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Definierte Liebe

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29.05.2006
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Definierte Liebe

Als er sie kennen lernte, war er sprachlos. Verzaubert von ihrem Liebreiz, dem tiefen Blick ihrer Augen, den viel Spaß versprechenden Kurven ihres Körpers. Stumm vor Glück ließ er sich fallen - in die Liebe - so wie es auch die Engländer und Amerikaner tun. Zumindest sprachlich ‚do they fall in love’. Und wenn auch sonst das Englische dem Deutschen in vielem nachsteht, mit dieser Formulierung ist der John dem Johann gegenüber klar im Vorteil. Er kann fallen, sich einem Gefühl anheim geben, ungesteuert und ungebremst. Das ist viel besser, klingt viel spannender und intensiver als einfach nur etwas zu sein - nämlich verliebt.

Aber egal, wie man es ausdrückt, er war es. Sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Immerzu dachte er an sie, wollte nichts anderes, als bei ihr sein, sie betrachten, ihr zuhören, sie berühren, von ihr berührt werden. Was es war, konnte er nicht benennen. Da strömte etwas durch seinen Körper, eine Mixtur irgendwelcher Säuren und Botenstoffe, die sich einer exakten sprachlichen Definition durch immer wieder neue Aggregatszustände entzogen. Ständig versuchte er sich selbst, ihr zu erklären, wie er empfand, was er fühlte. Aber stets empfand er anders, neu, noch intensiver, noch stärker, noch verwirrender.

Aber keiner verlangte auch nach Worten in dieser Zeit. Ihre Körper sprachen eine deutliche Sprache, die keiner Übersetzung bedurfte. Und so ließ er es irgendwann auch sein, nach Wörtern zu suchen und ergab sich der Sprachlosigkeit. Früher oder später würde alles wiederkehren. Und genau so kam es auch. Nachdem sich seine inneren Säfte auf einen verbindlichen Aggregatszustand geeinigt hatten, konnte er endlich anfangen zu definieren. "Du bist...., " fing er zu reden an und sprudelte fortan über vor Beschreibungen, Vergleichen und blumigen Metaphern. Pure Liebessprache brach sich Bahn. Er textete sie zu, raubte ihr mit seinen Worten den Verstand, wischte all das Ungesagte, das sich in den letzten Wochen wie ein Staubfilm auf sie und ihn gelegt hatte, einfach weg.

Endlich wusste er, warum, wieso und weshalb sie ihn so magisch anzog. Er konnte alles haarklein benennen, jedes Detail ihres Körpers beschreiben, das Gefühl, wenn er zu ihr fuhr, sie in seine Arme schloss, sie küsste. Wenn sie nach dem Sex ermattet nebeneinander lagen und an die Decke starrten, berichtete er ihr davon und konstruierte Ranglisten. Mit Claudia war er am längsten zusammen, mit Verena am kürzesten, Andrea hatte die größten Brüste und Manuela den prallsten Arsch. Kirsten war die mit dem größten Allgemeinwissen und mit Carmen hatte er am meisten Spaß gehabt. "Aber Du, meine Liebe, bist von allen die, die ich am meisten liebe."

Sie nahm es wortlos hin. Mit Verwunderung hatte sie seine plötzliche Redseligkeit registriert, staunend all dem zugehört, was sich über sie ergoss und hier und da ihm zu Gefallen auch ein paar Wörter beigesteuert. Doch seinem Drängen, auch ihre Vergangenheit in Listen preis zu geben, entzog sie sich mit Vehemenz. Das war nicht ihre Art, so dachte sie nicht. Dachte sie diesbezüglich überhaupt? Nein, sie empfand.. Und was sie empfand, wusste sie, dafür brauchte sie keine Wörter und erst recht keine Listen. Liebe trotzt jeder Beschreibung.

Irgendwann hörte auch er auf zu erzählen. Er hatte sich satt geredet, matt gedacht und platt beschrieben. Doch all das Gesagte durfte nicht verschwinden. Hart erkämpfte Wortkanonaden und mühsam in Form gesprochener Gefühlsbrei, all das durfte nicht in Vergessenheit geraten. Und so schrieb er alles auf. Wunderschöne Liebesgeschichten flossen aus seiner Feder, ausgefeilte emotionale Analysen und natürlich Listen, unzählige Listen und Vergleiche. All das, was sie nicht mehr hören wollte. Er definierte Variablen für Mann und Frau und stellte sie in Beziehung. Alles bekam einen Sinn, baute aufeinander auf, ließ sich eindeutig herleiten. Liebe kommt nicht einfach so und sie geht auch nicht einfach so, davon war er felsenfest überzeugt. Alles folgt einem Plan und diesen Plan zeichnete er auf, brachte Struktur und Ordnung in das Chaos.

Und schließlich eines Tages, nachdem er bereits hunderte von Seiten voll geschrieben hatte, wusste er plötzlich, was Liebe ist.

Die Liebe saß im Nebenzimmer auf dem Sofa und schaute fern. Als er sich zu ihr setzte, streichelte sie ihm zärtlich über die Wange und sagte: "Na, hast du wieder eine schöne Liebesgeschichte geschrieben?"

"Ja, " antwortete er, "ich glaube diesmal ist es die beste von allen."

 

Hallo Henry,

Du hast mich hiermit in ein echtes Wechselbad geworfen.
Das Wesen der Liebe und ihre Ausprägung bei unterschiedlichen Menschen zu beschreiben gefällt mir als Gesamtbild ausgezeichnet, da in dieser Perspektive von mir zu selten gelesen.

Was mir nicht gefällt ist neben dem Ausflug in die Linguistik im ersten Absatz (die mir inhaltlich und von der Beobachtung auch widerum gefällt, nur nicht in diesem Kontext und nicht im 2. Satz beginnend, das hätte wenn dann später einen Platz) das Ende. Die letzten beiden Absätze sind stilistisch ein Bruch (da Tempuswechsel und erstmalig wörtliche Rede) zu dem Fluss der Vorsätze und auch zum Timbre der restlichen Geschichte.
Mir würde entweder das abrupte Ende nach "(...) was Liebe ist" oder, besser, eine Überarbeitung der Pointe, den Übergang weicher und fliessender gestaltet, mehr zusagen.

Und wenn ich eh schon im Detail bin :

Hart erkämpfte Wortkanonaden und mühsam in Form gesprochener Gefühlsbrei,
Wortkanonaden deutet darauf hin, daß es sich um Geschosse handelt, der ältliche Begriff der Kanonade ist mir nur im Zusammenhang mit Schimpfkanonade bekannt, daher liest es sich wie ein Kommentar zu Deinem Prot, nicht wie eine Selbsteinschätzung des Selbigen. Er selber sieht doch seine Liebeserklärungen als logische Konsequenz seiner Liebe, und nicht als Kriegserklärung.

Insgesamt will ich nicht tauschen mit Deinem Prot, und ich glaube, darin liegt in meinen Augen die Stärke dieser Geschichte, das hast Du erreicht.

Grüße,
C. Seltsem, bekennder Exceladdict

 

Danke Seltsem,

für Deine Anmerkungen. Vielleicht kannst Du ja mal eine Rangliste mit den besten Absätzen dieser Geschichte erstellen. :)

Zu Deiner Kritik: Der Bruch in den letzten beiden Absätzen ist natürlich gewollt. Ich wollte damit zeigen, dass all das Suchen nach Begriffen und Definitionen der Liebe nicht zum Ziel führt, sondern ganz im Gegenteil. Sie führt von der Liebe weg und letztlich zu ihrem Verlust. Ganz nach dem Motto: Man kann Dinge auch kaputt reden. Daher Tempuswechsel und wörtliche Rede.

LG Henry

 

Ein hin und her wie es nicht hätte schöner Formuliert werden. Mir gefällt dieser Text wirklich gut.
Zu beginn hat mich der Wechsel zwischen blumiger Sprache und sachlichem etwas gestört, doch es gliedert sich nahtlos in diese Geschichte ein.
Eine tolle Idee, die Liebe einmal so darzustellen.

 

Ganz ehrlich, ich mag deine Art zu schreiben ungemein.
Auch diese Geschichte, auch wenn sie der mit dem Schweigsamen ein klein wenig ähnlich ist.
Viele Grüße!
Fanny

 

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