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Der Abschied
Olaf hängte die Girlanden auf. Es machte ihm nichts, dass er heute erst gegen 9 Uhr abends zu Hause sein würde. Er, der sonst eher geschwiegen und im Stillen verharrt hatte, wollte wenigstens jetzt noch einmal anders sein. Der große Aula-Saal schimmerte im ranzig-gelben Schein der alten Zwanziger-Jahre-Leuchter, deren Lichtflecken man gegenüber am mittlerweile abgelaufenen Parkettboden zumindest noch zu erahnen glaubte. Die schlichte, mit den Jahren beigegelb gewordene Wand war zwischen ihren einigermaßen hohen und breiten, rechteckigen Fenstern mit Spruchbändern und Dekoration geschmückt. Olaf kniete auf der Bühne, deren Hintergrund jener alte, die ganze Wand bedeckende weinrote Vorhang bildete, am einen Ende des Saales, er hob ein Stück Glitzerband auf, das hinuntergefallen war. Alle anderen waren schon vor einer oder zwei Stunden gegangen - puh, jetzt war es glaub ich genug, auch für mich, dachte er sich. Er brachte seine Arbeit für heute zu einem Abschluss, schaltete das Licht aus und schloss die Tür.
Am nächsten Abend die Feier, endlich, fast alle aus der Jahrgangsstufe waren gekommen, ausgelassen und froh und erleichtert von den Strapazen der vergangenen Wochen und Monate. Olaf unterhielt sich mit Eric, auch Markus und Khalil waren anwesend, Max trug Gedichte auf der Bühne vor. Auch mit all den anderen sprachen sie, fröhlich, und man trank und lachte ausgiebig.
"Markus, wirst du hier studieren oder bleibst du auch in dieser Hinsicht deiner pfälzischen Heimat treu?" witzelte Eric. Haha, meinte Markus, dass ich nicht lache.
"Und du, Olaf, was machst du?"
Olaf schreckte für einen Moment leicht auf.
"Ich werde Mathematik studieren", gab er Eric und den anderen dann aber, nicht ohne einen gewissen Stolz, Preis.
"Mathe? Gutes Fach, mach ich auch! Oder vielleicht doch Informatik? Oder Bauingenieurwesen, du weißt, das Büro von meinem Vater..."
Olaf räusperte sich leise, und blickte mit den Augen auf die Seite.
"Kommt, lasst uns eine Rede halten an den Jahrgang", schlug Khalil euphorisch vor.
Nee, nicht wirklich oder?, regte sich Olaf im Stillen auf, doch er sagte diesmal nichts. Max hatte gerade sein letztes Gedicht beendet, ein wenig pathetisch, ein wenig zeitkritisch, wie immer eben. Unter dem noch nicht verhallten Applaus ihres Vorredners betraten die vier die Bühne. Beim Abgang sagte Max noch:
"Und hier seht, die vier süßesten Jungs unserer Schule erweisen uns die Ehre!".
Dass er mitgekommen war, bereute Olaf, spätestens als die Stimmen aller anderen drei verstummt waren und eine Stille den Raum erfüllte, die in Form von gespannten und neugierigen Augenpaaren aus allen Richtungen ihn zu zerdrücken versuchte. "OK eh, ich freue mich, durch meinen Einsatz euch heute diese Feier ermöglichen zu können, es war eine schöne Zeit mit euch allen, und deshalb habe ich mich auch so bemüht, und was ich noch sagen wollte, ihr wart alle eine große Unterstützung für mich, besonders dann auch Khalil und ... Markus, hehe, die mit ihrem Wissen aus fernen Ländern meinen Lebensalltag bereichert haben, dann auch Eric, mit dem ich immer so toll Games zocken konnte, und Max mit seinen tollen Aufsätzen, wo ich immer abschreiben durfte, hehe, jaja, wie wir immer auf dem Lichthof im zweiten Stock Karten gespielt haben, oder in der Elektro-AG, wo wir die Netzteile geschrottet haben, war schon geil so, ja." Der Saal brach (wie eigentlich bei allem, was heute auf der Bühne verabreicht wurde), in tosenden Applaus aus, Khalil flüsterte ihm über die Schulter lachend ins Ohr:"Hast du gut gemacht!", und Markus: "Ja, aber das mit den fernen Ländern verzeihe ich dir nicht, gell, haha!". Langsam löste sich auch die Spannung in Olafs Gesicht, seine sonst blassen Backen erröteten leicht, sogar ein bescheidenes Lächeln erschien.
Jahre vergingen, in denen Olaf ausgiebig in das Studien- und Berufsleben eintauchen durfte, oder, besser gesagt, musste. Zwar lebte er mittlerweile schon wieder in der Stadt, hatte aber nie Zeit gefunden, seine alte Schule oder seine Schulkameraden, welche nach dem Abschluss in alle Himmelsrichtungen verschwanden, zu besuchen. Erst als es darum ging, für seine Tochter ein passendes Gymnasium auszuwählen, machte er sich eines Abends auf den Weg zu jenem alten Schulhaus, das einst seins gewesen war. Die alte Aula war bereits vor mehreren Jahren aufgegeben worden, an ihrer Stelle hatte man neue Unterrichtsräume gebaut. Die neue Aula, in der die Informationsveranstaltung stattfinden sollte, war ein hochmoderner Akustiksaal in einem neuen Anbau der Schule, mit moderener Lichtanlage hell beleuchtet, schneeweiß gestrichen, blank gewachster Parkettboden und Wandvertäfelungen aus edelstem, aber avangardistischem Holz. In den Ecken prangten teure, hochleistungsfähige Lautsprecher, wie Olaf sofort erkannte, und aus dem Boden ragten futuristische Lüftungsanlagen aus silbernem Metall. Mitten in den Sitzreihen bemerkte Olaf plötzlich Max. Zugleich bemerkte dieser auch ihn und grinste ihn verschmitzt an.
Ja, ja, Olaf, du altes Haus! - "Hi Max".
Von ihm erfuhr Olaf, dass Khalil nun in Pakistan als Dolmetscher arbeitete und Markus bei einem großen Autokonzern in seiner pfälzischen Heimatstadt Anstellung gefunden hatte.
"Ja, und Eric?" - Eric, der ist in die Theologie gewechselt. Toll, nicht?
Was aus Max selbst geworden war, brauchte Olaf nicht zu Fragen. Erst kürzlich hat er in einem Schaufenster Max' neuesten Roman unter den Bestsellern entdeckt.
Und du, Olaf, was machst du?
"Ich, ich vermisse es."