel am ehemaligen Stadtrand von Bayview, und deshalb waren wir vorerst sicher. Diese Sicherheit erschien mir jedoch zunehmend trügerischer, weil wir jeden Morgen länger brauchten, um die Veranda von den Sandmassen zu befreien. Es dauerte ein paar Wochen, bis mir vollständig bewusst wurde, dass wir eine solch sinnlose Routine nur in unseren Alltag aufgenommen hatten, um täglich den Schein ebenjener Sicherheit zu wahren.
Obwohl meine Schwester mir stets davon erzählte, dass sie draußen auf andere Menschen traf, sich mit ihnen unterhielt und handelte, zwei oder drei gefangene Sandwürmer gegen eine Konserve Erbsen oder Tomaten tauschte, so wurde mir irgendwann bewusst, dass sie von Anfang an gelogen hatte. Die Esswaren musste sie beim Durchsuchen der verlassenen Gebäude gefunden haben. Ein paar davon waren sicher noch zugänglich.
Vor den Fenstern glitzerte der Sand in der brennenden Sonne. Darüber spannte sich der blaue, vollkommen leere Himmel. Abgesehen von den Würmern existierte kein Leben. Die unscharfen Gestalten im Hitzeflimmern, die ich manchmal zu sehen glaubte, entsprangen lediglich meiner Fantasie. Wenn das Menschen gewesen wären, hätten sie unser Haus sicher bemerkt und uns früher oder später einen Besuch abgestattet. Ich hätte sogar Freude gehabt, wenn jemand nur zum Plündern vorbeischaute. Aber das passierte nie. Seit Jahren, so kam es mir vor, hatte ich mit niemand anderem gesprochen als mit meiner Schwester. Das Meer war längst ausgetrocknet und hatte eine riesige salzverkrustete Senke zurückgelassen. Eleonora und ich waren schon so lange allein hier, dass ich mir eingestehen musste, keine andere Menschenseele je wiederzusehen.
Die Würmer, die meine Schwester auf ihren Ausflügen erbeutete, waren so lang wie mein Unterarm und stanken nach Fisch, der zu lange in der Sonne gelegen hatte. Ihre augenlosen Schädel bestanden aus übereinandergeschichteten, dreieckigen Knochenplatten. Die Haut war sandfarben, rau wie Schleifpapier und mit atmenden, daumennagelgroßen Poren bedeckt.
Nach dem Kochen griffen wir die Knochenplatten mit einer Zange und zogen diese samt der Haut von den weichgekochten Körpern. Ich hatte es mir zum Hobby gemacht, aus den Platten fetischartige Anhänger zu basteln und diese an die Decke des Wohnzimmers zu hängen. Oder Figuren zu schnitzen, mit denen ich Kämpfe zwischen Superhelden und Bösewichtern nachstellte. Das mit den Bayview-Rangern hatte Eleonora längst vergessen und ich brauchte dringend eine Alternative.
Als sie das erste Mal mit den Würmern zurückkehrte, erschrak ich dermaßen, dass ich nach dem Besen griff und ihr damit den Beutel aus den Händen schlagen wollte. Eleonora steckte die Würmer jeweils lebend in einen Jutesack, um sie so frisch wie möglich zu halten. Sie betrat mit einem stolzen Grinsen die Küche und warf das zugebundene Bündel auf den Tisch. Auf den ersten Blick wirkte es, als strampele ein Säugling im Stoffknäuel! Ich hätte schwören können, seine verzweifelt gegen den Beutel drückenden Händchen und Füßchen zu sehen. Aber als meine Schwester mich ermutigte reinzuschauen, wanden sich darin nur die Würmer.
Das mit Abstand schlimmste waren jedoch die Laute, die sie von sich gaben. Durch das Öffnen und Schließen ihrer übergroßen Poren erzeugten sie ein ledriges Ploppen, begleitet von einem durchgehenden Geräusch, das viel höher klang. Bei genauerem Hinhören konnte ich darin etwas Menschenähnliches erkennen. Das leise Weinen eines Kindes. Dazu sonderten sie ein dünnes, farbloses Sekret ab, dass den Beutel vollschleimte. Sie verstummten erst, nachdem wir sie ins kochende Wasser geworfen hatten.
Um die optimale Garzeit herauszufinden, brauchten wir einige Versuche. Kochten wir sie zu kurz, schmeckten sie stark nach verrottetem Fisch. Dass ich den ersten Bissen erbrach, war nicht einmal dem Geschmack geschuldet, sondern der eklig glitschigen Struktur im Mund. Beim Schlucken steckte mir ein schleimiger Aal im Hals, der meine Speiseröhre hinaufzappelte.
Waren sie zu lange im Topf, wurde das Fleisch zäh und faserig und ich glaubte, mir den Kiefer auszurenken, um ein Stück davon abreißen zu können. Wir fanden heraus, dass sich die optimale Kochzeit bei ungefähr einer halben Stunde einpendelte. Dann konnten wir uns vorstellen, dass sie geschmacklich an sowas wie Hühnchen erinnerten. Jedenfalls wenn wir die Augen vor dem ungesund gräulichen Aussehen des Fleisches verschlossen. Mit der Zeit hörte ich auch das Weinen nicht mehr. Irgendwann wurde alles zur Gewohnheit.
Eines Morgens wachte ich auf und Eleonora blieb im Bett. Normalerweise schlief ich länger als sie, aber an diesem Tag war ihr Platz auf der Couch im Wohnzimmer leer. Üblicherweise hockte sie dort, betrachtete die Fetische, für die sie eine ungesunde Faszination entwickelt hatte, und wartete darauf, dass ich mich endlich aus meinen Alpträumen zwang. Voller Sorge klopfte ich an ihre Schlafzimmertür. Nachdem mehrmals keine Reaktion erfolgte, trat ich ein. Sie lag regungslos auf den schmutzigen Laken und in der Luft hing ein fauliger Geruch, als hätte sie zu viel von den Würmern gegessen und die ganze Nacht aufgestoßen. Rasch öffnete ich ein Fenster.
„Zeit aufzustehen, die Ranger von Bayview haben einen neuen Fall“, begrüßte ich sie und versuchte mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, sie mit Fröhlichkeit und Tatendrang zu überspielen. Es dauerte einen Moment, bis sie mir den Kopf zuwandte und mit einer Stimme antwortete, die ihre Tonalität vollkommen verloren hatte: „Ich weiß nicht, was los ist, Theodor. Egal was ich versuche, ich kann nicht!“
„Soll ich dir helfen?“, fragte ich und als ich ihren Blick bemerkte, fügte ich an: „Bist du krank?“
Sie blieb ein paar Minuten still, als überlegte sie, ob das eine plausible Erklärung für ihr Verhalten darstellte. Ich glaubte schon, sie würde gar nicht antworten, doch dann presste sie keuchend und mit schmerzverzerrtem Gesicht hervor: „Nein, ich glaube nicht. Vielleicht habe ich mich überanstrengt und muss mal einen Tag ausruhen. Es kostet mich enorme Kraft, jeden Tag da raus zu gehen.“
Obwohl ich froh war, dass sie überhaupt etwas sagte, fühlte ich mich plötzlich wie ein geprügelter Hund. „Bleib einfach liegen, ich kümmere mich um den Rest. Du wirst schon wieder zu Kräften kommen, dafür sorge ich! Sag mir, wenn du etwas brauchst. Ich bin da, so wie du für mich da bist. Ich bringe dir ein Glas Wasser.“
„Danke.“
Bevor ich das Zimmer verließ, blickte ich zurück und erwartete eine Regung in Eleonoras Gesicht. Irgendeine. Vielleicht war es nur der letzte Rest einer kindlichen Naivität, aber ich fand, jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt für ein Lächeln gewesen. Ihre Miene jedoch blieb ausdruckslos und die Augen geschlossen. Die gelockten Haare wallten über das Kissen und umkränzten ihren Kopf wie eine erlöschende Aura.
Auf dem Weg nach unten hörte ich sie wieder in dieser seltsamen Sprache sprechen, die eigentlich gar keine Sprache mehr war, sondern lediglich aus abgehackten Kratz- und Gurgellauten bestand, die meine Knie auf der Treppe weich werden ließen.
An diesem Tag vergaß ich, die Veranda vom Sand zu befreien. Ich ging auch nicht nach draußen, wie ich gegenüber meiner Schwester angedeutet hatte. Stattdessen trat ich an die Tür zum Keller. Strich mit meinen Fingern über das Holz. Als meine Eltern noch gelebt haben, ist mir die Tür gar nie aufgefallen. War sie schon immer dagewesen? Meine Hände drückten die Klinke nach unten und sie öffnete sich. Eine steile Treppe führte in die Dunkelheit.
Ich zögerte, fragte mich, wieso ich das nicht schon früher getan hatte. Meine Selbstvorwürfe brachten mich schließlich zu einem Entschluss. Irgendetwas musste ich ja tun. Nach einem Lichtschalter tastend stieg ich die ersten Stufen hinunter. Ich fand keinen. Am Ende der Treppe glomm ein blauer Schimmer, der mich die Stufen als kantige Schatten erkennen ließ. Je weiter ich hinabstieg, desto heller wurde sein Leuchten, blendete mich, sodass ich das Gefühl hatte, trotzdem blind die Treppe runter zu stolpern. Unten angekommen, erkannte ich mit zusammengekniffenen Augen, dass es von einer mitten im Raum schwebenden, pulsierenden Kugel ausging.
Sie wurde von einem flimmernden Kraftfeld zwischen zwei gebogenen Metallstreben gehalten, an denen das blaue Licht in verästelten Blitzen nach oben und unten lief, was Schatten auf die Steinwände des Kellers warf, als fliesse stetig Wasser an ihnen herab. Ein elektrisches Summen erfüllte die Luft.
Unter der Kugel liefen die Streben zusammen, auf einen transparenten Quader geschweißt, in dem ich Rohre und Kabelstränge erkennen konnte, die sich aus dem Rumpf der Maschine emporzogen. An ihrer Seite saßen zahlreiche Ventile, die sich zischend öffneten und dabei weißen Dampf ausstießen. Aus der mir zugewandten Fläche des Quaders ragte ein gekrümmter Füllstutzen. Ich hielt die seltsame Apparatur für eine Art Maschine, zumindest verfügte sie über irgendeine Form des mechanischen Antriebs. Ich vermutete, dass es sich bei dem, was in ihrem Innern keuchte und stampfte, um einen Motor handelte. In einer Ecke des Kellers fiel mir ein offenes Fass auf. Es war überfüllt mit ausgepressten Würmern. Ihr Sekret musste als Brennstoff für die Maschine dienen.
Ein Experiment meines Vaters? Er hatte an verschiedenen Projekten gearbeitet, die sich mit Raum und Zeit beschäftigten, aber so wie ich es verstanden hatte, war ihm der Durchbruch zu seinen Lebzeiten nie gelungen. Ich betrachtete die Maschine und fragte mich, zu welchem Zweck er sie entwickelt hatte. Früher erzählte er oft von der Arbeit. Seine ausschweifenden Erklärungen ließen Mutter die Augen verdrehen. Obwohl ich nicht die Hälfte des Fachjargons verstand, habe ich ihm immer sehr gerne zugehört. Ich fand das sehr beeindruckend. Andererseits hatte er die Maschine vor uns geheimgehalten. Wahrscheinlich war sie gefährlich. Vielleicht, und diese Möglichkeit musste ich in Betracht ziehen, lieferte sie aber auch Antworten.
Meiner Bedenken zum Trotz trat ich auf die leuchtende Kugel zu.
Am nächsten Tag sass ich auf der Bettkante und hielt Eleonoras Hand. Spürte, dass sie im Sterben lag, ohne das jemand es laut aussprechen musste. Ihre Haut fühlte sich ledrig und rau an und der Puls ging nur sehr schwach. Unter ihrer roten Stirn zeichneten sich dreieckige Formen ab. Ich versuchte, die grässlichen Umstände zu ignorieren und blickte aus dem Fenster zum Auge des Navigationsturms.
„Ich war im Keller. Bei der schwebenden Kugel.“
„Du warst schon immer sehr neugierig.“
Ihr Lächeln brach mir fast das Herz. Es erinnerte mich an alles, was ich verloren hatte. An all das, was unter den Sanddünen begraben lag. Etwas Uraltes, das mir jetzt vollkommen fremd vorkam. Nur eine düstere Erinnerung, zugeschüttet von der Zeit und gefangen in dieser seltsamen Kugel, diesem Wurmloch im Keller.
„Was ist das?“
„Hast du hineingeschaut?“
„Ja.“
„Sie müssen glücklich sein, in ihrer neuen Heimat unter dem Sand. Hast du gesehen wie sie tanzen?“
Von diesem Tag an ging ich oft in den Keller und starrte stundenlang in die Kugel. Hypnotisiert von den Traumsequenzen, welche die Geburt einer neuen Welt zeigten. Das Bayview der Zukunft. Ihre Transzendenz wurde schwächer mit jedem Besuch, doch ich brachte es nicht über mich, Brennstoff nachzutanken.
Als ich eines Morgens in das Zimmer meiner Schwester zurückkehrte, verstand ich zuerst nicht, was sich verändert hatte. Aber dann dämmerte es mir. Eleonoras Bett war leer. Sie hatte mich verlassen und mit ihr war dasselbe geschehen, wie vermutlich mit meinen Eltern. Ich hatte damit gerechnet, dass es irgendwann soweit kommen musste, doch nun, da dieser Umstand tatsächlich eingetroffen war, spürte ich dessen Konsequenz wie Faustschläge im Magen. Mein Mund war trocken, am Hals zuckte eine Ader und heiße Kieselsteine rollten zwischen meinen Schläfen hin und her. Das Fenster stand offen. Eine warme Brise bewegte die Vorhänge.
Auch unter der Bettdecke regte sich etwas. Vielleicht war Eleonora kalt und sie hatte sich nur zugedeckt. Ich wollte es nicht wahrhaben, bis ich sie zurückschlug. Auf dem Laken wimmelten die frischgeschlüpften Würmer, häuteten und verknoteten sich zu einem grotesken, ineinanderfließenden Knäuel. Sie hatten ihre stinkenden Schleimspuren wie Rotzflecken kreuz und quer auf dem Bezug hinterlassen und fielen windend und zappelnd über die Bettkante. Mit letzter Kraft robbte ich aus dem Zimmer und verlor auf der Treppe das Bewusstsein.
Zum ersten Mal habe ich unser Haus verlassen. Ich konnte nicht länger in die schwebende Kugel hineinsehen. Trotz der Sonne ist mir kalt. Ich rede mir ein, dass es nur ein ganz normaler Tag ist. Ein ganz normaler Tag in Bayview. Menschliche Silhouetten im Hitzeflimmern winken mir zu. Wind hebt tanzenden Glitzerstaub von den Dünenspitzen. Die Fenster des Navigationsturms schillern wie ein riesiges Käferauge. Vielleicht sollte ich dorthin gehen. Vielleicht ist dort wirklich noch jemand. Theodor, der verwegene Bayview-Ranger und der letzte seiner Art, meldet sich zum Dienst. Haben Sie per Zufall Stift und Papier dabei? Ich schreib meine Geschichte auf und steck sie in einer Flasche in den Sand.
Dann höre ich ein Geräusch unter der Stille. Ihren weit entfernten Ruf. Wenn ich auf die salzverkrustete Einöde hinaus laufe, wird er lauter. Ein seufzender Singsang, als besäßen sie echte Stimmen. Das ist ihre Form der Kommunikation. Ich denke, ich weiß jetzt, was meine beste Option ist. Streng genommen ist es meine einzige Option, aber das interessiert mich nicht. Ich bin schon immer sehr neugierig gewesen. Irgendwann werden sich die Poren der neuen Erde öffnen und aufbrechen, was darunter liegt. Milliarden Köpfe werden sich aus dem Sand strecken und mit ihrem Tanz beginnen. Solange folge ich einfach dem leisen Weinen der Würmer.