Der Augenblick
Lange war ich auf der Suche nach einem Gebäude gewesen. Das Heriét Placa Hotel schien auf den
ersten Blick perfekt zu sein. Es stand etwas abgelegen am Stadtrand in einer ruhigen Gegend.
Ziemlich in die Jahre gekommen, wurde es nicht mehr oft gebucht. Doch dann war mir eine weitere
interessante Immobilie ins Auge gesprungen. Das Grand Station am alten Bahnhof hatte seinen
ganz eigenen Charme. Ein hohes Gebäude aus den 70er Jahren. Klassizistisch angehaucht, sah die
Fassade beinahe aus wie aus der frühen Kaiserzeit. Auf 8 Stockwerken hatten sich in den letzten
Jahrzehnten dort viele aberwitzige Geschichten abgespielt. Einige davon hatten es sogar in die
Spätnachrichten geschafft. Zum Glück waren es überwiegend negativ Schlagzeilen. Das erleichterte
die Sache natürlich erheblich. Ein solches Hotel wurde kaum noch gebucht. Wenig Gäste und hoch
genug war es auch noch. Ich war selbst ein paar mal dort gewesen. Doch das war lange bevor…
Ich fasste einen Entschluss und buchte ein Zimmer. Zwei Tage später. Dann war es also so weit.
Als ich am übernächsten Abend dort ankam, war es eine nasse Winternacht, wie sie im Norden
häufig vorkommen. Schneeregen, dazu ein starker Wind, als wollte etwas mich aufhalten. Doch
obwohl der Weg vom Auto zur Hotel-Lobby sich äußerst mühselig gestaltete und die Kälte mir
durch meinen langen schwarzen Mantel in jede Pore des Körpers kroch, lies ich mich von nichts
mehr davon abbringen. Der Portier starrte mich an, wie ich nass und durchgefroren durch den
Eingang stolperte. Ich nickte norddeutsch, freundlich und ohne viele Worte. Keine Reaktion. Nichts,
als würde er es ahnen.
Nachdem ich meine Zimmerkarte in Empfang genommen hatte, beschloss ich mich noch ein letztes
Mal an die schäbige Hotelbar zu setzen. In dem charmanten Stil der siebziger Jahre lag sie in einem
düsteren Raum in dem nur ein paar alte Funzeln den Raum auf eine beruhigende Art und Weise
beleuchteten, als würde es bereits dämmern. Bei dem Versuch den Barhocker etwas vom Tresen
abzurücken, stockte ich. War er am Boden verschraubt? Nein, der Boden klebte nur. Dem äußeren
Anschein nach, vermutlich seit den Siebzigern. Aber das machte jetzt auch keinen Unterschied
mehr.
Für das, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte, brauchte ich Mut. Da ich lange keinen mehr hatte,
hielt ich es für das vernünftigste, mir welchen zu machen. Mit einem beiläufigen Wink bestellte ich
zwei doppelte Jameson, ohne Eis, ohne Schnickschnack. Die wohltuende brennende Wärme, glitt
mir sanft den Rachen herunter und erfüllte beim ersten Schluck meinen ganzen Körper.
Irgendwann nach der zweiten Runde setze sich ein Mann recht nah neben mich an die enge Bar.
Auch er wirkte nass und etwas unterkühlt. Er bestellte Whiskey auf Eis. Was für ein Idiot. Während
die goldbraune Flüssigkeit vor ihm in sein Glas strömte und sich das schummrig warme Licht darin
brach, blickte er auf und bemerkte, dass ich ihn angestarrt hatte. Unhöflich grinste er mich an. Sein
dummes verschmitztes Grinsen passte zu seinem Whiskey-Geschmack. „Was für ein Wetter oder?“,
rief er lauter, als es hätte sein müssen, zu mir rüber. „So geht das schon seit Tagen. Unnötig, oder?“
Versuchte er mich zum Antworten zu bewegen. Ich nickte nur und wandte meinen Blick auf mein
Glas. Doch er lies es nicht bleiben. „Warten Sie noch auf jemanden? Sieht so aus, als wär ihr Eis
schon geschmolzen.“ Er deutete mit einem Fingerzeig auf meine Gläser. „Oh, nein, ich bin alleine.“,
entgegnete ich. Er konnte nicht wissen, welch tiefe Bedeutung dieser Satz für mich hatte.
„In einer Nacht wie dieser geht das nicht.“, beschloss mein Nachbar. „Könnten wir zwei Neue
haben?“, murmelte er dem Barkeeper entgegen. „Jameson; auf Eis natürlich.“ Bevor ich mich
dagegen wehren konnte, stand ein gut gefülltes Glas vor mir. Die Eiswürfel darin, wirkten
befremdlich.
Mein Nachbar rückte lächelnd mit seinem Hocker etwas näher. „So, nu erzählen Sie mal, wer sie
hier so alleine warten lässt.“ Es war dieser Augenblick, in dem ich mich entschied ihm zu
antworten. Wir redeten lange. Ich erzählte ihm Sachen, über die ich seit Jahren nicht mehr
gesprochen hatte. Nach einiger Zeit lachten wir sogar. Erst dachte ich, es käme durch den Alkohol,
doch dann erkannte ich, dass es die Wärme in mir war. Gegen drei Uhr wankte ich die Treppen
hinauf, statt aufs Dach, ging ich in mein Zimmer. Als mir am nächsten Morgen klar wurde, dass ich
nicht mal nach dem Namen meines neuen Freundes gefragt hatte, schien die Sonne.
C.Kipp