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Der alte Löwe
Der alte Löwe lag zufrieden in der Sonne und döste vor sich hin. Sein Harem kümmerte sich um alles und das war gut so. Die Vorstellung, dass mächtigere Tiere kommen könnten, um ihn aus seinem Land zu vertreiben, war unsinnig. Eine Herde Flusspferde! Sollte der alte Aasgeier doch reden, was er wollte! Er schnatterte ohnehin ununterbrochen.
„Also ich würde ja nicht so ruhig in der Sonne liegen“, piepste ein Wüstenrennmäuschen vor der Schnauze des Löwen. „Die Flusspferde haben sich formiert und werden jetzt bald zum Wasserloch kommen.“
„Redest du mit mir?“, fragte der Löwe und öffnete verschlafen seine Katzenaugen.
„Ja, was glaubst du denn.“
„Du hast keine Angst vor mir?“
„Du frisst Gazellen, aber doch keine Mäuse“, kicherte das Tierchen. „Es geht um das Wasserloch, alter Mann“, setzte das Mäuschen fort. „Hast du mich verstanden?“
„Die Flusspferde werden es nicht wagen“, murmelte der Löwe bestimmt. „Mein Rudel ist stärker.“
„Nein, da muss ich dir widersprechen, mein Lieber. Die Flusspferde sind an Zahl überlegen. Meine Freunde und ich haben sie gezählt.“
„Wieso erzählst du mir das?“ Der Löwe streckte die Pfoten genüsslich weg. Die Sonne Afrikas schien warm auf sein helles Fell. Es war ein guter Tag und so sollte es bleiben. Die Löwinnen würden bald mit Futter zu ihm zurückkehren. Vielleicht mit einer leckeren saftigen Antilope.
„Weil meine Freunde und ich auch zum Wasserloch ziehen wollen und den Schutz deines Rudels wünschen. Genauso wie die Giraffen.“
„Hm, wieso sollten die Flusspferde das Wasserloch wollen? Sie haben einen Fluss“, überlegte der Löwe.
„Er ist ausgetrocknet, genauso wie viele Wasserstellen hier. Du hast in deinem Revier eines der Letzten, verstehst du es jetzt endlich?“
Der Löwe stand auf und wanderte gemächlich in den Schatten eines alten Baumes. „So so“, meinte er nur. „Ich will ja mal nicht so sein, wir könnten eigentlich all das friedlich lösen.“
„Du bist doch ein Löwe, der König der Tiere, ein Raubtier“, wunderte sich das Mäuschen.
„Der König, du sagst es, kleiner Freund. Wasser haben wir noch genügend. Wir können auch teilen.“
„Soll ich es den Flusspferden mitteilen?“
„Ich bitte dich darum“, erklärte der Löwe. Danach schloss er wieder die Augen. Wozu aufregen?
Die Zeit verging. Ruhe lag über der Savanne und die Mittagshitze. Die Löwinnen waren zurückgekehrt und lagen unter den Bäumen. Heute hatten sie kaum was gefangen. Sie würden am Abend wieder losziehen und auf die Jagd gehen.
„Sie kommen!“, piepste die Wüstenrennmaus aufgeregt. „Die Flusspferde glauben dir nicht!“
„Was sprichst du da, Kleine?“, fragte eine junge Löwin verschlafen.
„Spürst du es nicht? Der Boden vibriert.“
„Wacht auf!“, brüllte die Löwin sofort. „Die Flusspferde kommen!“
„Wieso?“, fragte ein Löwenkind und gähnte herzhaft.
„Sie wollen uns vertreiben“, raunt der alte Löwe.
„Aber warum denn? Seit Jahrzehnten gehört diese Wasserstelle unserem Rudel.“
„Es gibt kaum noch Regen“, wispert eine steinalte Löwin und sieht in den Himmel. „Die Wasserlöcher und Flussläufe trocknen aus. Alle haben Durst und fürchten um ihr Leben.“
„Ich bin bereit zu verhandeln und zu teilen“, sprach der Löwe und schüttelte die mächtige Mähne. „Wir haben noch genug.“
„Aber die Flusspferde, sie trampeln alles nieder und baden in unserem Wasser“, flüstert ein Löwenkind.
„Das machen Krokodile auch“, erwidert ein anderes. „Sei nicht so zimperlich.“
„Sie sind da!“, ruft ein Junglöwe aus. Er hat noch keine Mähne, doch in einem Jahr wird er fortziehen und sein eigenes Rudel gründen.
„Gut, bleibt hier. Ich versuche sie mal zur Vernunft zu bringen.“ Der alte Löwe erhob sich und trabte auf die Nilpferdherde zu.
„Halt!“, brüllte er, sodass man es durch die Savanne hören konnte.
„Zur Seite!“, rief ein Flusspferd. „Verschwinde mit deinem Rudel. Das ist jetzt unser Land.“
Der Löwe sah von einem zum anderen. Es waren an die dreißig Tiere. Tonnenschwer, wütend und ihnen bei weitem überlegen.
„Nein, dieses Land gehört uns allen“, bemerkte der Löwe.
„Das spricht ja der Richtige. Du beanspruchst es schon lange für dich und dein Rudel. Genauso wie das Wasserloch.“ Ein Flusspferd schüttelt sein mächtiges Haupt.
„Die Zeiten haben sich geändert und ich bin bereit zu teilen. Wir sind bereit zu teilen. Ihr könnt hierbleiben.“
Flüstern machte sich in der Flusspferdherde breit. Was sprach der Löwe da? Konnte man ihm trauen?
„Hört auf den Löwen!“, rief die Wüstenrennmaus. Sie stand auf zwei Beinen und glotzte die Tiere mit ihren dunklen Augen an.
„Wieso sollten wir ihm glauben? Er und die Seinigen sind unsere Feinde“, rief ein Flusspferd aus der Herde.
„Jeder kann sich ändern“, bemerkte ein altes Nilpferd und trat aus der Herde hervor. „Löwe, du wirkst nicht so, als würdest du uns in die Irre führen wollen oder eine List planen.“
„So ist es.“
„Zeig uns deine Wasserstelle, ob sie groß genug ist für uns alle“, forderte das alte Tier den Löwen auf.
„Kommt.“ Der Löwe schritt voraus, die Herde folgte ihm, auch sein Rudel und die Maus. Selbst der Aasgeier wurde neugierig.
„Wasser!“, quietschte ein Nilpferdjunges und stolperte in das Wasserloch.
„Vorsicht!“, rief eine Löwin. „Wir haben auch Krokodile.“
„Und Elefanten“, wisperte das alte Flusspferd. „Aber das wird kein Problem werden. Die Wasserstelle ist ja riesig.“
„Genug für uns alle“, erklärte der Löwe mit erhobenem Haupt. „Also seid ihr bereit für ein friedliches Miteinander?“
„Ja“, bemerkte das alte Nilpferd felsenfest.
„Aber das können wir doch nicht machen“, rief ein jüngeres männliches Tier.
„Doch. Im Frieden liegt die Kraft. Wir sind alle Tiere.“
„Raubtiere und Pflanzenfresser“, murmelte ein anderes Flusspferd kopfschüttelnd.
„Ja, schon, aber meine Rudel und ich fressen keine Flusspferde, keine Elefanten.“
„Keine Mäuse“, wisperte die kleine Wüstenrennmaus.
„Wir holen uns unsere Beute woanders“, erklärte eine Löwin. „Kranke schwache Tiere.“
Das alte Nilpferd nickte bedächtig. „Lasst uns einander helfen und füreinander da sein.“
Zustimmendes Geflüster. Ein Nilpferd nach dem anderen watete in das Wasser. Das Löwenrudel zog sich wieder unter seinen Baum zurück. Der alte Löwe gähnte, machte es sich bequem und schloss zufrieden die Augen.