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Der Angler
Es war ein sonniger Tag, als Thomas in seinem kleinen Ruderboot sitzend die Angelrute auswarf. Mit einem dumpfen Plätschern fiel der Köder ins Wasser, kleine Wellen zogen sich kreisförmig um die Aufschlagstelle. Thomas lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er lauschte dem ruhigen Wind, der durch die Bäume des am See nahegelegenen Waldes schlich, den singenden Eisvögeln auf den Ästen und dem Fließen des kleinen Baches, dessen Wasser sich in den riesigen See ergoss. Er war mit der Welt im Reinen. Die Erinnerungen an die letzten Monate waren tief in den Schubladen seiner Gedanken verschollen, als wäre all das nie passiert. Du bist ein Meister im Verdrängen, Thomas, hatte Elisabeth einmal zornig zu ihm gesagt, doch im Moment war er sehr froh über diese Gabe. Während der Angler tief in seine Gedanken versank und dabei längst vergessenen Schubladen öffnete, setzte sich das kleine Boot von einer seltsamen, unsichtbaren Strömung geführt in Bewegung.
Thomas war nicht nur ein Meister im Verdrängen, sondern auch in seinem Beruf. Leider ist solch ein Meistertitel heute kaum noch etwas wert, wie er schmerzlich feststellen musste. Erst hatte er als Folge der Finanzkrise, die das Unternehmen, das ihn beschäftigte, langsam verschlang, immer weniger verdient, und am Ende wurde er, der sein halbes Leben dort gearbeitet hatte, vor die Tür gesetzt. Von Maschinen ersetzt, die mit ihrem Lärm einen Menschen bis in den Wahnsinn treiben konnten. Hier aber herrschte kein Lärm, der See war ruhig, beruhigend. Thomas, die Angel fest in der Hand haltend, schlief langsam ein. Ein Plumpsen im Wasser rüttelte ihn wieder wach. Thomas öffnete die Augen, schlaftrunken versuchte er die Ursache des Geräusches ausfindig zu machen. Er drückte seine Hand an den Griff, doch seine Finger gingen durch ihn hindurch. Er blickte verwirrt umher, bis er die Rute schließlich nicht weit von ihm im Wasser treibend fand. Sie hat sich befreit und ist auf und davon, dachte der Angler, dessen Angel sich immer weiter von ihm entfernte. Auf und davon, genau wie Elisabeth, kam es ihm plötzlich in den Sinn, doch diesen Gedanken verwarf er schnell wieder.
Seine Frau hatte es nicht mehr ausgehalten, anfangs stritten sie nur, meist weil Thomas spät und betrunken heim gekommen war, aber als er ihr beichtete, dass sie es finanziell nicht mehr schaffen würden, und Privatinsolvenz anmelden müssten, packte sie ihre Sachen und verschwand mitsamt ihrem kleinen Sohn. Während Thomas noch seinem Auto, seinem Haus und seiner Familie hinterher trauerte, hatte sie bereits einen anderen, einen, der Geld, ein Haus und ein viel teureres Auto hatte, als sich Thomas jemals hätte leisten können. Und jetzt bleibt mir nicht mal mehr meine alte Angel, dachte der Mann, der alles verloren hatte, nur weil er sein Leben lang blind gewesen war. Das kleine Ruderboot war mittlerweile von der Strömung an die tiefste Stelle des Sees geführt worden, dessen Grund bisher noch kein Mensch gesehen hatte. Zumindest keiner, der später davon erzählen konnte.
Thomas bemerkte endlich, wie weit er von seinem eigentlichen Angelplatz abgetrieben war. Seine Angel konnte er nirgendwo mehr sehen. Verdammter Mist, brummte er. Es pochte in seinem Schädel, und der Gesang der blauen Vögel auf den Ästen und das Rascheln des Windes zwischen den Blättern der nahegelegenen Bäume brachten ihm Kopfschmerzen. Während vom Grund der unendlichen Tiefe etwas - schleichend wie die Finanzkrise, bevor die Blase schlussendlich platze - nach oben schwamm, brüllte Thomas all seine Wut auf sich, seine Frau, seine Freunde, die ihn alle im Stich gelassen hatten, seinen Chef, der ihn gefeuert hatte, und auf die ganze Welt hinaus. Vom Lärm verschreckt flatterten die Vögel von den Ästen, der Wind wurde von dem Echo des Schreis übertönt, aus der Tiefe kam ein dunkler Schatten näher und näher, schneller und schneller. Plötzlich war es ruhig. Kein Laut mehr, keine Kopfschmerzen. Thomas lächelte. Sein Leben lang hatte er alles für andere getan, sich immer angepasst, schwer gearbeitet, um seine Familie durchzuschlagen, und jetzt war ihm nichts mehr geblieben, außer ihm selbst. Er lächelte. Er lächelte immer noch, als ihn etwas von unten mitsamt dem Boot in die Tiefe riss. Jetzt war er wirklich mit sich im Reinen.
Der Junge saß am Rand eines Sees, über den sich hier in der Gegend schaurige Geschichten erzählt wurden, von Leuten, die mit ihrem Boot über den See fuhren und nie wieder zurückkehrten. Gedankenverloren Löcher in die Luft starrend bemerkte er im Augenwinkel etwas näherkommen. Eine Angel trieb auf dem ruhigen Seewasser. Der Junge wartete, bis die alte Angel nahe genug war, dass er sie herausfischen konnte. Sie war alt und morsch, nicht mehr wert als der Müll von achtlosen Touristen, der ab und an ans Ufer geschwemmt wird. Die Achsel zuckend warf der Junge die Angelrute zurück in den See. Soll sie doch weiterschwimmen, bis sie jemand fand, dem sie gefiel. Der Junge kümmerte es nicht weiter, und als er an jenem Abend nach Hause kam, hatte er die Angel längst vergessen.