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Postmoderne Gedanken zu Gedanken und Demenz.
Demenz-Wahnsinn
Das grelle Licht im Flur der Station 13b leuchtet beständig und mit voller Überzeugung, als wolle es den Patienten vermitteln "Ich bin da. Ich denke an euch. Ich leuchte euch den Weg". Unangenehm. Meine Oma war schon oft in diesem Haus gewesen. Sie kennt sich aus. Vor vielen Jahrzehnten, als die Gedanken noch frei und uneingezäunt waren, so dachte ich, begann ihr Leben in einem Flur mit grellem Licht der Station 26a. Sie wurde geboren. Auch ihr eigenes Kind brachte sie hier zur Welt. Heute, im Februar 2020, befindet sie sich wieder an diesem Ort, den sie inn- und auswendig zu kennen scheint - und entdeckt ihn neu. Meine Oma geht auf Entdeckungsreise. Nicht zu Fuß, da wäre sie zu langsam, und auch nicht im Rollstuhl, das würde ihr nicht gefallen, nein – im Kopf. Meine Oma geht mehrmals die Stunde auf Entdeckungsreise. Mit 93 Jahren hat sie bereits viel erlebt und durchdacht. Gedanken waren frei. Gedanken entwickelten sich. Gedanken wurden systematisch und brutal unterdrückt. Gedanken waren frei. Gedanken wurden unterbewusst gelenkt. Gedanken waren frei. Waren die Gedanken frei? Nazis versuchten die Gedanken zu kontrollieren, zu erfassen und zu manipulieren. Kapitalismus perfektioniert dies auf eine unterschwellige Art und Weise. Meine Oma wurde älter. Sie wurde alt. Ihre Gedanken reiften.
Erst waren die Erinnerungen stark und die Gedanken frei – Jetzt sind die Erinnerungen schwach und die Gedanken noch viel freier. Meine Oma geht auf Entdeckungsreise. Meine Gedanken sind frei, bin ich mir sicher. Ich denke an vieles: Beruf, Freundin, Beruf, Familie, Beruf, Oma, Beruf. Meine Gedanken steuere nur ich allein und laufe wie ferngesteuert über den grellen Flur der Station 13b, auf dem mir die meisten Menschen fremdgesteuert erscheinen, als ich auf das Zimmer meiner Oma zusteuere. Ihre Gedanken sind nicht frei, glaube ich zu wissen. Kontrollieren wir unsere Gedanken, oder unsere Gedanken uns?
Ich erblicke die große blassgrüne Tür, die sagt: hinter mir befinden sich Menschen, die krank sind, Menschen, die Wünsche, Hoffnungen, Träume und Erkrankungen haben. Ich halte kurz inne. Umfasse den Türgriff mit Druck und trete nach einigen Sekunden, die wie eine Ewigkeit anmuteten, ein. Worauf habe ich gewartet?
Nicht in einer Welt. In unserem Universum soll es unendlich viele Planeten geben, aber von einem weiß man sicher, dass dieser Leben beherbergt. Meine Oma und ich leben nicht in derselben Welt. Sie generiert sich ihre eigene.
"Hallo Oma, wie geht’s dir? Hast du alles gut überstanden?".
Die üblichen Phrasen, um das erfahrene Übel einschätzen zu können. Wichtig. Bin ich einer emotionalen Gefahr ausgesetzt? Wird sich der gesundheitliche Zustand meiner Oma verschlechtern? Egoismus. Meine Oma schaut übellaunig.
"Mir ist übel vom Pudding", sagt sie.
Notarzt. Strapazen. Schmerzen. Krankenwagen. Narkose. Operation. Ärzte. Tabletten. Schmerzen. Meiner Oma schmeckt der Pudding nicht.
Meine Oma fragt, ob ich mit dem Auto gekommen sei.
Meine Oma fragt, ob ich mit dem Auto gekommen sei.
Meine Oma fragt, ob ich mit dem Auto gekommen sei.
Ich schaue mich im Zimmer um – in ihrer kleinen Welt, so denke ich naiv. Das Wort Demenz kommt aus dem lateinischen und bedeutet Wahnsinn. Im Moment befürchte ich, dass mich der Wahnsinn ereilt, wenn ich noch länger dieselben Fragen in Dauerschleife hören muss. Meine Oma geht auf Entdeckungsreise und ich aus dem Zimmer. Das grelle Flurlicht der Station 13b heißt mich willkommen und brennt mir mit Überzeugung in den Augen. Es fragt mich, warum ich mich aus dem Zimmer geschlichen habe. Es stellt unangenehme Fragen. Scheint mir wie mit Röntgenstrahlen in mein Innerstes zu sehen. Das Flurlicht leuchtet grell.
Drei Krankpflegerinnen huschen schemenhaft in ungerichtet erscheinenden Laufwegen über den Flur. Das Flurlicht scheint ihnen zu zeigen, wo sie hinlaufen müssen, sagt ihnen, was zu tun sei. Es gibt Pudding zum Abendessen.
Einige Patienten schlendern ebenfalls über den Flur. Sie lassen sich nicht von der Aufdringlichkeit des Flurlichts ihre Selbstbestimmtheit wegbrennen. Sie gehen auf Entdeckungsreise. Das Versorgen und Therapieren von Wahnsinnigen erscheint mir wie Wahnsinn. Die Patienten schlendern. Ihre Gedanken sind frei.
Ich gehe zurück in das Zimmer meiner Oma, als mir eine übellaunige Krankenpflegerin entgegenkommt. Ansteckungsgefahr.
Die Bettnachbarin meiner Oma sagt "Ich habe Angst".
Ich versuche sie zu beruhigen und frage, ob ich eine Pflegekraft rufen solle. Die Zeichen auf ihrer Haut, ihr verständnisvoller Blick und weißen gepflegten Haare, verraten nicht annähernd, was dieser Mensch erleben durfte, musste, und wollte und was ihm versagt blieb. Ist es nicht Wahnsinn, wenn wir ihr das Erleben des hier und jetzt versagen, weil sie nach all der Zeit wahnsinnig geworden ist? Ich versuche sie zu beruhigen.
"Die hat wieder Angst, oder?" murmelt meine Oma, "Alles ist gut!", ruft sie gedankenlos.
Die Bettnachbarin meiner Oma hat Angst.
Die Welt meiner Oma endet hinter der großen blassgrünen Tür. Ich war schon in Kanada, USA, Italien und Frankreich. Nach einigen Minuten betritt eine Krankenpflegerin unsere Welt. Sie verabreicht der ängstlichen Frau zärtlich, aber bestimmt, Medikamente, die sie aus ihrer eigenen Welt holen sollen. Man sollte starke Schmerzmittel Reisetabletten nennen und Reisetabletten einfach nur Mittel gegen Übelkeit. Meine Oma geht auf Entdeckungsreise. Und ich komme mit ihr. Ich erzähle meiner Oma von München. Sie war schon mal in München und München wird zu ihrer Welt. Sie fragt nach meiner Freundin und meine Freundin wird zu unserer Welt. Die Welt meiner Oma endet hinter der großen blassgrünen Tür. Sie liegt in ihrem Kinderzimmer, das Spielzeug durch medizinische Geräte ersetzt, der Pudding nicht selbstgemacht, aber ein warmes Bett.
"In wenigen Minuten kommt mein Bus, Oma" sage ich als ich mir langsam meine Jacke wie einen Raumanzug überstreife – gleich werde ich mich zu einer Weltreise aufmachen. Zu ihrer Weltreise aufmachen. Meine Oma freut sich über meinen Besuch als hätte sie jeweils einen Nobelpreis für Medizin, Chemie und Physik gewonnen. Als ich die große blassgrüne Tür öffne, empfängt mich das grelle Flurlicht mit musterndem Blick. Ich verlasse die Welt meiner Oma und höre sie nur noch schlecht mir hinterherrufen
"hoffentlich gibt es bald Abendessen. Ich habe Lust auf einen Pudding!".
Meiner Oma ist übel vom Pudding. Ihre Gedanken sind frei.
Ich fahre mir durch die Haare und mit dem Zug Richtung Heimat. Aus dem Fenster blickend. Beruf, Oma, Beruf, Familie, Beruf. Meine Gedanken sind nicht frei. Ich räume meine Tasche und mir meine Schuld ein. Meine Schuld gegenüber meinen Gedanken. Sie so zu lenken und von außen lenken zu lassen. In der Fachsprache nennt man das intrinsisch/extrinsisch. Menschsein liegt wohl irgendwo dazwischen. Die Fahrt kostet 46,30 Euro und einige Nerven. Nach einem Zwischenhalt in Stuttgart kommt der Zug und meine Gedanken ins Rollen.
Demenz-Patienten sind die wahren Entdecker. Ihre Gedanken sind frei. Alle anderen, vermeintlich geistig gesunden Menschen, sind wahnsinnige. Unsere Gedanken sind unfrei. Das Wort Demenz kommt aus dem lateinischen und bedeutet Freiheit. Die schemenhaften Gestalten, die sich im nebulösen Raum vermeintlich bewegen, werden als Irrläufer entlarvt. Wir sind Irrläufer. Wir verirren uns in Wunschvorstellungen, verwirren uns und andere und denken wir seien nicht zu beirren. Klar gedachte Gedanken entpuppen sich als Rauch und der brennt in unseren Augen. Demente Menschen entfachen immer wieder neues Feuer. Immer wieder neues Feuer. Wir weinen nur dem Rauch hinterher, können das Feuer nicht sehen.
Sie sind dement – Sie sind Entdeckende.
Zuhause kaufe ich mir einen Pudding.
Meiner Oma wird übel von meinem Pudding.
Zuhause beginne ich mit der Urlaubsplanung. Italien. Spanien.
Zwei Reisen sollen es werden.
Meine Oma geht ein allerletztes Mal auf Entdeckungsreise.
Ihr Feuer brennt nicht mehr.
Das grelle Flurlicht erlischt.
Mir wird übel von unserem Pudding.