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Den Wald vor Bäumen nicht
Ich habe meinen Schlüssel verloren, ausgerechnet heute. Um sechs Uhr bin ich los gelaufen, durch den Wald, um den Kopf frei zu bekommen nach einer schlaflosen Nacht. Am Ende der Straße biege ich ein in den vertrauten Wald, Lieblingsplatz und Zufluchtsort meiner Kindheit und Jugend. Nach dem gestrigen erlösenden Regen ist der Boden noch nass. Jeder Schritt federt weich. Wie von alleine laufen meine Füße mit lange nicht gefühlter Leichtigkeit. Die Luft ist klar und fett zugleich. Es riecht nach feuchtem, moorigem Boden, nach Moos, nach Kiefernadeln, nach nassem Laub. Mischwald mit Birken und Fichten. „Beide sind Flachwurzler, dadurch sind sie nicht so gut im Boden verankert, ein Sturm kann sie leichter aus der Erde reißen“, ich höre Opas Stimme, wie immer an genau dieser Weggabelung. Wie oft hat er das erzählt, was haben wir gelacht als diese Flachwurzler längst zum Ritual geworden waren, der zweite Teil des Satzes im kichernd glucksenden Chor fast unterging. Selbst heute huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Einatmen, ausatmen, nicht denken, das dumpfe, schmatzende Geräusch der Turnschuhe bei jedem Schritt. Ein Sonnenstrahl findet den Weg zwischen den Baumkronen hindurch, lässt den Moos bewachsenen Hügel in intensivem Grün aufleuchten. Er lädt ein zum Berühren, sanft darüber zu Streichen über seine samtene Decke. Ein Bett für Waldgeister, weiches Ruhepolster für das eben noch käckernde, springende Eichhorn mit seinem prächtigen rotbraunen Schwanz, lebendiger Teppich ausgerollt wie eine Einladung zur Rast. In der Ferne höre ich einen Kuckuck rufen, den alten Schmarotzer. Ein Buntspecht gibt den Rhythmus vor auf dem hohlen Ast der alten Eiche. Der einst so prächtige, uralte Baum sieht müde aus. Die trockenen, heißen Sommer der letzten Jahre haben ihm mehr zugesetzt als die hunderte Jahre zuvor. Die Eiche hat ihren Nachbarbaum verloren. Nachdem der Sturm vergangenen Herbst einen mächtigen Ast auf den Weg herunter gebrochen hatte, kamen die Sägen. Ich habe gelesen, dass auch Bäume Schmerz empfinden können. Stumme Schreie im Wald, ungehört verhallt.
Ich habe meinen Opa verloren. Erst kam der Studienplatz weit weg. Dann kam Thomas, der mir die Sterne erklärte und später versprach sie mir vom Himmel zu holen. Dann kam das große Vergessen, das Opa so rasend schnell verblassen ließ, hat mich überholt ehe ich den Gegner überhaupt erkannte. Dann kam das Virus, bremste meinen Endspurt aus, sechshundertachzig unüberwindbare Kilometer. Ich war nicht da als er für immer ging.
In meiner Schatztruhe ist unser Waldtagebuch. Ich gehe mit Opa durch den Wald spazieren, jeden Samstag, bei jedem Wetter. Er hat einen grauen, ausgeblichenen Rucksack dabei, ich einen Stift, einen Notizblock und mein kleines grünes Buch. Auf der Vorderseite prangt ein Laubbaum, vielleicht die alte Eiche, daneben eine dunkelgrüne Tanne. Die Farben sind schon ein wenig verwischt, die Baumkonturen fließen ineinander. Da kannst du vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sehen, passt doch, lachende blaue Augen hinter der Brille im faltigen, geliebten Gesicht. Opa kennt den Wald besser als jeder andere. Er erklärt mir Bäume und Tiere und kennt unzählige Geschichten. Vieles findet den Weg ins grüne Buch. Wir sitzen auf einer krummen Holzbank auf unsrer Lieblingslichtung. Opa packt Brote aus, eins mit Löcherkäse für jeden, danach einen Apfel und zur Krönung ein riesiges Stück Marmorkuchen, Omas Spezialität. Opas Taschenmesser ist immer dabei. Er schneidet den Apfel in zwei Hälften. Ich darf den Kuchen teilen. Stolz zeige ich Opa die Bilder, die ich seit dem letzten Spaziergang ins Waldbuch gemalt habe. Nur jetzt keinen Fleck auf die Seiten machen. Opa bewundert sie gebührend, auch den herrlich buschigen rotbraunen Schwanz des Eichhörnchens mit dem viel zu großen Kopf. Das Eichenblatt habe ich abgepaust, die Eicheln aus dem Naturkundebuch abgemalt. Vom Eichenprozessionsspinner war damals nie die Rede, vielleicht sollte ich ein Nachtragsblatt malen und einlegen. Zum Kuchen trinkt Opa einen Kaffee aus der kleinen verbeulten grauen Thermoskanne. Für mich hat er Zitronensprudel, herrlich süß und krabbelig, Krabbelwasser. Mit dem Krabbelwasser öffnet sich die Tür zu einem anderen Waldleben. Aus der dicken verknoteten Wurzel steigt ein kleiner Elf, Opa sieht ihn immer zuerst. Er kennt ihn mit Namen. „Waldbart... Maria...“, stellt er uns vor. Waldbart trägt eine grüne Hose. Wären da nicht die blauen Punkte, ich könnte ihn im Moos nicht erkennen. Das rot-gelbe Mäntelchen glitzert hell durch den runden goldenen Knopf auf der Brust. Ich kann ihn leider nie so klar sehen wie Opa, vielleicht weil wir uns noch nicht so lange kennen. Ich bin erst sechseinhalb, Opa ist achtundsiebzig. Waldbart ist unvorstellbare einhundertsiebenundzwanzig Jahre alt. Ich habe extra gelernt so weit zu zählen, in der Schule geht bisher alles nur bis hundert. Auf Opas Bitte führt Waldbart uns zu einer Brombeerhecke, prall voll mit herrlich süß schmeckenden saftigen Früchten. Opa sagt, wir müssen ganz vorsichtig sein beim Pflücken. Waldbarts Mütze gleicht einer Brombeere und verliert er sie, wird er sofort unsichtbar. Also essen wir langsam und bedächtig. Eine ganze Doppelseite ist für Waldbart reserviert.
Der heimische Wald – meine Sternstunde der Grundschulzeit, Ende der dritten Klasse, das einzige Referat, auf das ich mich freute und nicht meinte, vor Aufregung sterben zu müssen. Es sprudelte aus mir heraus, alles über die unterschiedlichen Bäume in unserem Wald, über die Tiere, über die verschiedenen Moosarten, ohne auch nur einmal auf meine Zettel zu schauen. Das mit den Zetteln hat Frau Schubert extra noch mal lobend betont. Dabei habe ich viele Seiten voll geschrieben, ich bin gerne gut vorbereitet. Doch heute fühlt es sich an als erzählte ich von zuhause. Das Waldtagebuch als Talisman in meiner Schulmappe. Natürlich war es gut, die Geschichte mit Waldbart wegzulassen. Beim Probedurchlauf meinte Bettina nur, „du spinnst“. Bettina ist die Klassenbeste und ich selbst bin mir auch längst nicht mehr so sicher in meinen Erinnerungen an Waldbart. Als ich Opa danach fragte, hat er gelacht, „wir haben ihn damals zusammen gesehen, oder nicht?“. Eine eins im Referat, eine eins im Mündlichen zum Lernabschnitt „Unser Wald“ - unglaublich, ich, die kleine schüchterne pummelige Maria!
Ich bin nicht mehr pummelig. Ich laufe viel. Das kann ich ganz in meinem Tempo. Da bin ich einfach ich, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug. Meine Gedanken laufen dann auch. Sie laufen, wohin sie gerade wollen. Am Ende der Runde treffen wir uns zufrieden wieder.
Ich habe meinen Schlüssel verloren. Ich muss ihn wiederfinden. Die Haustür starrt mich ungnädig abweisend an. Meinem Klingeln antwortet mein eigenes Seufzen. Die Straße zurück, die Muskeln müde, das Herz rasend pochend in anschwellender Panik, die Gedanken versuchen sich zu sortieren, diesmal keine eigenen Wege für sie, ich brauche sie hier und jetzt. Der Bürgersteig präsentiert mir einen halben Pizzakarton, ein zerknülltes Papiertaschentuch, einen glitzernden Kronkorken, der kurz Hoffnung aufkeimen lässt. Wieder vorbei am roten Haus. Blätter wirbeln umher. Das leuchtend gelbe Lederblatt, das als Anhänger meinen Schlüssel ziert, müsste doch auffallen. Meine Goldmedaille als Waldkennerin, Opa hat es mir geschenkt, zum Abschluss unseres Waldbuches. Dem Gelb haben weder die vielen Jahre, noch die vielen Berührungen meiner Hand etwas anhaben können, noch nicht mal die unzähligen Aufenthalte in Mantel-, Hosen- oder Handtaschen mit mehr oder weniger appetitlicher Gesellschaft. Die roten Linien des Blattskeletts sind dagegen verblasst und verschwommen. Wir sind oft gemeinsam nass geworden, aufgeregt schwitzende Hände, alte Gummibärchen und ausgelaufene Wasserflaschen haben ihren Rest getan.
Jetzt kommt die Sonne wieder hinter den Wolken vor. Das Blätterdach gibt selten den Blick frei. Die wenigen wacker durchdringenden Lichtstrahlen lassen Tropfen an den Blättern aufblitzen, reflektieren sich in letzten Pfützen. Der weiche Boden macht die Muskeln erleichtert aufseufzen. Meine Augen scannen jeden Meter des Weges in Hochgeschwindigkeit, bleiben immer wieder an irgendetwas hängen, wieder nichts. Kein Mensch scheint hier heute Morgen so früh unterwegs zu sein. Ein gefallener Baumstamm am Rande einer Lichtung, ich kann nicht mehr. Ermattet und frustriert setze ich mich auf das feuchte Holz. Unsere Bank war auch manchmal feucht gewesen. Opa hat dann seine Jacke ausgebreitet. Tränen rollen über mein Gesicht, verschmelzen mit den Tropfen, die auf dem satten Grün des Mooses glitzern. Ein regenbogenfarben schillernder Käfer krabbelt langsam in Richtung einer dicken Wurzel. Müsste ein Mistkäfer sein, passt irgendwie. Ich folge ihm mit den Augen, mein T-Shirt ist nass von Schweiß und bald noch mehr von Tränen. Ich verliere ihn aus dem Blick als mein von Tränen getrübter Augenscanner an einem Glitzern ganz nah an der riesigen Wurzel hängen bleibt. Waldbart, bist du das? Erkennst du mich noch, nach fast zwanzig Jahren? Ich habe heute kein Krabbelwasser dabei, nur salzige Tränen und Schweiß, kein Opa, kein Waldbuch, nur Verzweiflung und Ratlosigkeit. Waldbart, bitte lass mich nicht allein, ich will auch ganz vorsichtig sein. Ich bin wieder sechs Jahre alt und kuschle mich an Opa, der mein aufgeschrammtes Knie ganz sachte heil pustet. Zum Trost zeigt mir Waldbart die süßeste Brombeere für die tapferste Waldforscherin. Ich nehme sie ganz vorsichtig, sie liegt nass und weich in meiner Hand. Etwas Hartes ist dabei, leuchtet fast golden auf. Doch nicht etwa Waldbarts Mantelknopf oder gar seine Mütze? Ich war so vorsichtig gewesen! Waldbart ist jedenfalls verschwunden. Und kein Opa ist mit großem, sorgfältig gebügeltem Stofftaschentuch für die Tränen und die laufende Nase da. Heute muss der Ärmel reichen.
Ich habe meinen Schlüssel wieder gefunden. Ich habe meinen Opa wieder gefunden, hier im Wald.
Ich renne wie um mein Leben, den Schlüssel mit dem gelb leuchtenden Lederblatt fest in der Hand. Der Waldweg gibt sein Bestes, die müden Muskeln bei Laune zu halten. Ich werde es schaffen. Die Trauerfeier beginnt in einer Stunde.