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- 04.08.2001
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Den Weg frei!
Der kleine Raumgleiter hatte den Kontraktionspunkt eben passiert. Er war noch gar nicht in die Abbremsphase eingetreten, als das schrille Alarmsignal ertönte. Geistesgegenwärtig gab Klef einen Ausweichbefehl, und der Gleiter schrammte an dem schwarzen Kleinstplaneten vorbei, der gemächlich in ihrer Bahn trieb.
Pax kam auf die Brücke geschlendert und fragte verschlafen: »War’n das?«
Klef hatte noch immer nicht ganz realisiert, was passiert war. Er kratzte sich den Kopf und murmelte: »Der dürfte gar nicht da sein.«
Pax zog sich einen Hocker zum Pult und starrte auf den Monitor, der über die gesamte Größe den Zwergplaneten zeigte. »Irgendwelche Anzeichen organischer Aktivität?«
In diesem Moment ertönte ein neuer Alarm und eine blecherne Stimme sagte leidenschaftslos: »Annäherung! Annäherung! Annäherung!«
Pax rollte auf seinem Stuhl zurück und kratzte sich am Kopf. Klef sah ihn mit rotgeränderten Augen an und Pax dachte: Du brauchst Schlaf, mein Junge!
»Wir werden schon erwartet«, sagte Pax, und es klang fast ebenso nüchtern wie der Computer.
Die Überprüfung des Gleiters war die leichtere Übung; als viel langwieriger erwiesen sich die Kontrollen, die Pax und Klef über sich ergehen lassen mussten. Obwohl oder gerade weil sie beide die einzige Besatzung bildeten, wurden sie nach allen Regeln der Organismusvisitation geprüft. Äußerlich, wie auch im Inneren.
»Ich wusste nicht, dass dieser Teil des Universums besiedelt ist«, keuchte Pax, während er sich anzog. Klef war mindestens eineinhalb Kopf größer und spindeldürr. Dafür hatte Pax erheblich mehr an Umfang zu bieten.
»Der Mensch«, murmelte Klef kryptisch und zog den Reißverschluss seiner Montur nach oben. »Nirgends ist man sicher vor diesem Volk.«
Sie begegneten keiner Seele während ihrer Quarantäne, die Untersuchungen wurden automatisiert durchgeführt. Doch alle Gerätschaften und Instrumente, die an ihnen herumdokterten, jedes Equipment, sämtliches Mobiliar schien auf menschliche Anatomie und Gestalt ausgerichtet. Sie konnten davon ausgehen, dass die Bewohner dieses Zwergplaneten ebenso Menschen waren wie sie selbst.
Hauke stand auf der Steintreppe in den Tiefen der Katakomben. Sein nackter Körper glänzte vom Schweiß im unsteten Licht der Fackeln.
Alle befanden sie sich hier, ausnahmslos. Und warteten auf Neuigkeiten. Doch er war nicht nervös, er wusste, was er zu sagen hatte.
Seine Gestalt straffte sich und er verkündete das Erwartbare: »Brüder, wir haben Gäste!«
Stille in dem riesigen Gewölbe, nur das Feuer knackte hin und wieder leise.
»Ich weiß nicht, wer das ist, mir ist nicht bekannt, wie viele und auch nicht, woher sie stammen.«
Er meinte, Gemurmel zu hören, ob unzufrieden oder erregt, konnte er nicht sagen.
»Aber wenn Vater Recht hat«, fuhr er mit lauter Stimme fort, »dann kommen sie von der Erde oder einer ihrer vielen Kolonien. Ihr wisst, was zu tun ist. Was wir zu tun haben!«
Wieder dieses leise Brummen, doch nun war er sicher, dass es Zustimmung bedeutete. Zustimmung und fieberhafte Erwartung.
Er drehte sich um und verließ die Katakomben, im Rücken vielstimmiges Zischeln seiner Getreuen.
Jegliche Einrichtung des Raumes, in den Pax und Klef von dem Automaten geführt wurden, bestand aus demselben Material wie Wände und Tür: ein sanft gebürstetes mattes Metall. Es fühlte sich warm an und weich, so dass die Sitze recht angenehm schienen. Ohne Aufforderung (es war ja niemand da), nahmen sie Platz, und in diesem Moment hörten sie hinter sich mit einem Wispern das Schließen des Zugangs. Gleichzeitig glitt eine zweite Tür in der gegenüberliegenden Wand auf und ein Mann trat ein. Er schritt in den Raum und blieb vor dem Tisch stehen, während er sie unablässig im Blick behielt.
»Ich bin Hauke«, sagte er schließlich.
Hauke war riesig, mit schwarzem Haar und einem mächtigen Bart. Er stellte jene Sorte Mann dar, in dessen Gegenwart man nichts sagen mochte, zumindest nichts Falsches. Der eisenfarbene Overall spannte über seinen Körper.
Klef sagte: »Ich bin Klef.« Pax blieb stumm, sodass er hinzusetzte: »Das ist Pax.«
Hauke nickte leicht, als hätte er das längst gewusst. Er zog den Metallstuhl heran, setzte sich an den Metalltisch und legte mit Bedacht die Hände vor sich. Alle drei starrten sie nun auf die behaarten Pranken, die verschränkt auf der Platte lagen.
Endlich blickte Hauke auf und sagte im selben Ton, in dem er sich vorgestellt hatte: »Jetzt seid Ihr hier.«
Und wieder Schweigen. Klef rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Dieser Kerl da, mit den Riesenhänden, den buschigen Augenbrauen und den wulstigen Lippen, der hatte einen Blick, der so gar nicht zu ihm passen wollte: sanft, fast melancholisch, auf jeden Fall aber fragend und einfühlsam.
»Du lebst allein hier?«, fragte Klef.
Hauke lehnte sich zurück und schaute den dünnen Mann an. Das Gesicht schmal und blass, machte er im Ganzen nicht den Eindruck, dass er der Mission, auf die man ihn geschickt hatte, gewachsen war.
»Glaube nicht, dass ich hier antworten muss.« Alle Güte verschwand aus den Augen, stattdessen hatten sie dieselbe Farbe angenommen, wie seine Haare. »Was wollt Ihr? Dies hier ist mein Planet, niemand stellt Fragen, die ich nicht beantworten will.«
Klef sagte: »Wir wollen dich warnen, nur deshalb sind wir hier.«
Pax bewegte sich. Er war die ganze Zeit still geblieben, sein Blick ruhte auf Hauke. Der kleine dicke Mann setzte sich nun aufrecht hin, wobei er stöhnte, als hätte er sich ein Bein gebrochen. Aber er lächelte.
»Wir wollen doch mal eines klarstellen«, sagte er mit leiser Stimme. »Wir wollen doch mal auf das Emblem hinweisen, das Hoheitszeichen an unserem Gleiter!« Er machte eine Pause, währenddessen er Hauke unverwandt anstarrte. Der starrte zurück. Schließlich fuhr Pax fort: »Obwohl wir hier noch keinem einzigen Menschen begegnet sind, außer dir, bin ich mir sicher, dass du das Symbol an der Außenseite des Gleiters sehr genau gesehen hast. Und dass du weißt, was es bedeutet.«
Damit ließ er sich wieder sinken, mit dem gleichen Stöhnen wie vorhin.
Hauke schwieg, während er interessiert den dicken Pax immer weiter musterte. Dann sagte er fast noch leiser als Pax vorher: »Ihr seid hier auf meinem Planeten. Und ich verlange, dass Ihr mir Fragen beantwortet!«
»Was willst du wissen?«, schaltete sich Klef ein.
Hauke lachte. Ein herzliches Lachen, das ihm direkt aus dem Bauch kam. Abrupt endete er und fragte: »Welcher Umstand treibt euch hierher?« Er sah Pax an, doch der blickte interessiert auf seine Hände.
Klef sagte: »Wir haben den Kontraktionspunkt passiert, das hast du ja mitbekommen. Unser Schiff tauchte aus dem Hyperraum auf und hatte nichts zu erwarten als langweilige Leere. Und da schipperte dieser Kleinstplanet herum.«
»Und?«
»Der dürfte gar nicht da sein!« Es klang wie ein Hilfeschrei. »Nicht um die Zeit!«
Hauke sah ihn unbeeindruckt an.
Es wurde schmerzhaft klar, dass diesem Raum, diesem sanft schimmernden Areal jede Art Geräusch fehlte. Es war so still, als hätte man Kopfhörer auf.
»Dann solltet Ihr eure Unterlagen aktualisieren.«
»Alles auf dem neuesten Stand!«, bellte Pax. Er blickte immer noch auf seine Hände. Langsam hob er den Kopf. »Was denkst du denn? Wir sind keine dahergelaufenen Raumlagerer. Ich erinnere dich an das Emblem! Weißt du, in wessen Auftrag wir kommen?«
Er zeigte wenig Regung, fast schien es, als lächele er. Hauke nickte.
»Nun, dann wirst du dir denken können, dass wir nicht ohne Grund hier sind. Wir machen diesen Ausflug nicht, um uns zu amüsieren.«
Wieder herrschte Schweigen. Pax schaute von Neuem auf seine Hände, Klef musterte ihn verstohlen und Hauke bewegte sich keinen Millimeter. Das einzige, das an ihm lebendig schien, waren die Augen.
»Was wollt Ihr dann hier?«
»Du musst weg«, bellte Klef plötzlich und wurde puterrot. »Du musst von dem Übergang verschwinden, sofort.«
Ein Lächeln in Haukes Augen. »Wie stellst du dir das vor?« Der Ton ebenso amüsiert.
Pax machte Anstalten aufzustehen, ließ sich dann aber wieder resigniert in den Sitz plumpsen.
Klef antwortete: »Die vereinte Raumflotte ist unterwegs mit einer Armada. Drei der größten Raumkreuzer sind dabei, eine Menge Passagierschiffe und Brecher.«
Es hatte den Eindruck, als sei Hauke ein klein wenig blass geworden, als hätten sich seine Augen verengt. Das konnte aber auch täuschen. Er fragte in ruhigem Ton: »Wozu?«
»Was denkst du? Was denkst du denn, verdammt! Sie sind hierher unterwegs, um Lebensraum zu finden. In drei Tagen passieren sie den Übergang mit sechs der größten Brecher, welche die Union jemals gebaut hat. Und du gondelst hier seelenruhig mit deinem Kleinplaneten herum.«
Jetzt war es offensichtlich: Hauke war angespannt. »Neuen Lebensraum, sagst du?«
Klef stand kurz davor, hysterisch zu werden. »Ja, sie sind nicht mehr aufzuhalten! Und wenn du hier nicht verschwindest, wird es eine Riesensauerei geben!«
Klef tigerte unruhig auf und ab durch die kleine Kabine, die Hauke ihnen persönlich zugewiesen hatte. Ihm kam es zunehmend so vor, als sei es eine Zelle, in der sie festgehalten wurden. Ein glänzender, klinisch sauberer Käfig.
»Setz dich, du nimmst mir die Ruhe!«, nörgelt Pax. Er war nicht minder beunruhigt, doch die Unruhe drang nicht an seine Oberfläche. Er hockte auf einer harten Liege – einer von zweien, die nebeneinanderstanden. Sehr spartanisch eingerichtet, der Raum, nicht zum Verweilen geeignet.
»Warum hast du gesagt, wir hätten Unterlagen von dem Sektor hier?«, fragte Klef, als er vor Pax stehenblieb. Er blickte auf ihn hinab und knetete die Finger. »Ich habe nie von Aufzeichnungen aus der Gegend gehört. Das hier ist Neuland.«
Pax knurrte. »Sicher gibt es keine vernünftigen Karten dieses Territoriums, natürlich nicht. Aber wie willst du den Kerl dazu bewegen, seinen verfluchten Planetoiden vom Übergang wegzukriegen.«
Klef starrte verdutzt auf ihn hinunter, solange, bis Pax sich stöhnend erhob.
»Er kann ihn bewegen?«, fragte Klef.
»Das weiß ich nicht, Dummkopf. Aber wir müssen alles probieren.«
»Wir danken dir für die Gastfreundschaft, die du uns gewährst.«
Klef hatte sich locker in den Metallsessel zurückgelehnt, denn Pax sprach. Pax wirkte ebenso ruhig und gelassen, der Einzige, der dieses Mal angespannt schien, war Hauke.
Der Schatten eines Lächelns überlief sein Gesicht, doch ein Nu und es war Geschichte. »Ja«, sagte er zerstreut. Und dann, nachdem ein Ruck durch seinen Körper ging: »Wer ist da unterwegs hierher? Auf der anderen Seite des Kontraktionspunktes.«
Klef war noch immer locker, ebenso Pax. »Was meinst du?«
»Das weißt du sehr genau, Pax. Es geht um den Auftrag, der eure Armada hierher führt.«
»Wir sagten doch, der Lebensraum wird gebraucht. Dieses System hier ist wie gemacht für eine Kolonisation durch die Menschen.«
Hauke sank zurück, von einem Moment auf den anderen schien er um ein Drittel kleiner geworden zu sein. »Kolonisation sagst du? Okkupation!«
Pax lachte jetzt. Klef stimmte mit ein, doch als er sah, dass Hauke zitterte, verstummte er.
Pax sagte fröhlich: »Eroberung? Von wem sollten wir dies System denn erobern? Du lebst allein hier, hast du gesagt. Weitere Lebensformen sind nicht bekannt. Warum also sprichst du über Annexion?«
»Was ist es anderes?«, murmelte Hauke zu sich selbst. »Wenn nicht Eroberung. Gehört er dir, der Raum, Mensch?«
Pax lachte wieder. »Niemand, er ist niemandes Eigentum.« Er sah zu Klef, doch der wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. »Du musst verschwinden hier, hörst du? Ich bin überzeugt, du kannst deinen Planeten lenken. Das weiß ich. Du wirst ihn von dem Übergang fortlotsen!«
Hauke schüttelte sacht den Kopf.
»Du musst! Wenn du es nicht tust, bist du des Todes. Für die Brecher ist es ein leichtes, dich und deine Heimat zu zerstören. Die Antimaterie-Faust eines einzigen ist dazu in der Lage. Also macht es nur für dich einen Unterschied, ob du weiterziehst oder ob du hierbleibst.«
»Oh nein.« Das plötzliche Grinsen auf Haukes Gesicht ließ Klef nun erschauern. »Nicht nur für mich ist es relevant. Ich bin nicht allein auf diesem Himmelskörper.«
»Ich wusste es doch«, rief Pax triumphierend. »Von Anfang an war mir klar, dass du hier nicht wie ein Eremit existierst.«
»Ich lebe allein, seit ich mich erinnern kann. Das ist es nicht, aber ihr seid jetzt hier und ihr werdet mit mir untergehen.«
»Was?!« Klef konnte seine dumme Frage nicht unterdrücken, Pax schwieg. Er dachte nach.
»Seit wann lebst du hier«, fragte er schließlich. »Auf dem Asteroiden?«
»Ich sagte es, seit ich mich erinnern kann.«
»Aber wie bist du in diesen Distrikt gekommen?«
»Mein Vater kam hierher, kurz nachdem die Menschheit das Geheimnis interstellarer Raumfahrt entschlüsselte. Und er hatte Kenntnis, was passieren würde.« Hauke war jetzt seinerseits sehr ruhig; er wusste, wie er vorgehen musste.
»So«, fragte Pax. »Was ist denn passiert?«
Hauke stand auf. Er stützte sich auf den Tisch und blickte beide an, Hass in den Augen. »Unersättlich! Der Mensch ist nicht zufriedenzustellen. Voller Gier! Schon als er den Weg ins All noch nicht kannte, als er gefangen auf der Erde war, tat er so, als gehöre ihm alles, als könne er sich jedes nehmen. Sagte man: Was du tust, ist schlecht, es schadet deiner Umwelt!, dann lachte er nur. Überall machte er sich breit – erst auf seinem Planeten, sobald er den verlassen konnte, nahm er den Weltraum in Besitz.«
Er holte tief Luft, die Feindseligkeit in seinen Zügen war verschwunden, blanke Lethargie lag darin. Er setzte sich wieder.
»Und wenn ihm niemand Grenzen zeigt, treibt er es immer weiter.«
Klef atmete tief ein, er musste husten.
Pax wartete geduldig, bis er ruhig war, dann sagte er: »Aha, nun ja. So ist das also. Was soll man dazu sagen? Die Menschheit braucht den Raum, es ist niemand hier, dem wir ihn wegnehmen würden. Also ist da kein Konflikt.«
»Aber genau das ist das Problem! Dass er einfach nicht in der Lage scheint, sich selbst zu beschränken. Weißt du, es gab eine Zeit, da war es verbreitet, dass jeder einzelne ein Mobil fährt, angetrieben von einem Verbrennungsmotor. Und besonders schick war es, wenn das Gefährt groß und schwer war – entgegen der Vernunft. Denn alle wussten, dass es schädlich war, so ein Vehikel zu fahren. Für den Planeten, für das Leben und für den Menschen selbst. Die Leute taten es trotzdem.« Er atmete angestrengt, Klef und Pax hingen an seinen Lippen.
»Kurz danach war die Erde kaum mehr bewohnbar, unwirtlich.«
Er lächelte, bevor er sie anbrüllte. »Und da kommt ihr und sagt, ihr braucht Lebensraum?«
»Brüder! Es ist so weit, der Tag ist gekommen. Niemand von euch ist umsonst gestorben.«
Hauke war wieder nackt, er ging die Reihen im Untergrund durch. Das Licht des Feuers spiegelte sich unruhig in den Pupillen seiner Brüder. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet – tote Augen, einige seit Jahrhunderten.
»Wir werden den Willen unseres Vaters vollstrecken und das wird ein Fanal sein. Es wird für viele Dekaden nachhallen und es wird das faule Geschlecht vorerst stoppen.«
In seinen Gedanken ertönte ein vielhundertstimmiges Geheul, ein Gesang der Brüder, die ihn bestätigten, unterstützten, ihm dankten. Er stimmte mit ein und so sangen sie zusammen, er tanzte in ihrer Mitte, die Arme ausgebreitet, und so waren sie wieder eins und ihr Vater war über ihnen.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Pax. Das Lächeln wollte ihm nicht recht gelingen, er war nervös. »Sie sind ewige Zeiten auf diesem Planeten, auf besondere Weise haben Sie es geschafft, seine Bahn zu manipulieren. Sie wollen die Menschheit in ihrem Weg aufhalten. Gut, tun Sie das.«
Schon seit Generationen war es nicht mehr üblich, sein Gegenüber zu siezen; irgendwie war Pax da reingeraten. Er hatte es gar nicht bemerkt, oder doch?
»Machen Sie, was Sie wollen, doch es wäre schön, wenn Sie uns da raushalten könnten. Lassen Sie uns ziehen, wir steigen in den Gleiter und sehen uns das Schauspiel aus gebotener Entfernung an.«
Hauke lachte. Er schien gelöst, sehr locker. Außerdem hatte er sich anders gekleidet. Den schmucklosen grauen Einteiler hatte er abgestreift und eine Livree angelegt, etwas Festliches, das einer Uniform wohl gleichkam. Er machte einen offiziellen Eindruck.
»Die Würfel sind gefallen«, sagte er, wobei er auf den Zeitmesser im Tisch schaute. »Wie lange noch, bis zum Eintritt der Armada?« Er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr fort: »Sechzehn Stunden, etwas weniger. Wie viele Menschen sind an Bord der Schiffe? Wisst ihr das? Oder seid ihr zu unbedeutend für diese Information?«
»Etwa Dreißigtausend«, erwiderte Pax tonlos. »Es würde nichts nützen, die Brecher senden den kleinsten Antimateriestrahl. Da bleibt nix übrig von dem Planeten.«
»Das ist wahr.« Hauke schien betrübt. »Doch damit habe ich abgeschlossen. Das ist Geschichte.« Er strahlte. »Wir drei sind schon Geschichte. Eigentlich gibt es uns nicht mehr.«
Klef seufzte auf. Pax sagte ärgerlich: »Was wollen Sie erreichen? Nichts wird sich ändern.«
»Nun ja. Vielleicht doch. Es gibt den einen oder anderen Fehler in euren Überlegungen. Als Erstes …«
Damit stand er auf und begann, in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Pax verdrehte die Augen. Zu paradox, ihre Situation.
»Ihr habt erkannt, dass ich Herr über die Bahn dieses Himmelskörpers bin. Sehr richtig.« Er bog den Zeigefinger der rechten Hand mit dem der linken nach hinten. »Das bedeutet, dass ich natürlich das Objekt in genau die Position gesteuert habe, in der er sich befindet.«
Klef zog scharf die Luft ein, Pax sackte noch weiter in sich zusammen.
»Oder«, fuhr Hauke fort, »wo er sich in gut fünfzehn Stunden befinden wird.« Er grinste.
Klef zeigte keine Reaktion, Pax‘ Körper dagegen straffte sich wieder. »Das ist von langer Hand geplant«, keuchte er.
»Schon vor hunderten Jahren.« Hauke kam gar nicht mehr raus aus der Freude. »Vater hat alles vorausgesehen. Er wusste, dass sich die Menschheit irgendwann aufmachen würde, diesen Teil des Universums zu unterjochen. Ihm war klar, dass viele Schiffe kommen und er kannte sich aus, wie sie aufzuhalten sind.«
»Das ist perfide!«
»Seid beruhigt, ihr seid wahrlich nicht die Einzigen, die sterben werden. Wir steuern so nah an den Kontraktionspunkt, wie es geht. Alle Koordinaten sind programmiert…«
»Lass mich raten: schon vor Jahrhunderten.« Pax resignierte. Er war wieder nach hinten gesunken, hing schlaff im Sitz.
»Ja. Euer Brecher wird den Antimaterie-Werfer einsetzen, aber er braucht nicht auf volle Reichweite gehen. Er wird von der Annihilation selbst erfasst, seine Ladung verstärkt die Reaktion, sie greift über auf die anderen Schiffe – eine Kettenreaktion, an deren Ende nichts mehr sein wird. Wenigstens nichts Menschliches.«
Er sagte das so, als spräche er von einem Tierparkbummel.
»Aber immer schon hat der Mensch sich aufgemacht, neue Welten zu finden und zu erforschen«, versuchte Pax es schwach. »Seit Anbeginn seiner Existenz.«
»Ja, so ist es. Doch wie sahen die Planeten danach aus? Nachdem er sie eingenommen hatte. Also, macht euch fertig!« Er stand auf, ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. Er schaute auf die beiden müden Gestalten. »Macht euch bereit zum Sterben.«
Die Kabine von Klef und Pax war spartanisch eingerichtet, auf jedwede Annehmlichkeit hatten sie verzichten müssen. Doch als grausamer Scherz stellte sich heraus, dass Hauke ihnen einen genau gehenden Chronometer dagelassen hatte.
12 Stunden. Die Beiden lagen auf den harten Pritschen, gleichwohl Schlaf wollte sich nicht einstellen.
Hauke ließ ihnen ein Mahl senden, sie warfen die Teller mit den Speisen gegen die Wände und schrien ihre Wut dem Automaten an den Kopf. Dass der keinerlei Regung zeigte, schien Häme zu sein.
Sie kreischten weiter und tobten, 8 Stunden vor dem Übertritt schließlich sanken beide erneut matt auf die Liegen und wurden dieses Mal von unruhigem Schlaf übermannt.
4 Stunden und sie kamen überein, dass das Ganze hier nur ein Scherz war, ein widernatürliches Spiel, an dem sich Hauke ergötzte.
3 Stunden, es wurde ihnen klar, dass dies entweder ein ganz abgefeimtes oder überhaupt kein Spiel war. Eineinhalb Stunden bis zum Übertritt lagen sich beide weinend in den Armen, sie beichteten einander ihre schlimmsten Sünden und benetzten sich gegenseitig mit Tränen.
Pax erzählte von Fo, seiner jungen hübschen Frau, Klef berichtete schluchzend über Brer, einer Tibetdogge-Dame, die er sich erst vor kurzem zugelegt hatte.
Eine halbe Stunde, bevor der gleißende Tod kommen würde, öffnete sich die Tür zischend. Klef lag und rührte sich nicht, Pax saß im Sessel und hieß ihn willkommen.
Willenlos ließen sie sich aus dem Raum führen, einen langen, spärlich beleuchteten Gang entlang, der sich etliche Male wand, bis sie schließlich nicht mehr wussten, wo sie sich befanden.
Eine Treppe ging es hinab, wieder einen endlosen Tunnel, dann noch einen Abstieg, diesmal aus Stein gehauen. Sie stiegen in den Planetoiden hinunter.
In früheren Zeiten hätte es Pax gewundert.
Vor einer Tür kamen sie zum Halten, einer Holztür, mächtig und reich verziert. Als Hauke diese geöffnet hatte, traten sie alle drei in eine andere Welt.
Schwere Steinwände, an denen Fackeln mit offenem Feuer steckten. Die Decke war niedrig und voller grünlichem Schleim. Links und rechts standen riesige Truhen mit verglasten Deckel, hunderte, wenn nicht tausende in langen Reihen. Und über ihnen ebenso viele Leuchter mit unstetem Licht.
In einem anderen Leben hätte Pax sich gefragt, wer alle diese Vorbereitungen getroffen hatte und wofür. Doch er stand nur uninteressiert neben Klef, und der wankte nicht weniger apathisch an Haukes Seite. Nichts mehr hatte einen Sinn.
»Meine Brüder«, flüsterte Hauke. Hier unten hallte es drohend von den Mauern wider.
Und sie traten an die vorderste Truhe, er zwang sie hineinzuschauen. Hauke starrte sie durch die Scheibe an.
Sie gingen weiter, im nächsten Sarkophag lag ebenfalls Hauke. Und im darauffolgenden und dem danach.
Überall sahen sie Hauke hinter dem Glas.
Schließlich erreichten sie das Ende, den letzten Sarg.
»Vater«, raunte Hauke. Und in ihm ruhte ebenfalls Hauke.
Der donnernde Tod kam, doch sie merkten es nicht. Auf ihrer Netzhaut hatte sich das Bild des ruhenden Hauke eingebrannt.
»Vater, du hast die Macht!«