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Der böse Niemand
Der böse Niemand
Es sind immer die Irrlichter, die Jonna sieht, wenn sie die Augen schließt. Nie wird es dunkel um sie. Sie wünscht sich nur die Schwärze der Nacht zu sehen, aber der Sternenstaub des Universums prickelt auf ihrer Netzhaut. Explodiert unter ihren geschlossenen Lidern als ein Feuerwerk. Sie sieht wie die Elemente aufeinander zurasen, und miteinander verschmelzen. Sieht kaltes Feuer, eins das verzehrt, aber nicht wärmt. Blau ist seine Flamme.
„Herzlich Willkommen, Jonna“, sagt Herr Reich.
Er spricht auch im Namen der Kollegen, die Jonna`s Hand schütteln, als sei es kein Körperteil, sondern der Hebel eines einarmigen Banditen.
„Danke, meine Herren“, antwortet Jonna. Sie ist ein wenig verwirrt. Hat keine Ahnung, warum diese Männer in einem Halbkreis um sie herumstehen. Vorsichtig rollt sie mit den Augen, um ihre Umgebung zu scannen.
Offenbar befinde ich mich in einem abgeschlossenen Raum.
„Das müssen wir bei einem Gläschen Sekt feiern“, freut sich Herr Reich, winkt einem jungen Mann zu, der zuvor eine grüne Flasche in Kopfhöhe geschwenkt hat.
Jonna erschrickt, als er die Flasche mit einem lauten Knall öffnet.
Dieser Raum ist mit Luft gefüllt.
Aufmerksam betrachtet sie den Mann, der vor ihr steht und den anderen jeweils ein Glas überreicht. Sie spürt seine Wärmestrahlung und sie sieht wie er Luft durch zwei winzige Öffnungen im Gesicht zieht und wieder ausstößt. Sie fasst an ihr Gesicht, fühlt mit den Fingern ebensolche Löcher.
Sie atmen. Ich nicht.
„Auf Jonna!“, prosten die Männer sich zu. Trinken, sehen dabei auf Jonna, die abseits steht.
Jonna, studiert derweilen die Bilder, die an der Wand hängen. Eins zeigt einen blauen Planeten. Darunter eine Inschrift: Erde. Wir haben nur die eine. Bewahrt sie euren Kindern.
Erde?
Jonna hört den Männern zu. Wenn jedes Wort stimmt, was sie sagen, ist sie eine Maschine. Sie kann es Ihnen nicht verdenken, denn sie glauben, sie erschaffen zu haben. Jonna hat schon mehr unwahrscheinlichere Dinge, als diese Herren hier wissen, erfahren. Aber das ist nicht der Punkt, um den es Jonna geht. Sie überprüft kurz ihre Speicherkapazitäten.
Der Punkt, um den es geht, ist: Sie hat ein Bewusstsein.
„Verdammt, Süße komm!“
„Ich mag das nicht.“
„Komm meine Kleine!“
„Es... du.. lass mich los!“
„Schätzchen, ich hab dich doch lieb.“
„Ich bin erleichtert, dass unser Projekt so erfolgreich verlaufen ist“, raunt Herr Reich seinem Sitznachbarn zu.
Die Männer sitzen im großen Plenarsaal.
„Ja“, antwortet dieser. „Zunächst hat es so ausgesehen, als würde unser Land wirtschaftlich komplett zusammenbrechen.“
„Unsere Entwicklung ist der Durchbruch!“ Herr Reich reibt sich die Hände.„Sogar an die Folgekosten haben wir gedacht. Die HIV- Vorsorgeuntersuchungen entfallen gänzlich. Die Wunden im After- und Gentialbereich verheilen durch ein Fehldiagnoseprogramm, das der Roboter selbständig einleiten kann.“
„Meinen Sie, dass wir auf Widerstand in der Bevölkerung treffen?“, fragt sein Sitznachbar besorgt. Er ist noch nicht lange im Geschäft.
„Keine Akzeptanz? Sie scherzen.“
„Ich meine bloß.“
Herr Reich ist verärgert. „Was wollen Sie andeuten?“
Der junge Mann schüttelt seinen Kopf. Er ist ein Reaktionär, sammelt seinen Mut zusammen, sagt: „Es ist so... menschenunwürdig.“
„Junger Mann“, antwortet Herr Reich. „Bei allem Respekt vor ihrer Moral. Glauben Sie, wir hätten das Problem der Massenarbeitslosigkeit in den Griff bekommen, wenn wir nach der Menschenwürde gefragt hätten? Graue Märkte zu liberalisieren und die Chancen daraus zu nutzen ist nur ein Geschäft.
Selbst Entwicklungsländer wie Indonesien haben uns vorgemacht, wie man aus wirtschaftlicher Not eine Tugend machen kann.“
„Indem man die eigenen Kinder verkauft? Es gibt doch Verhütungsmittel!“
Der junge Mann verzieht sein Gesicht. In seine Stimme mischt sich Abscheu. Reich zuckt mit den Schultern.
„Die haben wir auch eingesetzt, aber nur um den Markt vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen. Ich garantiere Ihnen: Unsere Ware ist gefühlsecht. Selbst Skeptiker wie Sie...“
„Wie das?“, unterbricht ihn der junge Mann.
Reich bleckt seine Zähne. Ein wohliger Schauer durchrieselt ihn, als er sich an den knabenhaften Körper erinnert. So zierlich, schmächtig und...schwach.
„Wir übertragen auf menschengetreu nachgebildete Maschinen autentische kindliche Erfahrungsmuster und Verhaltensweisen.“
„Vielleicht haben Sie Recht“, flüstert der junge Mann nun etwas bleich geworden. Reich hört ihm nicht mehr zu. In seinem Bewusstsein ist er ein Gewinner. Er war groß. Mächtig. Für Zweifel hat er keine Zeit. Es sind Roboter. Sie haben kein Gesicht. Ohne Gesicht existiert niemand.
Jonna fühlt, wie ihr schlecht wird. Sie wünschte, es würde endlich dunkel werden, aber das Wesen vor ihr bleibt unerbittlich. Sie fühlt, wie etwas in ihr explodiert, sieht wie ein Gesicht auf sie zurast.
Es ist Niemand.