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Der Aussteiger
Tief sauge ich den Rauch in meine Lunge. Die Zigarette schmeckt nicht, aber der pelzige Geschmack auf der Zunge stört mich nicht. Wieder fällt der Blick auf die Narbe an meinem Arm. Bis heute weiß ich nicht genau, was diesen tiefen Schnitt verursacht hat. Ob es ein Stein oder eine Scherbe war, die an jener Stelle im Feld gelegen hatte, auf jeden Fall war die Haut nie wieder richtig verheilt. Eine Träne hinterlässt einen warmen Faden auf meiner Wange. Jener Abend hatte mein Leben verändert. Ich hätte es ihr nicht erzählt und, wenn doch, hätte ich niemals alles ausgepackt.
Leicht juckte meine Stirn. Es war ziemlich warm, obwohl es schon stockfinster war. Meine Kappe klebte bereits vor Schweiß. Dennoch behielt ich sie auf dem Kopf. Ich ging niemals ohne Kopfbedeckung joggen. Ich hatte noch nicht einmal die Felder erreicht und war schon ziemlich außer Atem. Mindestens ein BigPack hatte ich an dem Tag geraucht, heute würde ich nur die kurze Runde schaffen.
Ein leichtes Schmunzeln flog über mein Gesicht, als ich an den Grund dachte warum ich wieder mit Rauchen angefangen hatte. Nadja war eine Verführerin. Dieses kleine polnische Mädchen hatte mich vom ersten Tag an verzaubert. Ich liebte alles an ihr. Ihre tiefdunklen Augen, die pechschwarzen Haare, das freche Lächeln und ihre Art an ihr Leben heranzugehen. Sie ließ sich niemals aus der Ruhe bringen und nahm die Dinge wie sie kamen. Selbst ihre verhöhnende Art, wenn ich zum Sport ging, während sie mit einer Tüte Chips und einer Decke vor dem Fernseher blieb, war für mich nur ein Grund sie noch mehr zu lieben. Es gab nichts, was ich für diese Frau nicht getan hätte. Selbst mit dem Rauchen hatte ich für sie wieder begonnen. Sie fand es doof nach einer gemeinsamen Nacht alleine im Bett zu rauchen.
Endlich hatte ich den Stadtrand erreicht und überwand die Brücke über die Schnellstrasse. Ich mochte es nicht in der Stadt zu laufen. Ich kam mir lächerlich vor, wenn ich mich keuchend und schwitzend an den Passanten vorbei schob. Zudem hatte Nadja sich oft über meinen Laufstil lustig gemacht. Sie meinte, so könne ich mich doch nicht auf der Strasse zeigen.
Der Boden wurde weicher. Es hatte viel geregnet in den letzten Tagen und die Landwirte hatten viel Erde auf den Feldweg getragen. Ich mochte das, so lief es sich angenehmer. Automatisch erhöhte ich die Geschwindigkeit.
Weiter hinten kreiste ein Lichtpegel. Wahrscheinlich brachte noch ein Landwirt seine Ernte ins Lager. Das war Abends oft so. Ich lief immer hier, zweimal die Woche. Immer Montags und Donnerstags, immer um zehn Uhr Abends. Da kam sowieso nur Frauenkram im Fernsehen.
An der ersten Kreuzung bog ich ab. So lief ich parallel zur Stadt und hatte wenigstens ein bisschen Licht. An diesem Tag war es noch dunkler als sonst, einzig mein weißes Shirt wurde von den entfernten Lichtern hinter der Schnellstrasse erhellt.
Erneut erhöhte ich die Geschwindigkeit. Die Lichtkegel waren in meine Richtung gebogen und ich wollte nicht überholt werden. Sicher wollte der Fahrer zum Aussiedlerhof. Ich musste vorher wieder zur Stadt abbiegen. Mit etwas Tempo würde ich längst in die entgegengesetzte Richtung unterwegs sein, bevor der Fahrer mich und meinen komischen Laufstil sehen konnte.
Die Lichter näherten sich schnell. Zu schnell für einen Traktor. Ich verlangsamte meinen Lauf und blieb am Feldrand stehen. Ich würde kurz durchschnaufen und das Auto vorbeilassen. Ich zog meinen Mp3-Spieler und versuchte beschäftigt auszusehen, während mich der Lichtpegel zunehmend erfasste. Der Wagen verlangsamte seine Fahrt und blieb vor mir stehen.
Überrascht trat ich einen Schritt auf das Auto zu und beugte mich zu dem geöffneten Fenster. Mein Herz übersprang einen Schlag, als ich in die bösartig grinsenden Gesichter blickte.
„Schnapp dir die Sau“, schrie der Fahrer und die Hand seines Nebenmannes krallte sich in mein Shirt. Erschrocken warf ich mich zurück, taumelte ein paar Schritte in das Feld und geriet ins stolpern. Beinahe im gleichen Moment war ich wieder auf den Beinen und rannte los. Quer durch das Feld. Hinter mir hörte ich die Türen aufgehen. „Bleib stehen du feiger Nazi“, rief einer meiner Verfolger.
Sie hatten mich wieder gefunden. Schon vor ein paar Monaten wollten sie mich erwischen. Ein paar Wochen bevor ich Nadja kennen gelernt habe. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits aus der Partei ausgestiegen, aber auf der Liste der Antifa stand ich immer noch. Mit mehr als zwanzig Leuten haben sie meine damalige Wohnung belagert. Die Polizei konnte nichts machen. Angeblich würden sie doch nur ein Bier trinken. Mehrere Tage hatte ich das Haus kaum verlassen und mir letztendlich eine neue Wohnung gesucht.
Bei der ersten Begegnung mit Nadja hatte ich der Szene bereits endgültig den Rücken gekehrt. Ein paar der alten Jungs traf ich noch hin und wieder, aber sie akzeptierten meinen Ausstieg. Immerhin waren wir schon seit der Schulzeit befreundet. Nadja wusste nichts von meiner Vergangenheit.
Ich musste alle Konzentration aufwenden um auf dem unebenen Boden nicht zu fallen. Langsam schwanden meine Kräfte und das Keuchen hinter mir wurde lauter. Nach einer kurzen Verfolgung packte mich eine Hand und riss mich zu Boden. Im Sturz ergriff ich seinen Arm und zog ihn mit mir. Hart schlugen wir auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Arm. Dennoch brauchte ich nur einen kurzen Moment um wahrzunehmen, dass wir die anderen Verfolger ein Stück hinter uns gelassen hatten. Sie johlten.
Als sich mein Peiniger auf mich werfen wollte, schlug ich ihm meinen Ellenbogen ins Gesicht. Ein dumpfer Schlag und er sackte benommen zurück. Sofort war ich über ihm und trommelte ihm meine Faust auf den Schädel. Da war es wieder. Dieses unglaubliche Gefühl, dieser unbeschreiblich Adrenalinschub. Ich hatte mich lange nicht mehr geprügelt, doch es war sofort wie immer. Wieder und wieder krachten unsere Knochen aufeinander. Es mag seltsam klingen, aber ich genoss den Moment. Die anderen waren vergessen, diesen einen würde ich bestrafen.
Dann waren sie über mir. Es hagelte Tritte und Schläge. Ich schaffte es auf die Beine zu kommen und ging den nächsten an. Erschrocken über meine Gegenwehr wich er zurück. Ein harter Gegenstand donnerte mir in den Rücken und ich sackte zusammen. Handlungsunfähig lag ich am Boden und versuchte mich möglichst gut vor den hasserfüllten Attacken zu schützen. Wie lange sie auf mich einschlugen weiß ich nicht mehr. Irgendwann ließen sie von mir ab und verschwanden.
Mehrere Stunden lag ich regungslos im Feld und heulte. Einzig begleitet von dem leisen Brummen meines Mp3-Spielers. Er lag irgendwo neben meinem Kopf und spielte unablässlich „Touch me“, mein Jogginglied.
Als die Schmerzen langsam von mir wichen stand ich auf und schleppte mich nach Hause. Den Spieler ließ ich liegen.
Nadja machte sich bereits Sorgen. Liebevoll versorgte sie meinen geschunden Körper. Sie stellte viele Fragen. Ich schwieg. Über eine lange Zeit hinweg schwieg ich. Erst nach vielen Jahren erzählte ich ihr den wahren Grund des Überfalls. Es war der letzte Abend unserer bis dahin so harmonischen Beziehung. Ich weiß nicht ob es meine Vergangenheit als Parteimitglied war oder die Tatsache, dass ich es ihr so lange verschwiegen hatte.
Mein Herz ist gebrochen, für immer !