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Deine Seele auf meiner Zunge

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26.10.2001
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Deine Seele auf meiner Zunge

Deine Seele auf meiner Zunge

Ich vermag mich nicht mehr genau zu erinnern, wann ich ihn das erste mal traf.
Es war irgendwo auf der Straße. Auf einer Straße im irgendwo.
Vielleicht auch ein U-Bahnschacht, eine zugige Treppe inmitten einer großen Stadt.
Aber ich erinnere mich noch genau an den wunderbaren Klang seiner Stimme.
Sie schien überall zugleich zu sein.
Sie schien aus den stummen Steinen rings um ihn emporzuwachsen bis sie das Grau der Welt auszufüllen begann, meine Seele in Besitz nahm und mein Herz vor Verlangen nach Glück schier bersten ließ.
Manchmal war er nur ein unscheinbares Männlein, vom Leben gebeugt, tiefe Furchen ins Gesicht gegraben manchmal ein junger Bursche mit uralten Augen.
Aber in jeder Gestalt erkannte ich ihn wieder.
Dieser nach innen gewandte Blick, gleichzeitig auf die Unendlichkeit des Menschlichen Seins gerichtet, ließ sein Herz, seine Seele zu mir sprechen, wenn er sang.
„Nein, glücklich kann man nicht sein, wenn man alle Dinge sieht,“ sagte er zu mir an jenem Abend, “aber glücklich kann derjenige sein, der daraus ein Geschenk für all die anderen, all diejenigen, die noch nicht gelernt haben mit dem Herzen zu sehen, machen kann auf dass auch sie dieses Glückes teilhaftig werden.“
Lange hallte dieser Satz wider in meinem Kopf.
Immer, wenn ich verzweifelt war, versuchte ich zu singen, und diese Gabe zu teilen, und selbst durch Schmerz noch Freude zu schenken... süßen Schmerz wie Balsam in verwundete, vernarbte, fast schon erkaltete Herzen zu träufeln, auf dass sie wieder zum Leben erwachen vermochten... und sei es nur für ein paar Augenblicke der Erinnerung... des Erwachens
Er gab mir alles was ich bin und zu sein versuche.
Heute singe ich für ihn mit, denn seine Stimme ist verstummt.
Wir teilten und teilen den gleichen Traum, obwohl er wusste, wie auch ich heute weiß, dass für uns dieser Traum niemals erfüllt werden wird.
Glück und Liebe. Geborgenheit und Treue.
Die Sehnsucht saugt meiner kalten Umgebung all die von vorüberhastenden Menschen abgestrahlten Empfindungen aus den klammen Gebeinen, fließt hinein in meine Seele, vereint sich mit dem Sehnen der unzähligen hilflosen, sprachlosen Menschen, gleichsam, als würden sie mir alle in jenen Momenten ihre verstummten Stimmen leihen.
Momente gleißenden und doch so warmen Lichts, selbst in tiefster Dunkelheit.
Ich jubele, schmeichle, streichle, schluchze, und ihre Herzen empfinden mit mir... in jenen Momenten, bevor das Licht in mir erlöscht, wie der Scheinwerfer nach dem Auftritt und die rasende Stille erneut von mir Besitz ergreift, wie auch von ihnen.
Und doch, würde ich nicht singen, könnten wir alle nicht für ein paar Stunden angstlos den gleichen Traum teilen.
„Ich singe, weil ich ein Lied Hab,“ hat einmal ein mir bekannter Mensch gesungen, ja, und auch, weil wir Sänger ein Herz haben um damit zu fühlen, zu suchen, zu sehen und zu sprechen.
Ein Herz, es euch zu Füßen zu legen, damit ihr darauf herumtrampeln könnt, wenn euch die Musik nicht mehr gefällt, weil ihr euch einer anderen Musik verschrieben habt.
Wir sind die Stellvertreter eurer Träume und Sehnsüchte.
Wir sprechen mit euren verstummten Stimmen.
Deshalb sind wir immer noch da und werden immer um euch sein.

Ich sehe sein liebes, weises, altes Gesicht vor mir und höre ihn, wie er mir etwas zuflüstert... es klingt wie:
„Ich bin Deine Seele auf meiner Zunge.“
„... und nun singe für mich, Knabe.“

 

Servus Lord!

Die Sprachlosen, die Verstummten welche sich an die Lippen des Darbietenden hängen. Sie erleben wie ein anderer Mensch, stellvertretend für ihre eigene Ausdruckslosigkeit, ihre Sehnsüchte, ihre Träume und Phantasien nach außen bringt, erkennbar macht, ein stilles Echo in ihnen findet. Das hast du gefühlvoll dargestellt.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Hallo Arvid, Brüderchen,

ich finde die Idee, über Sänger zu schreiben sehr gut. Sicherlich ist es schon vielen von uns so ergangen, dass einen ein bestimmter Gesang besonders tief berührt hat, ohne dass man hätte sagen können, was genau die Ursache war. Dieser Ursache gehst du mit deinem Text auf den Grund. Es sind immer diese Momente, in denen ich eine Gänsehaut beim Zuhören bekommt , die du da beschreibst. Der Plot ist also gut.

Was mir nicht gut gefällt, ist, dass du zu dick aufträgst. Deine Spezialität, Arvid, war bislang, dass du die Gratwanderung zwischen Kitsch und Realität gewagt und geschafft hast, in diesem Text, dem es zudem ein wenig an Handlung fehlt, gerätst du für meine Begriffe zu sehr in die Abteilung triefende Romantik. Das nimmt dem Text leider seine Tiefe, was ich ehrlich schade finde.

Lieben Gruß
Schwesterchen

 

Hi Eule, Hi schwesterchen.
es IST so, wenn man für andere singt...manches mag wie Kitsch klingen... vielleicht ist es kitschig.
Du blutest Dich aus für die menschen, wenn du singst.
Dir bleiben nur Sekunden, danach kommt das loch, welches vonniemanden ausser Dir selbst aufzufüllen ist.
Es IST so... leider ?

Lord

 

Hi Lord,

In der mitte war ich schon geneigt, einfach zu überfliegen. Hier täte meiner Meinung nach Kürzung gut. Oder du bringst etwas Handlung rein. Das Ende hat mir dann sehr gut gefallen.

z.B:„Ich singe, weil ich ein Lied Hab,“ hat einmal ein mir bekannter Mensch gesungen, ja, und auch, weil wir Sänger ein Herz haben um damit zu fühlen, zu suchen, zu sehen und zu sprechen.
Hier reißt du einen anderen Menschen rein, der nicht reinpaßt und mich für einen Moment irritiert hat.
Für mich neigst du zu Wiederholungen. Zu viele Eigenschaften auf einmal, wo beim Herzen doch das fühlen und suchen genügen sollte.

Auch ein schönes Beispiel ist: Es war irgendwo auf der Straße. Auf einer Straße im irgendwo.

Grüße
Bernhard

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Bernhard.
Zuerst danke fürs Lesen und für deinen Kommentar.
Einen anderen Menschen mit hineinziehen in meine Geschichte?, du meinst K. Wecker? Nun, es hat vor Jahren ein Gespräch darüber zwischen uns stattgefunden, darüber, was uns treibt, zu singen, deshalb konnte ich ihn nicht herauslassen. Erinnerst Du dich an den "kleinen Prinz" von St.Exupery? Da sagt der Fuchs, "Man sieht nur mit dem Herzen gut", das ist etwas, was ich in meinem leben stets zu tun versuchte und versuche, dashalb steht auch dieses darin.

Ich werde mir den Text dennoch bei Gelegenheit nochmal vorknöpfen.
Danke einstweilen.
Lord

 

Hi Lord,
Vuielleicht kannst du es ja umformulieren. Mir geht es da eh mehr um die Formulierung.
Ich habe mir das ganze nochmal genau durchgelesen. Und wenn du " ein mir bekannter Mensch" durch eine allgemeine Formulierung ersetzt, dann ist es für mich viel stimmiger, weil ein mir bekannter, irgendwie da gar nicht wichtig ist.

Das mit dem Fuchs ist übrigens eine meiner Lieblingsstellen.

Grüße
Bernhard

 

Der Text ist einfach super!
Deine Wortwahl hat mich schon nach den ersten paar Sätzen gefesselt, einfach genial!
Mehr fällt mir nicht ein.

 

Schau, schau, noch ein Lord ???
@ L. Murphy
Schön dass es Dir gefallen hat...
@ bernhard

ich danke Dir für den Vorschlag...werde mich dranmachen, sobald ich Zeit habe.
gruss: Lord(Der erste & einzige)

 

Hallo Lord,

der Sänger als Spiegel des Seelengutes der Zuhörer. Gute Idee, gut umgesetzt. Ich wüßte nicht, wo du den Text kürzen solltest oder wo sich triefende Romantik findet. Für meinen Geschmack ist er okay, wie er da steht. Habe allerdings am Schluß gestutzt:

„Ich bin Deine Seele auf meiner Zunge.“
Das müßte m.E. der Protagonist dem Zuhörer sagen. Du legst diese Worte jedoch dem alten Mann in den Mund und machst deinen Protagonisten zum Zuhörer der Aussage.
Wie auch immer, ein interessanter Aspekt ansprechend formuliert.

Gruß vom querkopp

 

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