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Dein Spiel
Dieses Spiel heißt: Der Verlust von Gliedmaßen.
Es gibt zwei Spielfiguren. Du, lieber Leser, musst dich entscheiden:
Zum einen haben wir da Arno. Arno ist ein kräftiger, großer Bursche, läuft jeden Tag mindestens fünfzehn Kilometer und spielt auch gern Tennis – aber nur im Sommer, Hallen mag er nicht. Überhaupt: Arno ist sehr gerne draußen. Am liebsten in den Bergen. Da klettert er herum wie ein Gamsbock, und im Winter fährt er fast jedes Wochenende Ski. Er war sogar schon wandern in Asien. Aber das ist alles keine Herausforderung mehr. Auf diesen großen Berg auf dem Mars, den Olympus Mons, würde er gern mal, sechsundzwanzig Kilometer hoch, das musste eine Aussicht...
Die andere Figur heißt Hein. Der ist mehr der vergeistigte Typ. Er liest viel und schreibt auch. Der Körper ist für ihn nur ein lästiges Ding. Er hat sich damit abgefunden, dass er immer mal wieder ein paar Dehnübungen machen muss, sonst bekommt er unerträgliche Kopfschmerzen ... Also gut, du hast dich entschieden: Arno ist nun Deine Spielfigur.
Gerade ist er in seiner Wohnung und will sich seine Laufschuhe anziehen. Er bückt sich nach unten – und schwupps! – sind beide Beine weg.
Du willst nicht gemein sein und lässt ihn nach hinten in einen Rollstuhl sacken.
Ungläubig starrt er dorthin, wo eben noch seine Beine waren. Aus seiner kurzen Hose gucken nur noch zwei Stümpfe. Staunend betastet er die Stümpfe. Berührt verwundert den Rollstuhl.
An der Wohnungstür knackt etwas. Jetzt wird es lustig! Seine Freundin Tina kommt zurück. Zwei Wochen war sie mit einer Freundin auf Kreta.
Erstarrt blickt sie Arno an. Ihre Augen zucken hin und her zwischen den Beinstümpfen und seinem Gesicht. Oh Gott, was ist denn passiert?, fragt sie. In ihren Mundwinkeln sammelt sich weißblasiger Speichel. Arno guckt hilflos hin und her. Mit erstickter Stimme fragt sie warum – Warum hast du mich denn nicht angerufen? Er zuckt ratlos mit den Schultern. Sie kniet sich vor ihn hin. Ihr Kopf kippt gegen seine Brust. Lautlos wird sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Seine große Hand streicht über ihren Kopf. Mit einem Mal stockt sie. Mit glasigen Augen sieht sie zu ihm auf.
Ihre Hand fährt die Innenseite seiner Schenkel entlang. Sie will ihm zeigen, dass das mit seinem Körper nichts, überhaupt gar nichts zu tun hat, weil wenn sie es tun, das etwas zwischen ihren Seelen...
Ihre Zunge kreist. Er lässt sich nach vorne aus dem Rollstuhl fallen. Ihre Nägel in seinem Rücken. Kämpft und arbeitet er mit den Armen. Wie Schläuche quellende Adern. Sie stöhnt ihm ins Ohr. Die zuckenden Stümpfe.
Als sie keuchend auf dem Parkett liegen, stellst du in Tinas Kopf diese einzige Frage: Was ist das eigentlich, was sie für ihn da empfindet? Sie fängt an zu grübeln: Was stellt sie sich gerade jetzt solche Fragen? – Der Gedanke ist zu naheliegend, dass das etwas mit dem Verlust seiner Beinen zu tun hat. Sie hasst sich für diesen Gedanken.
Ein paar Tage später sitzt Tina schluchzend im bleichen Küchenlicht. Es tut mir so Leid, es tut mir so Leid, sagt sie ununterbrochen.
Die Tür fällt ins Schloss.
Seit mehreren Tagen ist Arno nun schon allein. Das Essen wird knapp.
Am Tage seiner letzten Sauerkrautkonserve lässt du von den Wänden eine tiefe Stimme zu ihm sprechen, die sagt:
„Das ist alles nur eine Geschichte: Es ist nie wirklich passiert.“ Arno schaut unter den Küchentisch, ob die Stimme womöglich von dort kommt.
„Arno!, du kannst deine Beine wiederfinden – in einer Geschichte ...“ sagt die Stimme. Arno horcht einen Moment, ob da noch etwas kommt. Es kommt nichts mehr. So schnell wie er kann rollt er mit dem Rollstuhl über den Flur an das Bücherregal.
Geschichte, Geschichte – ja, welche denn? Seine Finger zappeln über die Buchrücken. Die sind doch alle von Tina. Er greift eins heraus.
Ein Buch von einem Mann, der nur mit einer Flinte durch die Welt zog. Zwischen den Reisebeschreibungen sind alte Schwarzweißfotografien: Der Jäger in Siegerpose vor Haufen toter Tiere. Es wird beschrieben, wie er einmal in Indien auf Krokodiljagd war; wie er massenweise Krokodile beschoss, aber selbst die bestens getroffenen noch in ihren letzten Spasmen ins Wasser entkamen. Mit mannhafter Härte gedachte er der ungezählten Krokodile, die flussabwärts tot im Wasser trieben ...
Am Abend ist Arno mit dem Buch fertig. Seine Beine hat er darin nicht gefunden. Er nimmt das nächste. Etwas von einem sogenannten Goethe. „...Veredelung und Hilfsreichtum – Oh gottgleich guter Mensch.“ – Wieder kein Treffer.
Nach dem dritten Buch kommt Arno auf den Gedanken, dass das Buch, wo seine Beine drin sind, vielleicht gar nicht in diesem Bücherregal steht, dass es irgendwo draußen, in einem anderen Regal oder hinter einem Reissack in Peking... Er sieht sich mit seinem Rollstuhl die Treppen hinabpoltern, rund um die Erdkugel, durch Wüsten und Dschungel und Gebirge aus verwesten Krokodilen. Er greift das nächste Buch, liest. Das nächste. Er wird immer unruhiger: So viele Bücher, so unendlich viele. Er will doch nur seine Beine wiederhaben – und Tina.
Arno hat Glück. Schon zwei Tage später hat er es gefunden. Es ist eigentlich kein Buch. Eine sogenannte Literaturzeitschrift. Er liest die erste Geschichte; Fehlanzeige. Die Zweite: Ebenso. Die Dritte ... Dein Spiel, geschrieben von einem gewissen Wölk Kaus (der gute Freund Hein, wie immer unter einem Pseudonym). Arno fängt an zu lesen: „Das hier, lieber Leser, ist eigentlich kein Text. Es ist vielmehr ein Spiel. Dieses Spiel heißt: Der Verlust von Gliedmaßen.
Es gibt zwei Spielfiguren. Du musst dich entscheiden:
Zum einen haben wir da ...“ Das ist die Geschichte!, denkt sich Arno. Aufgebracht liest er weiter.
Du willst ihn überraschen?
/ \.
Verpack sie doch ein bisschen, dann wird die Überraschung noch schöner.
(/ \).
Ja, so, richtig hübsch sieht das aus.
Achtung! Gleich kommt Arno; gerade ist er bei „... wie immer unter einem Pseudonym). Arno fängt an zu lesen: „Das hier, mein lieber Leser ...““ – Seltsam, wundert sich Arno, da steht ja noch mal dasselbe wie oben, doch er liest weiter und da sieht er die Überraschung. Meine Beine! Mit zitternden Händen greift er danach. Seine Hände stoßen gegen Papier. Da wird es plötzlich ganz finster. Das Licht muss ausgegangen sein, denkt Arno, und will zum Lichtschalter rollen; da fällt ihm ein, dass es eben noch heller Tag war. Er reibt sich die Augen. Macht sie auf. Macht sie zu. Alles bleibt schwarz.
Du hast Arno erblinden lassen (gemeiner Hund!).
„Cessante causa cessat effectus" , lässt du die tiefe Stimme aus allen Richtungen sagen. Hä?, fragt Arno, hä, was? Er hat natürlich nichts verstanden.
Er befühlt die Literaturzeitung. Irgendwie muss er weiterlesen – seine Beine – und Tina. Vor allem Tina!
Das Telefon klingelt. Arno legt die Zeitung in den Schoß. Startet den Rollstuhl, stößt gegen etwas: Der Kleiderständer; rangiert. Kommt in die Küche. Das Telefon klingt ganz nah. Er betastet die Kochplatten – nichts. Mit beiden Armen zieht er sich am Herd hoch. Irgendwo da muss es sein. – Ein Ruck, der Rollstuhl kippt nach hinten, für einen Moment hält sich Arno am Herd; dann fällt er zu Boden.
Er tappt um sich. Wo ist der verdammte Rollstuhl? Der kann sich doch nicht ... (Du hast ihm den Rollstuhl wieder weggenommen, der war nur geliehen).
Wie ein halber Mensch liegt Arno auf dem Küchenboden und heult. Zwischenrein stottert er: Tina, meine Tina. – Seine Arme würde er hergeben, seinen Kopf, alles, wenn er nur sie wiederhätte.
Wieder klingelt das Telefon (es liegt hinter dem Herd zwischen halbversteinerten Sauerkrautresten, genau dort, wo du es hingelegt hast). Arno rührt sich nicht.
„He Arno!“ lässt du die Stimme von der Decke her sagen. „navigare necesse est!“
Hau ab!, faucht Arno Richtung Decke.
„Huhu“, lässt du die Stimme vom Boden her rufen. Er bäumt sich auf, schlägt mit beiden Händen auf das Laminat, in seinem Kopf fängt sich alles an zu drehen...
Es wird langweilig! Mehr und mehr verlierst du das Interesse an Arnos Leben. –
Hein schreibt: Aber es geht doch noch viel schlimmer. Quäl ihn mehr! Lass Spinnen aus dem Boden krabbeln! – Gelangweilt schüttelst du den Kopf. – Alligatoren aus den Wänden! – Du winkst ab: Arno, Hein, die Wohnung, alles löst sich auf in Nichts.
Du allein bleibst zurück.