- Beitritt
- 26.10.2001
- Beiträge
- 1.572
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Deine Seele auf meiner Zunge
Deine Seele auf meiner Zunge
Ich vermag mich nicht mehr genau zu erinnern, wann ich ihn das erste mal traf.
Es war irgendwo auf der Straße. Auf einer Straße im irgendwo.
Vielleicht auch ein U-Bahnschacht, eine zugige Treppe inmitten einer großen Stadt.
Aber ich erinnere mich noch genau an den wunderbaren Klang seiner Stimme.
Sie schien überall zugleich zu sein.
Sie schien aus den stummen Steinen rings um ihn emporzuwachsen bis sie das Grau der Welt auszufüllen begann, meine Seele in Besitz nahm und mein Herz vor Verlangen nach Glück schier bersten ließ.
Manchmal war er nur ein unscheinbares Männlein, vom Leben gebeugt, tiefe Furchen ins Gesicht gegraben manchmal ein junger Bursche mit uralten Augen.
Aber in jeder Gestalt erkannte ich ihn wieder.
Dieser nach innen gewandte Blick, gleichzeitig auf die Unendlichkeit des Menschlichen Seins gerichtet, ließ sein Herz, seine Seele zu mir sprechen, wenn er sang.
„Nein, glücklich kann man nicht sein, wenn man alle Dinge sieht,“ sagte er zu mir an jenem Abend, “aber glücklich kann derjenige sein, der daraus ein Geschenk für all die anderen, all diejenigen, die noch nicht gelernt haben mit dem Herzen zu sehen, machen kann auf dass auch sie dieses Glückes teilhaftig werden.“
Lange hallte dieser Satz wider in meinem Kopf.
Immer, wenn ich verzweifelt war, versuchte ich zu singen, und diese Gabe zu teilen, und selbst durch Schmerz noch Freude zu schenken... süßen Schmerz wie Balsam in verwundete, vernarbte, fast schon erkaltete Herzen zu träufeln, auf dass sie wieder zum Leben erwachen vermochten... und sei es nur für ein paar Augenblicke der Erinnerung... des Erwachens
Er gab mir alles was ich bin und zu sein versuche.
Heute singe ich für ihn mit, denn seine Stimme ist verstummt.
Wir teilten und teilen den gleichen Traum, obwohl er wusste, wie auch ich heute weiß, dass für uns dieser Traum niemals erfüllt werden wird.
Glück und Liebe. Geborgenheit und Treue.
Die Sehnsucht saugt meiner kalten Umgebung all die von vorüberhastenden Menschen abgestrahlten Empfindungen aus den klammen Gebeinen, fließt hinein in meine Seele, vereint sich mit dem Sehnen der unzähligen hilflosen, sprachlosen Menschen, gleichsam, als würden sie mir alle in jenen Momenten ihre verstummten Stimmen leihen.
Momente gleißenden und doch so warmen Lichts, selbst in tiefster Dunkelheit.
Ich jubele, schmeichle, streichle, schluchze, und ihre Herzen empfinden mit mir... in jenen Momenten, bevor das Licht in mir erlöscht, wie der Scheinwerfer nach dem Auftritt und die rasende Stille erneut von mir Besitz ergreift, wie auch von ihnen.
Und doch, würde ich nicht singen, könnten wir alle nicht für ein paar Stunden angstlos den gleichen Traum teilen.
„Ich singe, weil ich ein Lied Hab,“ hat einmal ein mir bekannter Mensch gesungen, ja, und auch, weil wir Sänger ein Herz haben um damit zu fühlen, zu suchen, zu sehen und zu sprechen.
Ein Herz, es euch zu Füßen zu legen, damit ihr darauf herumtrampeln könnt, wenn euch die Musik nicht mehr gefällt, weil ihr euch einer anderen Musik verschrieben habt.
Wir sind die Stellvertreter eurer Träume und Sehnsüchte.
Wir sprechen mit euren verstummten Stimmen.
Deshalb sind wir immer noch da und werden immer um euch sein.
Ich sehe sein liebes, weises, altes Gesicht vor mir und höre ihn, wie er mir etwas zuflüstert... es klingt wie:
„Ich bin Deine Seele auf meiner Zunge.“
„... und nun singe für mich, Knabe.“