Der Anschlag
Es klopft an die Fensterscheibe des VW-Bullis. Erstaunt drückt der BGS-Mann die Schiebetür auf.
„Ja, bitte?“, fragt er die Frau, die neben dem Wagen steht.
„Ich bin Frau R.“
Der Polizist wartet ab.
Die Frau scheint nervös. Aufgeregt fragt sie: „Sie stehen doch hier zum Personenschutz von Herrn N.?“
Der Beamte reagiert immer noch nicht, schaut sie aber fragend an.
„Ich bin eine Nachbarin des Herrn Staatssekretärs und mir ist eine verdächtige Person aufgefallen.“
Der Uniformierte richtet sich interessiert auf. „Wo?“
„Sehen Sie dort den Busch, vorne im Vorgarten auf der anderen Straßenseite?“ Die Frau zeigt mit dem Finger in die Richtung. „Dort hinten sitzt ein verdächtiger Mann.“
„Danke, Frau N. Wir kümmern uns drum.“ Kurzerhand schließt der Beamte die Autotür und greift zum Walkie-Talkie.
„Heinz?“
Es knackt und rauscht. Dann antwortet der Kollege: „Ja?“
„Bist du im Vorgarten auf Position?“
„Natürlich. Was ist?“
„Schon gut“, beendet der BGS-Mann das Gespräch und grinst heimlich.
G. steuert im Schritttempo seinen alten Opel Kadett durch die Wohnsiedlung. Große Reihenhäuser mit kleinen Vorgärten wechseln sich ab mit kleinen Villen, deren parkähnliche Gärten mit grünen Hecken eingefasst sind.
‚Verdammt noble Gegend hier’, denkt der Fahrer und drosselt die Geschwindigkeit noch etwas, als er eine Querstraße erreicht. Er bremst ab und wirft einen Blick in die Sackgasse, die an einem Waldrand endet. Dort bemerkt er einen weißhaarigen Mann, der mit seinem Hund spazieren geht.
„Ha, da bist du ja. Das nenn ich Timing. Jetzt entkommst du mir nicht mehr“, murmelt G. Der Adrenalinspiegel in seinem Blut steigt. Er legt den ersten Gang ein, will gerade einbiegen, als er im Augenwinkel den grünen VW-Bulli bemerkt, der vor einem Haus parkt.
„So ein Mist.“ Wütend reißt G. das Steuer herum und fährt geradeaus weiter, bis er ein paar Hundert Meter weiter den Kadett wendet und am Bordstein parkt.
Dort wartet er einige Minuten ungeduldig, startet den Wagen erneut und fährt zurück zur Sackgasse. Mutig biegt er dieses Mal ein und atmet auf.
„Sie sind weg.“ Der Platz, auf dem das grüne Fahrzeug gestanden hat, ist leer. G. fährt weiter und hält vor einem allein stehenden Bungalow hinter einem Holzzaun.
Herrn N. sieht man seine Position als verantwortlicher Staatssekretär für Terrorismusbekämpfung nicht an. Er ist vom netten Mann von nebenan nicht zu unterscheiden, unauffällig gekleidet, das schlohweiße Haar streng nach hinten gekämmt. Seine fast viereckige, silberne Brille lässt ihn interessant wirken.
Doch dieser Mann besticht durch seine Arbeit, nicht durch sein Aussehen. Seitdem mehrere RAF-Terroristen in diesem Jahr in Ostdeutschland verhaftet worden sind, ist er zur Zielscheibe Nummer Eins geworden.
Herr N. steht im Wohnzimmer und telefoniert.
„Herr S.“, spricht er mit langsamer und ruhiger Stimme, „bemühen Sie sich nicht, ich fahre die kurze Strecke heute selbst.“
„Gibt es Probleme?“, fragt ihn seine besorgte Ehefrau, als er aufgelegt hat.
„Aber, nein, Liebes. Ich habe nur dem Chauffeur gesagt, dass ich selbst zum Ministerium fahre.“
G. sitzt wartend hinter dem Lenkrad seines Kadetts.
„Er wird kommen! N. wird kommen!“, knurrt er. G ist vorbereitet.
Frau R. muss den Vorgarten durchqueren, um zu ihrem Briefkasten zu kommen, der in dem kleinen Gartenmäuerchen eingelassen ist.
Sie ist erst drei Schritte gegangen, da hört sie in der Garage ihres Nachbarn den BMW anspringen. Zögernd setzt sie ihren Weg fort. Auf der Straße ist nichts zu sehen. Kurz vor dem Briefkasten springt ein behelmter Mann in Schutzkleidung auf sie zu. „Runter!“, ruft er und reißt die Frau nach unten auf den Boden.
„Was… was ist los?“, fragt diese erschrocken.
„Bleiben Sie bitte unten in Deckung“, ordnet der Sicherheitsbeamte an.
In diesem Moment schleicht der BMW aus der Garagenausfahrt, biegt in die Straße ein, nimmt dann rasche Fahrt auf.
„Sie können wieder aufstehen“, sagt der Mann und hilft Frau R. auf die Beine. „Keine Gefahr mehr.“
Ohne die zitternde Frau näher aufzuklären, dreht er sich um und läuft zu seinen Kollegen, die sich inzwischen auf der Straße versammelt haben.
Auch Herr N. sieht seufzend aus dem Wagenfenster, als er sein Grundstück verlässt.
‚So ein überflüssiger Blödsinn. Ständig diese Sicherheitskräfte im Nacken. Können die mich nicht einmal in Ruhe lassen?’, denkt er. Doch im nächsten Moment schweifen seine Gedanken schon wieder zu der Koordinationssitzung der Innenminister ab, die er in einer halben Stunde einberufen hat. Es ist schon viel Arbeit gewesen, die in letzter Zeit auf ihn zugekommen ist.
Herr N. setzt den Blinker und biegt in die Auffahrt zur Stadtautobahn ein, bremst kurz ab und schaltet herunter.
Dabei übersieht er den alten Opel Kadett, der am Standstreifen geparkt hat.
G. lächelt. Er schaltet den Zündsatz scharf.
Herr N. fährt an der aktivierten Lichtschranke vorbei.
Kurz darauf erfolgt die Explosion.
Die Luft ist erfüllt von Staub, Lärm, herumschwirrenden Metallteilen.
G. lächelt und nickt. „Jetzt habe ich dich endlich!“, lacht er höhnisch auf.
Sein Auftrag ist ausgeführt.
Frau N. hört jemanden an der Haustür.
„Ist da jemand?“, ruft sie aus dem Wohnzimmer.
Keine Antwort.
Leise schleichende Geräusche kommen aus der Eingangshalle.
Die Frau erhebt sich und blickt in den Flur.
Keiner da.
Dann vernimmt sie ein Knarren im Schlafzimmer.
Zögernd geht sie dem Geräusch nach. Die Tür ist nur angelehnt. Beherzt drückt sie sie auf.
„Du?“ Sie schaut erstaunt auf ihren Mann, der sich gerade ein anderes weißes Hemd überzieht. „Ich dachte du wärst im Ministerium?“
„Bin ich ja gleich wieder.“
Auf dem Bett liegt ein blutbeflecktes Hemd. Dann bemerkt sie den Verband am Arm ihres Mannes.
„Um Gottes willen, was ist passiert?“
„Ein herumfliegendes Metallteil hat mich am Arm getroffen.“
„Aber?“
Bevor sie Einzelheiten erfragen kann, spricht N. weiter: „Gott sei dank habe ich dem Fahrer abgesagt. Der Zündsatz ist auf der Beifahrerseite explodiert, wo ich normalerweise sitze.“
„Aber…?“
Ohne weitere Erklärungen hastet Herr N. aus dem Haus. Die Straße steht voll mit BGS-Fahrzeugen. Der Staatssekretär wird in wenigen Minuten am Tatort ein Interview geben.
Dieses Mal ist er ungeschoren dem Attentat entkommen. Jedenfalls fast ungeschoren.