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Der alte Mann und die Erinnerung
Er saß auf der Veranda des Altenheims, seine altersfleckigen Hände krampften sich um ein Mobiltelefon, das aus einem Display und vier überdimensionierten Kurzwahltasten bestand. Nur neben der obersten Kurzwahltaste stand ein Name auf einem kleinen Zettel, der unübersehbar aufgeklebt worden war. Wo bleibt sie nur? Gleich ist die Besucherzeit vorbei, dachte er, ob ihr was passiert ist? Was, wenn sie einen Unfall hatte? Er spürte ein Ziehen in der Kehle. Ich muss sie finden. Das Ziehen in seiner Kehle verengte sich, wurde zu einem Kloß, drohte ihn zu ersticken. Vor seinem inneren Auge tauchte ein unscharfer, nachtblauer Ford Ka auf. Ist das Blech zertrümmert? Ich muss sie finden, dachte er wieder. Er stemmte sich mühsam empor, dann fühlte er einen Schlag, der gegen seine Brust pochte. Sein Gesicht zuckte zusammen, wurde für einen Moment zu einer Grimasse. Gleich ist es aus mit mir, wo bleibt sie nur? Er versuchte an sie zu denken, doch alles, was ihm blieb, war eine weit entfernte Erinnerung wie ein lang vergangener Urlaub. Um ihn herum wurde es dunkler, er ließ sich wieder in den Stuhl sinken.
Plötzlich zuckte er zusammen. Jemand rief seinen Namen. Was ging hier vor sich, waren sie gekommen, um ihn zu holen? Er öffnete die Augen und drehte sich schwerfällig um. Ein junger Mann in einem weißen T-Shirt und Hose kam auf ihn zu.
„Wir haben Sie schon gesucht, was machen Sie hier draußen?“, fragte er.
„Ich muss meine Frau finden“, antwortete der alte Mann verstört, es lag kein Ausdruck des Erkennens in seinem faltigen Gesicht.
„Warten Sie bitte einen Moment, ich komme gleich wieder“, sagte der Mann in weißer Kleidung mit einer Stimme, in der Mitgefühl und Verständnis mitschwangen.
Kurz darauf kam er mit einem Glas Wasser und einer Tablettenbox zurück.
„Sie haben ihre Medikamente noch nicht genommen. Ihre Frau ist vor vielen Jahren bei einem Autounfall gestorben", sagte er.
Der alte Mann schaute ihn an, ohne etwas zu sagen. Meine Frau kann nicht tot sein, das kann nicht sein, dachte er. Was habe ich dann in den letzten Jahren gemacht? Wer bin ich in den Jahren gewesen?
„Wo bin ich? Wer sind Sie?“, fragte er mit einem leeren Blick.
„Ich bin Jack, Ihr Pfleger. Hier, bitte nehmen Sie“, sagte er und gab ihm eine Tablette. Er schluckte sie hinunter.
„Kommen Sie, ich bringe Sie in Ihr Zimmer. Dann können Sie sich ausruhen.“
Ich muss sie finden, dachte der alte Mann. Wie war nochmal ihr Name? Seine Erinnerungen verschwammen immer mehr, er fühlte sich müde. Der Pfleger führte ihn in ein Zimmer, das aus einem Bett, einem Bücherregal und einem kleinen Schreibtisch bestand.
„Bitte, legen Sie sich hin. Ruhen Sie sich aus, ich schaue morgen früh wieder nach Ihnen.“
Der alte Mann krümmte sich auf dem Bett zusammen, der Pfleger breitete die Decke über ihn aus. Ich muss sie finden, dachte er ein letztes Mal, doch er hatte keine Erinnerung mehr an ihr Gesicht.