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Der Beobachter aus dem Nebel

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03.10.2020
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Anmerkungen zum Text

Meine Debütgeschichte nach ca. 11 Jahren schreibtechnischer Abwesenheit. Schon allein deshalb war ich mir unsicher, ob ich sie einstellen soll und sie ist wohl auch etwas zu lang für in das Forum. Trotzdem will ich mein Glück versuchen und euch nicht mit meinem alten Stoff langweilen. Erste überarbeitete Fassung.

Der Beobachter aus dem Nebel

Jemand klopfte aufgeregt an die Tür.
Arthur befreite sich aus den Wirrungen des Textlabyrinths vor ihm und betrachtete die gigantische Pendeluhr an der gegenüberliegenden Wand. Ihre metallenen Zeiger standen exakt auf Neun und Zwölf. Im Zimmer roch es nach dem Rauch aromatischer Zigarren, das helle Licht einer Glühfadenlampe brach sich in dem edlen Kristalldekanter auf dem Tisch. Bücherregale türmten sich hinter ihm auf, märchenhafte Kolosse, die das Wissen eines ganzen Jahrtausends in ihren Eingeweiden vereinten. Die hölzernen Bantu-Masken starrten ausdruckslos auf ihn herunter, als warteten sie auf eine Reaktion.
Der Single Malt, den er während des angestrengten Lesens aus einem bauchigen Glas genippt hatte, fachte seinen Hunger an, doch der schwere Wälzer vor ihm auf dem Tisch hielt seinen Geist gebannt. Wie jeden Abend hatte sich Arthur in sein Lesezimmer zurückgezogen. In seine wundervolle, ihm heilige Bibliothek, in der er Bücher hütete, die älter und seltener waren, als so manch wissenschaftliche Sammlung es von sich behaupten konnte. Heute hatte er sich das sechste Kapitel in Keltermanns Grundlagen der Thermodynamik vorgenommen und der abrupte Unterbruch kam ihm deshalb sehr ungelegen.
Für ihn war geschriebene Prosa das wahre Gold, die Sprache selbst lag ihm dagegen eher wie ein zu scharf geratenes Gewürz auf der Zunge. Dazu kam, dass er sich stets kurz und knapp hielt, als wolle er keine unnötigen Silben verschwenden.
„Ja?”, ließ er verlauten und eine leise Wut lag in dem schlichten, einzelnen Wort begraben.
Seiner Frage folgend wurde die Tür aufgestoßen und Hugo stand in ihrem Rahmen, trat von einem Bein auf das andere und wagte sich erst nicht, irgendetwas zu sagen. Arthur seufzte und zog theatralisch eine Augenbraue nach oben. „Was ist denn?”
Zögernd hob Hugo den Kopf. Sein Gesicht war eine Kraterlandschaft, von Akne zerfressen. Blondes Haar stand ihm in wilden Büscheln vom Kopf ab.
„Magda. Sie ist verschwunden, Sir.”
Er schien sich unter dem strengen Blick Arthurs unsicher, ob er fortfahren oder die Worte im Raum stehen lassen sollte. „Sie hat sich vor zwei Stunden aufgemacht, ihre Tochter zu suchen”, fügte er schließlich an, als dieser darauf nichts erwiderte.
„Was soll das, Hugo?”, fragte Arthur und blinzelte überrascht. „Wir wissen doch beide, dass du Unfug erzählst. Außerdem ist es gerade erst Neun und zum Abendessen dauert es noch ein paar Minuten, wieso also störst du mich?”
„Es tut mir sehr leid, Sir. Ich dachte, ich erzähle es Ihnen, damit Sie es von mir erfahren und sich nachher beim Essen nicht fragen, wo sie abgeblieben ist. Weil wie es aussieht, kommt sie nicht zurück. Gregor wird das Abendmahl selbst servieren müssen.”
Arthur schüttelte den Kopf. „Was ist passiert?”
„Magda ist fortgelaufen. Sie sagte, dass sie ihr Kind suchen müsse und war ganz nervös und aufgekratzt. Irgendetwas scheint ihre Seele aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben, sie ist doch sonst so ein tapferes Mädchen. Ist einfach fortgelaufen! Sie glaubte, ihre Tochter schreie nach ihr und deshalb wollte sie ins Dorf gehen.”
Arthur räusperte sich geräuschvoll, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ihre Tochter ist tot, Hugo!”, platzte er heraus und schlug mit der Faust auf die Tischoberfläche. Staubteilchen wirbelten im Licht wie ein aufgescheuchter Schwarm winziger Insekten. „Rede keinen Unsinn!”
Unter dieser aggressiven Eruption fuhr Hugo zusammen, als prassle ein eiskalter Regenschauer auf ihn nieder. Er wusste, die nächsten Worte würde er mit Bedacht wählen müssen, um Arthurs Zorn in seiner sensiblen Waagschale balancieren zu können.
„Verzeihen Sie, das ist mir bewusst, Sir. Ich kann mich noch gut an die Beerdigung erinnern. Es war eine sehr schwere Zeit für Magda, doch sie hat es insgesamt gut verdaut. War sie doch stets so fröhlich in letzter Zeit! Und nun dies … Ich kann es mir nicht erklären, sie muss verrückt geworden sein.”
„Hast du jemanden losgeschickt, um sie zu suchen?”, fragte Arthur und kratzte sich am Kopf. Er ergriff den Einband vor sich und schlug das Buch zu, dann erhob er sich aus seinem feudalen, fellbekleideten Sessel und starrte Hugo gnadenlos nieder. Ein boshaftes Funkeln brannte in seinen Augen, als würde ihn die Unsicherheit des Bediensteten amüsieren.
„Nein”, antwortete Hugo hastig.
„Wieso bist du nicht selbst losgegangen?”
„Ich getraue mich nicht, Sir. Dort draußen ist etwas …”, begann Hugo, unterbrach sich dann aber und machte eine wegwerfende Handbewegung, als wolle er einen düsteren Gedanken beiseiteschieben. „Seit dem späten Nachmittag ist ein dichter Nebel aufgezogen und hat das Haus verhüllt. Eine graue, undurchdringliche Wand. Sehen Sie doch selbst nach, Sir! Glauben Sie mir, da will niemand raus, bei diesem Wetter …”
Arthur schob den Sessel zurück und schritt über die polierten Dielen zu den großen Fenstern hinüber, deren Glas hinter schweren, kunstvoll bestickten Vorhängen verborgen lag. Auf den dunkelblauen Baumwollstoff war mit Goldfaden ein Globus aufgetragen, rund um ihn herum befanden sich Runen und Zeichen, in einer scheinbar weltfremden Sprache. Bevor er an der Kordel zog und das Bild in dessen Mitte durchtrennte, warf er Hugo einen finsteren Blick zu.
Danach wandte er sich ab und starrte erwartungsvoll in die Nacht hinaus.
Dort draußen waberte tatsächlich ein bleicher, undurchsichtiger Dunst, so dicht, als könnte man ihn mit einer Axt zerteilen. Fetzen von Finsternis schwammen wie Meeresungeheuer in dessen grauen Untiefen. Das Glas der Fenster war reifbeschlagen. Seit einem Monat hielt der Winter das Haus in seiner kalten Umarmung umklammert und würde es die kommenden Wochen nicht mehr freigeben.
Nach einer kurzen Zeit des Grübelns drehte sich Arthur um.
„Geh runter und hilf Gregor”, brummte er abschätzig in seinen Bart. “Ich komme gleich nach. Das Flittchen suchst du meinetwegen morgen früh.”
Hugo verschwand lautlos aus der Tür und Arthur stand alleine da, umgeben von seinen Büchern, den afrikanischen Masken und einer unheilvollen Stille. Nur sein Magen knurrte wie ein hungriges Tier.

* * *

Er rauschte die Treppe hinunter, sein aufgestauter Zorn noch nicht vollends verraucht, bog links ab und betrat den Speisesaal. An den Wänden hingen prachtvolle Gemälde mit Landschafts- und Jagdmotiven, welche vom Licht der Kandelaber in ein sagenumwobenes Ambiente getaucht wurden. Sein Abendessen bevorzugte Arthur stets bei Kerzenschein einzunehmen, ihm gefiel die mysteriöse Atmosphäre, die diesen Raum schmückte. Als würde er hier einflussreiche und wohlhabende Persönlichkeiten vergangener Epochen empfangen und sich mit ihnen bei Speis und Trank über alte, wertvolle Bücher austauschen.
Doch an diesem Abend war der lange Esstisch leer, nur am Kopfende stand ein Weinglas, in eine schneeweiße Serviette gerollt lagen Messer und Gabel fein säuberlich daneben. Arthur ging hinüber und ließ seine Handfläche über den Tisch gleiten. Ein Erbstück, gefertigt aus einer uralten Eiche der Wälder Schottlands, das von einer kunstvollen Maserung im Holz gekennzeichnet war.
Geräuschvoll ließ er sich auf den Stuhl fallen, faltete die Hände kurz zum Gebet, obwohl er nicht zu Gott sprach. Vielmehr war dieses Ritual ein Überbleibsel aus seiner Kindheit, hatten ihn die Eltern doch streng gläubig zu erziehen versucht. Daran waren sie aber bereits früh gescheitert, Arthur wollte sich niemandem unterordnen, keinem heiligen Geist und vor allem keinem Vormund. Er hatte seinen eigenen Kopf durchgesetzt - wenn nötig mit der dafür angemessenen Gewalt - und eine steile Karriere als Kolonialwarenhändler eingeschlagen. Vor allem bei edlen Gewürzen, orientalischem Kaffee und geschnitztem Elfenbein bewies er ein überaus glückliches Händchen, verschaffte sich so einen wohlbekannten Namen unter zwielichtigen Gestalten. Neue Kontakte knüpfte er hauptsächlich während seiner ausschweifenden Reisen, von deren Abenteuer er überschwänglich in ellenlangen Briefen an seine wenigen Freunde berichtete.
Er begann, Kredite an die Ärmeren auszugeben, wobei er Wucherzinse verlangte, bei denen dem Dorfrat die Haare zu Berge standen. Trotzdem gingen ihm genug verlorene Seelen auf den Leim. Sein rücksichtsloses Handeln hatte ihm über die Jahre den Ruf eines gefährlichen Halsabschneiders eingebracht. In kurzer Zeit hatte er ein großes Vermögen angehäuft, mit dessen Hilfe sich heikle Angelegenheiten rasch und ohne Aufsehen zu erregen aus der Welt schaffen ließen. Reden ist Silber, Schweigen kostet Gold, so pflegte er das bekannte Sprichwort zu vergewaltigen.
Auch unter seinen Bediensteten genoss er nicht den besten Ruf, doch waren ihm diese, aus Mangel einer anderen Beschäftigung, bisher alle treu ergeben. Außer Magda! Wo steckte dieses Teufelsweib bloß?
Arthur schüttelte die Gedanken ab und nahm eine Bewegung in seinem Augenwinkel wahr.
Das Bild unten links an der Wand, ein Ölgemälde eingefasst in ein Edelholz aus Äthiopien, zeigte ein Jagdstillleben des 18. Jahrhunderts. Es war zum Leben erwacht! Das Hunderudel fletschte seine Zähne, er konnte ihr wütendes Knurren hören und die Knopfaugen brannten rot vor Hass. Ihr Herrchen hatte ihn mit einer langläufigen Flinte aufs Korn genommen. Bumm!
Arthur zuckte zusammen, als Gregor krachend die Flügeltüren zur Küche aufstieß. Strammen Schrittes kam er um den Tisch herum. In den Händen trug er eine silberne Servierhaube, die im Kerzenlicht ein verzerrtes Bild des Raumes spiegelte. Diese setzte er wortlos vor Arthur ab und hob sie danach am Knauf nach oben. Dampf stieg aus dem Teller empor. Gestampfte Kartoffeln und ein saftiges Stück Rindfleisch lagen darauf, garniert mit rotem und grünem Gemüse. Eine Sauce Hollandaise rundete die Mahlzeit ab. Der Koch goss ihm aus einer Flasche mit verschnörkeltem Goldetikett Wein in das Glas, ein edler Tropfen aus seinem umfangreichen Kellerlager.
„Einen guten Appetit, wünsche ich ihnen, Sir”, sagte Gregor, wobei er die Fußhacken zusammenschlug, als würde er salutieren. Darauf entfernte er sich eilig.
Arthur nahm Messer und Gabel zur Hand und begann zu essen. Nach ein paar Bissen ließ er beide Werkzeuge fallen und verzog das Gesicht. Hatte dieser verdammte Koch das Salz vergessen? Eine solche Unverfrorenheit war ihm noch nie unterlaufen, in seinen sieben Jahren in Arthurs Dienst! Was war heute los mit diesen schusseligen Deppen?
Er konnte nichts weiter essen, das pampige Fleisch und das geschmacklose Gemüse ekelten ihn an. Obwohl das Mahl optisch tadellos aussah, beleidigte es seinen verwöhnten Gaumen. Der Kartoffelstock dampfte vor sich hin und als Arthur sich über den Teller beugte, stieß er ihn kurz darauf mit einer angewiderten Bewegung von sich. Ein süßlich-fauliger Verwesungsgeruch blieb in seiner empfindlichen Nase hängen.
Wie elektrisiert erhob er sich und schluckte im letzten Moment einen Wutschrei hinunter. Schnellen Schrittes ging er auf die Flügeltüren zu, hinter denen Gregor nach dem Servieren wieder verschwunden war. Er fand den Koch in der Küche vor, dieser hatte ihm den Rücken zugewandt und beschäftigte sich mit dem Abwasch.
„Was soll das?”, verlangte er mit donnernder Stimme zu wissen und trat gegen eine alte Pfanne, die scheppernd über den Pflasterboden schlitterte. Aufgeschreckt drehte sich Gregor um und rang mit den Händen.
„Was haben Sie denn, Sir? Ist irgendetwas nicht in Ordnung?”
„Das Essen ist völlig fad, es hat keinerlei Geschmack!”, fauchte Arthur erbost und betrachtete die glänzende Glatze des Kochs. Eine dunkelrote Narbe zog sich vom rechten Wangenknochen bis dorthin, wo der Haaransatz gewesen wäre und verunstaltete sein kantiges Gesicht.
„Du hast die Gewürze vergessen oder was weiß ich! Die Kartoffeln stinken nach toten Ratten! Eine Frechheit, mir sowas vorzusetzen!”
„Sir, ich habe gekocht wie immer. Nach dem Rezept aus einem ihrer Bücher. Ich habe die Instruktionen haargenau befolgt. Es würde mich zutiefst verwundern, wenn es so abscheulich schmeckt, wie Sie behaupten.”, antwortete Gregor nervös. „Alles ist wie immer. Ich weiß doch, wie Sie ihre Mahlzeiten mögen und würde Sie nie enttäuschen.”
„Halt dein Maul!”, verlangte Arthur. „Hast du überhaupt probiert? Na los doch, überzeuge dich selbst. Vergiften willst du mich!”
Zögerlich nahm der Koch die Eisenpfanne vom abgekühlten Herd und steckte einen Finger in die verbliebenen Reste. Danach führte er diesen zum Mund und probierte, wobei sein Gesicht einen überraschten Ausdruck annahm.
„Das ist köstlich!”, stieß er aus. „Ein ausgewogenes Aroma von Weißwein und Pfeffer! Wie können Sie das nur verschmähen, Sir!”
Gregors Worte änderten sich schlagartig, als der kalte Blick Arthurs ihn traf. Ein flehender Unterton schlich sich in seine Stimme, als er fortfuhr: “So etwas ist doch noch nie passiert. Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, was mit dem Essen nicht stimmen könnte.”
„Bring das verdammt nochmal in Ordnung!”, blaffte Arthur und ein Spukeregen sprühte aus seinem verzerrten Mund hervor.
„Wie konntest du zulassen, dass sich Magda aus dem Staub macht?”, fügte er herrisch an, jetzt da das Feuer der Wut sich zu einem Flächenbrand entwickelt hatte. Gregor zuckte zusammen und scharrte mit den Füssen über den Boden.
„Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist, Sir. Sie ist einfach in einem unbedachten Moment entwischt! Wollte ins Dorf, zu ihrer Tochter” -
„Wir wissen beide, dass die vor drei Jahren während dieser verdammten Dürre verhungert ist”, stellte Arthur klar und fauchte wie ein Tiger. „Also erzähl mir nicht denselben Schwachsinn wie Hugo!”
„So ist es aber geschehen”, antwortete der Koch möglichst besonnen, was ihm allerdings deutlich misslang. „Sie hat es vor sich hingemurmelt, wie ein Mantra. Ich muss meine Tochter finden. Sie ist alleine da draußen im Nebel. Ich muss ihr helfen. Hört ihr denn nicht wie ihre Schreie durch die Nacht hallen? Mindestens eine Stunde lang hat sie mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht diese Worte wiederholt. Wir haben uns große Sorgen gemacht, konnten ihr jedoch nicht helfen. Das Mädchen war so bleich geworden und schwitzte in kalten Fieberschüben! Wir haben versucht sie zu beruhigen, haben ihr Tee eingeflößt und ihr einen Nackenwickel gemacht, doch das half alles nur halbwegs. Dann ist sie plötzlich wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen und zur Hintertür hinausgestürmt, in diesen komischen, alles verschlingenden Nebel hinein. So war es, Gott sei mein Zeuge!”
Einen Moment lang herrschte Stille im düsteren Zwielicht der Küche. Die Aromen köstlicher Gewürze schwängerten normalerweise diesen Raum, doch Arthur roch nur abgestandene Luft und sein Magen knotete sich schmerzvoll zusammen.
„Sag mir Bescheid, wenn du anständig gekocht hast!”, stieß er hervor. Nach kurzem Überlegen verlangte er mit vor Misstrauen triefender Stimme zu wissen: „Und seit wann hast du diese fiese Narbe im Gesicht?!”
Eine Antwort wartete er nicht ab, sondern machte kehrt und stürmte verstört aus dem Raum.
„Bin beim Kartoffel schnippeln abgerutscht”, rief ihm der Koch lachend hinterher. Arthur hielt kurz inne. Hatte er das wahrhaftig gehört? Hatte sich Gregor gerade über ihn lustig gemacht? Doch dann erklomm er wie ein Betrunkener in Rage die Stufen und vergaß den Koch, jetzt hatte er nur noch seinen Single Malt im Kopf und musste seine Gedanken neu ordnen. Ein Chaos! Schwungvoll riss er die Türe zu seiner Bibliothek auf und erstarrte. Auf dem Tisch saß Hugo und stopfte sich genüsslich die zerrissenen Seiten von Keltermanns Grundlagen der Thermodynamik in den Mund.

* * *

„Aufhören, verdammt nochmal!“, schrie Arthur, vollends außer sich.
Hugo fuhr im Schneidersitz herum, kauend und mit Papier zwischen den Zähnen. Die ganzen Backen hatte er sich vollgestopft. Schmatzend weichte er die Seiten mit seinem Speichel zu einem Brei auf, der ihm dickflüssig von den Lippen tropfte.
„Köstlich ...“, brabbelte er und spuckte aus. In seinen Augen lag die Unschuld eines vergnügten Kleinkinds, aufgespießt von Arthurs stechendem Blick. Doch zu dessen gleißender Wut hatte sich eine leise Verzweiflung gesellt, die seine Gedanken befiel und zusehends an Nährboden gewann. Mit erhobenen Fäusten tobte er Hugo entgegen: „Du elender Narr! Willst du mich verschaukeln? Was erlaubst du dir! Hör sofort auf, meine Bibliothek zu besudeln!“
Hugo duckte sich verängstigt, als Arthur wie eine wildgewordene Furie auf ihn losstürmte. Anstatt auf ihn hinunter, ließ dieser seine Fäuste jedoch vor ihm auf die Tischplatte krachen. Am liebsten hätte er ihm seine Nase zu einem blutigen Brei gehauen, hielt sich aber aus einem unerfindlichen Grund zurück.
„Runter!“, zischte er wie eine Giftschlange, seine Augen sprühten vor Zornesfunken und Hugo glitt wie ihm geheißen von der geschliffenen Mahagoniplatte, wobei er um ein Haar den Glasdekanter und die Whiskeyflasche mit sich herunter fegte.
Verlegen spuckte er den Rest des Breis neben sich auf den Boden und hielt seinen Blick gesenkt, scheinbar bereit für jede Strafe, die über seinem reuigen Haupt verhängt werden mochte.
„Raus mit dir, du elender Wurm!“, herrschte Arthur ihn an und ließ seinen ausgestreckten Arm nach oben schnellen wie einen Speer. Sein Finger zeigte auf die geöffnete Tür. Sabber lief ihm aus dem Mund und geistesabwesend wischte er sich mit dem Hemdsärmel über die Lippen. „Sofort! Beweg dich!“
Hugo ließ seinen Blick zur Tür wandern und drehte sich dann wieder zu seinem Herrn um, trotz der klaren Anweisung verunsichert, was er tun sollte. Letztendlich schüttelte er den Kopf und erwiderte mit sanfter Stimme: „Nein, Sir. Ich kann jetzt nicht gehen. Der Nebel ist immer noch da.“
Für einen Moment war Arthur so verdutzt über diese Worte, dass er nahezu seine Anspannung vergaß. Nichts ergab mehr einen Sinn. Nicht die anderen verloren den Verstand, sondern er selber schien an einer geistigen Umnachtung zu leiden! Wie waren die Geschehnisse des Abends sonst erklärbar? Er musste diesen Frevler rauswerfen, jetzt gleich. Völlig egal, was das Schicksal noch für Überraschungen bereithielt!
„Thompson!“, schrie er mit schriller Stimme, die ihn selbst zutiefst erschreckte. „Komm sofort hoch und hilf mir!“
Sein Nachtwächter war kräftig und würde mit Hugo kurzen Prozess machen. Normalerweise tauchte er jeden Tag um sechs Uhr auf, pünktlich mit der Dunkelheit im Schlepptau. Somit musste er da sein, auf seinem Posten unten an der Haupttür. Wahrscheinlich lehnte er gerade in seiner typischen Pose an einer der Marmorsäulen und rauchte eine der billigen Zigaretten, von jenen man Löcher in der Lunge bekam.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, während denen Hugo in Arthurs Blick vergeblich nach einem Anzeichen von Gnade suchte, und auf der Treppe war das Poltern seiner schweren Stiefel zu vernehmen.
Kurz darauf stand er keuchend im Türrahmen und spähte konsterniert in den Raum. „Was ist los?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Wirf diesen Irren hier raus!“, fauchte Arthur zurück und zeigte auf Hugo, der zu einem zitternden Bündel zusammengeschrumpft war, nun da sich der kräftige Nachtwächter vor ihm aufgebaut hatte. Als wäre dies sein Todesurteil, begann er plötzlich zu schluchzen und zu flehen: „Nein, bitte stell mich nicht vor die Tür. Du hast es doch auch gesehen, diesen dichten Nebel. Darin finde ich niemals nach Hause! Das kannst du mir nicht antun ...“
In Thompsons Gesicht lag ein tief empfundenes Mitleid, aber er befolgte den Befehl Arthurs und packte Hugo beim Kragen. Dann hob er ihn hoch, als wäre dieser federleicht und er strampelte und zuckte in seinem eisernen Griff. Heulend schlug er um sich und Thompson verpasste ihm zu Arthurs Wohlgefallen eine schallende Ohrfeige. „Sei still jetzt, Hugo.“, flüsterte er ihm besänftigend zu. „Es tut mir leid, aber ich muss das jetzt tun und dich vor die Tür setzen. Einem Arbeitgeber gegenüber verhält man sich stets loyal.“
Beim letzten Satz warf er Arthur einen vielsagenden Blick zu. Dieser nickte zornig und Thompson trug den zeternden Hugo mit sich die Treppe hinunter, wobei nur seine klagenden Laute im Raum zurückblieben. Arthur stützte sich einen Moment auf dem Tisch ab und versuchte, wieder einen ordentlichen Gedanken fassen zu können. Freilich gelang ihm dies nicht recht, seine Gefühlswelt war dermaßen in Aufruhr, dass er sogar den Whiskey vergaß. Aufgewühlt folgte er Thompson schlussendlich nach unten. Die Eingangstür stand offen und Arthur beobachtete, wie der Nachtwächter den weinenden Hugo buchstäblich in den Nebel hinauswarf.
Kurz darauf war nur noch seine flehende und wimmernde Stimme zu hören, die graue Wand hatte ihn vollständig verschluckt. Arthur trat zu Thompson heran und die beiden so unterschiedlichen Männer blickten Seite an Seite wortlos in den Nebel hinaus. Die klagenden Laute Hugos schienen von Sekunde zu Sekunde leiser zu werden, als entfernten sie sich. Schließlich erstarben sie vollkommen. Thompson räusperte sich und ergriff das Wort.
„Fort ist er, wie sie es gewünscht haben, Sir. Entschuldigen Sie mein kurzes Zaudern, ich habe erst nicht begriffen, was oben in der Bibliothek vor sich ging.“
Arthur war nicht fähig, etwas auf das Gesprochene zu erwidern. Beunruhigende Gedanken kreisten in seinem Kopf empor, dunkle Fledermausschwingen, die sich ausbreiteten und wie Schatten über seine Wahrnehmung legten. Mit einem blödsinnigen Gesichtsausdruck starrte er weiterhin schweigsam in den Nebel hinaus.
Der Whiskey! Den brauchte er jetzt, um die zunehmende Finsternis zu ertränken und wieder klar denken zu können! Als wäre sein Verstand auf den Grund eines tiefen Sees versunken, versuchte er sich selbst zur Vernunft zu rufen, indem er die rettende Ankerkette des Alkohols auswarf. In seinem empfindlichen Magen erstarkte der nagende Hunger mit neuer Vehemenz, es brodelte und kochte in seinen Eingeweiden, als würden die Innereien von einem kannibalistischen Parasiten verzehrt.
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er musste sich regelrecht von den hereindrängenden Nebelschwaden losreißen. Unmittelbar nachdem er auf dem Absatz kehrtmachte und zurück nach oben stürmen wollte, sagte der Nachtwächter: „Sir, ich mache mir Sorgen. Ich habe ein ungutes Gefühl, als ob mich jemand beobachtet. Von dort draußen. Etwas lauert dort, wartet auf seine Chance, sich meiner zu bemächtigen. Etwas Unheimliches ist heute Nacht am Werk.“
„Unfug!“, gab Arthur zurück, obwohl sich bei ihm ebenfalls eine schleichende Angst eingestellt hatte, die ihre kalte Faust unerbittlich in seinen bereits gereizten Magen bohrte. „Rede keinen Stuss! Du bist doch der einzig vernünftige hier. Reiß dich gefälligst am Riemen!“
„Verstehen Sie mich nicht falsch, Sir. Aber ich glaube, jeder der diesen Nebel betritt, ist verloren. Da draußen wartet nichts als der Tod. Lauschen Sie mal ... Es ist totenstill.“
Thompson hatte recht. Es gab keinerlei Laut, nur die Atmung der beiden Männer war zu hören, als hätte der Nebel nicht nur die Welt, sondern auch sämtliche ihrer Geräusche verschluckt. Nicht einmal das Rufen einer Eule war zu vernehmen.
Plötzlich geriet der Nebel in Bewegung, als würde ein unspürbarer Wind seine dichten Schwaden durcheinanderwirbeln. Dies löste ihn jedoch nicht auf, sondern schien ihn weiter zu verdichten. Bevor die bleichen Nebelfinger, die sich tastend über die Türschwelle nach ihm ausstreckten, Arthur erreichen konnten, gab er sich erneut einen Ruck und riss sich von dem Anblick los.
„Bleib draußen vor der Tür“, befahl er Thompson mit ausdruckslosem Gesicht. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, trotz der Kälte, die wie ein unsichtbarer Wegelagerer über die Lobby hereingefallen war. „Bewache das verdammte Haus. Niemand kommt hier rein!“
Damit wandte er sich ab und hastete ohne einen Blick zurück nach oben.

* * *

Jemand beobachtet mich von dort draußen aus dem Nebel.
Die Worte des Nachtwächters hallten in Arthurs Kopf wider. Eine unaufhaltsame Lawine hatte seinen Geist mit dunklen Gedanken verwüstet. Wortfetzen und grotesk verzerrte Stimmen lechzten wie eine kräftige Brandung an seinem zitternden Verstand, spülten neue Wellen von Unbehagen heran. Sein Zorn war nahezu gänzlich verpufft und hatte einer nervenzehrenden Beklemmung Platz gemacht. Er fühlte sich eingeengt und mit dem Rücken zur Wand gedrängt.
Schwerfällig ließ er sich in seinen luxuriösen Sessel fallen, streichelte abwesend über das weiche Fell, welches sich unter seinen Fingern dick und borstig anfühlte. Seine zitternde Hand fischte nach dem Whiskeydekanter und es kostete ihn einige Mühe, dessen facettiertes Glasverschlussstück zu öffnen. Als er die bernsteinfarbene Flüssigkeit in sein Glas goss, schlug der Dekanter dagegen und ließ ein leises Klirren hören, dass ihn fast um den Verstand brachte. Was war los mit ihm? Schreckgespenster zogen durch seine verworrenen Gehirnwindungen und verhöhnten die Logik unter ihrem finsteren Gewand.
Nach zwei kräftigen Schlucken, die er sich beinahe in seinen Bart gekippt hätte, lehnte er sich stöhnend zurück und hielt sich einen Moment lang den dröhnenden Kopf. Hatte er Fieber? War er krank? Die Winterkälte konnte ihm doch in seinem warmen, behaglichen Heim nichts anhaben! Damit kämpften höchstens die Dorfbewohner, welche jedes Jahr unter dem Wüten der Grippe zu leiden hatten und stetig in ihrer Anzahl dezimiert wurden.
Arthur schenkte sich einen weiteren Doppelten ein und trank ihn in einem Zug leer. Die wohlige Wärme des Single Malts breitete sich in seinen Därmen aus und spendete ihm etwas Trost in dieser düsteren Stunde.
Da draußen wartet nichts als der Tod.
Schaudernd fuhr er zusammen, wollte sich in den Fellen des Sitzes vergraben und sich vor der ganzen, aus den Fugen geratenen Welt verstecken. Wie ein eingeschüchtertes Kind, dem etwas Unbegreifliches widerfahren war, dass es geistig nicht korrekt verarbeiten oder einordnen konnte. Am liebsten hätte er sich die Ohren mit Watte vollgestopft, um die Anklagen in seinem Schädel nicht mehr hören zu müssen.
Die arme Magda! Sie ist ganz alleine da draußen und du überlässt sie herzlos ihrem Schicksal! Arthur klammerte sich an die Sitzlehnen und seine Hände krallten sich heftig in das Fell, die knochigen Finger sahen aus wie Spinnenbeine. Alle im Dorf werden sterben! Die Dürre im letzten Sommer hat ihnen endgültig den Rest gegeben! Und du schautest nur zu, ein heimlicher Beobachter am Fenster, ihr gnadenloser Richter und Henker! Dein Geiz hat sie umgebracht, trotz deines Wohlstandes hast du keiner Menschenseele Hilfe angeboten, obwohl du mit deinen Mitteln das ganze Dorf hättest retten können!
Ich bin doch kein Messias!, bäumte sich Arthur innerlich auf. Wieso sollte ich mich zum Weltverbesserer berufen fühlen? Jeder Mensch ist seines eigenen Schicksals Schmied!
Ruckartig erhob er sich aus dem Sessel, schlug sich mehrmals hart gegen den Kopf und schüttelte seine lange Haarpracht. Die Pomade glänzte im Licht der Glühfadenlampe. Scheinbar ohne Kontrolle über seine eigenen Glieder trat er an das Fenster heran und legte eine Hand auf das kalte Glas. Dann starrte er mit blutunterlaufenen Augen in die Nacht hinaus, wo die weißen Knochenhände des Nebels das Haus endgültig von der Außenwelt entrückt und an einen seltsamen Ort gebracht hatten, wo nichts anderes als Nachtmahre die Erde und die Menschen zu beherrschen schienen.
Ein Stimmengewirr flüsterte aus der Dunkelheit, an- und abschwellend, wobei Arthur nur die Stimme Hugos deutlich aus dem wüsten Durcheinander erkennen konnte. Diese raunte ihm zu: Du hast mich in den sicheren Tod geschickt. Hier draußen ist nichts mehr, die Welt ist verloren. Keine Menschenseele befindet sich mehr hier, es sind alle verschwunden und haben das Dorf dem Reich der Finsternis überlassen.
Arthur konnte sich nicht von dem Fenster lösen. Er glaubte, flatternde Gestalten in der Nebelsuppe zu erkennen, welche die Herrschaft über diesen gottlosen Ort an sich gerissen hatten. Mit ihren scharfen Krallen säten sie Wunden der Verzweiflung in seinen Verstand und ließen ihn wie zur Salzsäule erstarrt stehen. Seine Eingeweide krampften sich zusammen und der Hunger knetete ihn durch, wie der Bäcker einen frischen Teig. Dieses nagende Gefühl, es war kaum auszuhalten …
Plötzlich hörte er die tiefe Stimme Gregors, die von einem Ohr zum anderen wanderte und ihm ein dunkles Geheimnis anklagte: Ich habe es gehört, Arthur. Wie du dich nächtelang an Magda vergangen hast! Es würde mich nicht erstaunen, wenn ihr Kind von dir stammte. Jetzt schau, was du ihr angetan hast! Erst verhungert die Tochter und du schaust tatenlos zu, nun lässt du auch sie da draußen krepieren. Wieso besitzt du so wenig Menschlichkeit? Wie kann dein Herz so kalt sein? Zu Stein erstarrt sitzt es nutzlos in deiner ach so stolzen Brust!
Arthurs Blick flatterte hektisch. Seine Augenlider zuckten und die Stimmen aus dem Nebel untergruben seine gesamte Existenz, zerschmetterten sein Dasein an den Felsen der Niedergeschlagenheit.
Er hatte das Gefühl, leblose Augen starrten ihn aus dem Nebel an und sie erblickten nicht nur seine äußere, nutzlose Hülle, sondern drangen direkt in seine Seele ein, durchleuchteten ihn wie einen dunklen Minenschacht, förderten zutage, was tief verborgen in seinem Wesen lag. Panik rollte in erschütternden Wogen heran, schnürte ihm die trockene Kehle zu. Unter Aufbietung all seiner Kräfte wandte er sich vom Fenster ab und bemerkte beiläufig und ohne es eindeutig zu registrieren, dass die große Pendeluhr bei den Ziffern Neun und Vier stehen geblieben war. Die Glühfadenlampe flackerte, als tobe draußen ein grässlicher Sturm.
Fahrig und mit weichen Knien tritt er an den Tisch heran, griff erneut nach dem Dekanter und schenkte sich ein randvolles Glas ein. Seine Kehle war so zusammengeschnürt, dass er sich annähernd verschluckte und die Flüssigkeit wieder ausgespuckt hätte. Was sollte er tun? Wie kam er hier unbeschadet raus?
Er musste jetzt etwas unternehmen, damit diese schreckliche Nacht endlich ein Ende fand! Thompson sollte sich auf die Suche nach Magda machen! An Hugo verschwendete er keinen Gedanken, ihm hatte er in seinem Unterbewusstsein längst ein tiefes Grab geschaufelt. Magda! Ach, das arme Kind! War sie heimlich verliebt in ihn? Warum sonst hatte sie seine plumpen Annäherungsversuche toleriert? Nein, das konnte nicht sein ... Nur sie hatte ihm die Wärme ihres Körpers in den kalten, einsamen Nächten gespendet, widerstandslos aber sichtlich ohne Freude. Wahrscheinlich empfand sie sogar Abscheu vor ihm, schruppte ihren Körper danach stundenlang in einem Bottich kalten Wassers, um die Schande und die Schmach abzuwaschen. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Ach was, manchmal wurde ein Mann eben dazu gezwungen, sich die Wahrheit etwas zurechtzubiegen! Alles halb so wild. Pah, und dann das blöde Gör! Angeblich von seinem Samen gezeugt … Nichts als Lügen!
Trotzdem musste er sie zurückholen. Wäre er sonst nicht ganz alleine auf der Welt?
Absurde Gedanken. Wie konnte er sich um das kleine Flittchen sorgen! Was hatte ihn ergriffen, dass er solche Überlegungen anstellte ... Arthur machte eine wegwischende Handbewegung und mahlte mit seinen Zähnen. Dann fuhr er herum, stürmte zur Tür des Lesezimmers hinaus und die Treppe hinunter. Sein getroffener Entschluss war offensichtlich völlig irrational, er widersprach seiner Natur und das wäre ihm selbstredend äußerst seltsam vorgekommen. Doch in den Fängen dieser grauenvollen Nacht wurde jedweder Gedankengang zu Sternenstaub pulverisiert, bevor er sich dessen Existenz überhaupt bewusst werden konnte.
„Thompson!”, rief er mit brüchiger, ihm fremd gewordener Stimme. „Geh da raus und such nach Magda!”
Der Nachtwächter stand mit dem Rücken zur Eingangstür und blickte ihn aus schreckgeweiteten Augen an. Er sagte kein Wort. Arthur wollte protestieren, dass er seinen Befehl missachtet hatte und sich drinnen aufhielt, anstatt draußen vor der Türe Wache zu schieben, doch auch dieser Gedanke entschlüpfte ihm sogleich wieder.
„Na los!”, fuhr Arthur ihn an, als dieser nicht einmal mit der Wimper zuckte. „Beweg dich endlich und geh da raus!”
Der Befehl kam nur zögerlich über seine Lippen, das scharfe Feuer in der Stimme war zu einem kläglichen Flämmchen heruntergebrannt, und Thompson rührte sich noch immer nicht.
„Sir, ich kann das nicht alleine tun”, presste er schließlich hervor. „Sie müssen mit mir kommen. Gemeinsam haben wir vielleicht eine Chance, sie lebend zu finden.”
Mit diesen Worten machte Thompson einen Schritt nach vorne und packte Arthur grob am Unterarm, erlaubte sich die Frechheit, ihn zu schütteln wie einen Sack voller Knochen. „Sie kommen mit mir!”
Die Worte klangen nach einer unabwendbaren Order und Arthur nickte verdutzt und scheinbar geistesabwesend. Er fühlte sich außerstande zu begreifen, wie sich die befehlshabenden Fronten so plötzlich vertauscht haben konnten. In seiner Welt, die nur aus Schwarz und Weiß bestand und höchstens feine Nuancen davon zuließ, kam dies endgültig dem Untergang der guten Sitten gleich. Die ansonsten so wachsamen Augen des Nachtwächters schienen nun vom Nebel verschleiert und dieser bedachte ihn mit einem gefühlskalten Blick, der das Blut in Arthurs Venen zu Eis gefrieren ließ.
Wie in Trance löste er sich aus dem Griff Thompsons, ging hinüber zur Garderobe und kleidete sich schlotternd in den feinen Tweedmantel von Burberry. Der Nerzkragen schmiegte sich eng um seinen Hals, spendete eine Illusion von Wärme und Geborgenheit. Mittlerweile hatte Thompson die Eingangstür aufgestoßen und Arthur konnte die schwärmenden Irrlichter im Nebel sehen, die sich wie Funken in seinem grauen Bauch bewegten. Zuvor hatte er diese gar nicht wahrgenommen, doch jetzt schillerten sie in allen Farben und Formen, boten eine surreale Vorstellung. Wie Glühwürmchen zogen sie durch die graue, dunkle Suppe, es schien, als würden sie miteinander spielen, sich gegenseitig necken und jagen. Die Szenerie strahlte auf Arthur eine seltsame Aura der inneren Zufriedenheit und Genugtuung aus, Gefühle die er schon lange nicht mehr in seinem versteinerten Herzen verspürt hatte. Seine Nervosität und Angespanntheit fielen fast augenblicklich von ihm ab. Arthur machte einen Schritt nach vorne, hin zu den Verwünschungen des Nebels, der auf wundersame Weise den Druck auf seiner schwarzen Seele zu lindern vermochte.

* * *

Thompson drehte sich um.
„Na los, kommen Sie”, sagte er. „Sie sehen ziemlich verwirrt aus, wenn ich das so sagen darf. Geht es Ihnen nicht gut? Es ist dieser Nebel, stimmts?”
Arthur brauchte einen Moment, um sich zu sammeln und zu antworten. In Zeitlupe wandte er seinen Blick dem Nachtwächter zu.
„Siehst du das auch?”, brachte er hervor. In seiner Stimme lag nun nichts mehr von der Härte, von der sie zuvor dominiert worden war. Sie wirkte fremd und andersartig auf Arthur, besaß Charakteristika, die sich nicht mit seinem Wesen vereinbaren ließen. Nur ein heiseres Flüstern war von ihrem strengen Ton übriggeblieben.
„Da ist nur eine graue Wand”, antwortete Thompson. „Was sehen Sie?”
„Ich weiß nicht …”
Arthur bemerkte mit Bedauern und erneut wachsendem Grauen, dass die herrlichen Lichtlein im Nebel verschwunden waren. Nur eine Phantasie seines Unterbewusstseins, dass sich nach der bekannten Welt und vor allem der in ihr geltenden Hackordnung sehnte. „Vergessen Sie’s, da war nichts …”
Thompson wandte sich um und trat in den Nebel hinaus. Arthur hatte geglaubt, dieser würde ihn einfach verschlucken und Sekunden später an Ort und Stelle weiterwabern, als wäre nichts geschehen, doch er konnte seine Silhouette als dunklen Umriss in den Schwaden erkennen.
„Nun kommen Sie schon!”, verlangte dieser und der Schatten machte eine auffordernde Handbewegung. Arthur tat wie ihm geheißen, zu einer willenlosen Marionette degradiert, die Fäden an seinen Gliedern von Geisterhand geführt.
Aus dem hohen Schrank, der im Flur des Eingangsbereichs stand, nahm er sich eine Laterne. Aufgrund seiner zitternden Hände brauchte er drei Anläufe, bis er es fertigbrachte, sie mit einem Streichholz zu entzünden. Er hielt sie vor sich, an ausgestrecktem Arm, schwenkte ihr spärliches Licht der drohenden Düsternis entgegen.
Thompson, der nun besser erkennbar hätte sein müssen, da er nur wenige Meter entfernt stand, war kaum mehr zu sehen. Hatte er sich tiefer in den Nebel hinein bewegt?
Arthur schloss einen Moment die Augen, hörte das in seiner Brust pochende Herz und es kam ihm vor, als wäre es aus dem Rhythmus geraten. Mit einer zaghaften Bewegung trat er durch den Ausgang, die Lampe vor sich ausgestreckt, die Muskeln im Arm bereits am ermüden.
Seine Augen irrten in ihren Höhlen umher, suchten nach einem Anhaltspunkt, einem richtungsweisenden Leuchtturm auf dem rettenden Felsen, doch es gab keinen. Nirgends. Da war nur dieses nasse Nebelgewand, das ihn einhüllte wie ein bleiches Leichentuch, sobald er nur einen Schritt über die Schwelle gewagt hatte.
„Thompson?“, fragte er in die Leere. Niemand antwortete ihm.
Mit zunehmendem Entsetzen erkannte Arthur, dass er die Laterne nicht mehr sehen konnte. Dunkelheit schlich sich an ihn heran wie ein Raubtier auf leisen Pfoten, eine schwarze Bestie im Nebel, bereit ihn mit Haut und Haaren zu verschlingen. Mit einem gewaltigen Krachen schlug hinter ihm die Haustür zu. Arthur machte einen Satz nach vorne, beinahe ließ er die Laterne fallen.
Fahrig wandte er sich um, wie ein Greis ohne seinen Gehstock, und verstand nicht, was er hinter sich erblickte. Dort war nämlich nichts, die Eichentür und mit ihr das gesamte Haus waren verschwunden.
„Thompson?“
Wahnwitzig starrte er auf die Stelle, wo sich das Gebäude hätte befinden müssen. In einem Anflug von Wut und Irrsinn trat er wild und spastisch im Kreis, wie um sicherzugehen, dass er sich nirgends stieß, dass nicht doch etwas übriggeblieben war von seinem vertrauten Heim, wenn auch nur noch eine bröcklige Mauer im Nebel stand.
Nachdem dies ergebnislos geblieben war, verfiel er in eine Art Apathie. Willenlos stapfte er durch die Nebelschwaden voran, ohne Orientierung und mit ungewissem Ziel. Die Zeit dehnte sich wie unter der Wirkung einer sedierenden Droge. Der dichte Wald hinter seinem Haus, die Einfahrt mit den marmornen Pferdesäulen, selbst der breite Weg aus festgestampftem Lehm, all das hatte aufgehört zu existieren.
Um ihn herum befand sich eine vollkommene, graue Leere.
Aus dieser heraus schälte sich nach undefinierbarer Zeit ein Umriss. Zuerst konnte Arthur dessen Merkmale nicht zuordnen, doch je näher er ihm kam, desto deutlicher wurden seine menschlichen Züge. Außerdem schien er sich zu bewegen, vor ihm wegzulaufen, gerade schnell genug, dass sich Arthur anstrengen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Das Atmen fiel ihm plötzlich schwerer. Als dringe der Nebel in seine Lungenflügel ein und verklebe diese mit einem dicken Schleim, der ihn langsam erstickte.
Arthur hustete, doch er hörte das Rasseln in seinen Atemorganen nicht, es blieb totenstill, nur das Blut rauschte in seinem Kopf. Der Umriss begann sich alsbald zu verdoppeln, klonte sich immer wieder, knapp außerhalb des dürftigen Lichtscheins der Laterne, sodass er nicht mit Sicherheit sagen konnte, mit wessen Abbild ihm sein Unterbewusstsein einen Streich spielte. War es Thompson? Er wagte es nicht mehr, den Namen des Nachtwächters laut auszusprechen.
Die Vision wurde bizarrer, als sich die Schatten soweit ausgebreitet hatten, dass sie den Nebel um ihn herum erfüllten, wie schwarze Tiere, die sich in einem grauen Schlammbad suhlten. Ekstatisch wanden sie sich, in einem zunehmend hektischer werdenden Stakkato, bis Blitze vor Arthurs Augen tanzten. Bevor er vollends den Verstand verlor oder ohnmächtig wurde, hörte der Terror mit einem Schlag auf und er glaubte, die Druckwelle eines lautlosen Knalls zu spüren.
Thompson stand direkt vor ihm. Diesmal nah genug, dass Arthur seine Gesichtszüge erkennen konnte. Dort fand er den Ausdruck einer unendlichen Einsamkeit.
„Sehen Sie nur, was aus dem Dorf geworden ist.“, flüsterte er traurig in sein Ohr.
Arthur begriff zuerst nicht, was er damit sagen wollte. Die Nebelschwaden begannen sich zu lichten, gaben den Blick frei auf die Umgebung, die sie zuvor so unnachgiebig vor ihm verhüllt hatten. Aus dem Dunst schälten sich ein Dutzend Gebäude, die in unmittelbarer Nähe von Arthur standen. Er blinzelte ungläubig und erkannte nicht, wo er sich befand. Sein Kopf ruckte herum, in seinem Blick lag die Leere eines besinnungslos Betrunkenen, gefangen im Delirium tremens.
Doch dann erschlossen sich ihm die Offenbarungen des Nebels. Hatte er sich in der Zeit vor- oder zurückbewegt? Zeigte ihm sein verkümmerter Verstand eine weitere Halluzination? Die zerfallenen und heruntergekommenen Behausungen schienen lange von jeder Menschenseele verlassen, die Dachschindeln waren teilweise abgedeckt, das Holz vermodert und von Parasiten zerfressen. Einige bestanden nur aus wenigen Mauerresten, Ruinen vergangener Epochen, ein klägliches Überbleibsel der einst so lieblichen Heimat, deren Einwohner er sein Leben lang inbrünstig gehasst hatte.
Nun vermisste er jegliches Zeichen menschlicher Aktivität in dieser Geisterstadt. Selbst wenn ihn jemand feindselig hinter einem Fenster angeblitzt hätte, wäre dies für ihn einer Erleichterung gleichgekommen, hätte es bedeutet, sich nicht mutterseelenallein an diesem schrecklichen Ort zu befinden. Nichts geschah, er wartete und trat unsicher auf der Stelle, doch seine sinnlosen, inneren Monologe, dass sich endlich jemand zeigen möge, blieben unerhört.
Dann begannen sich die Häuser aufzulösen. Sie zerfielen in tausende Stücke, die Dächer hoben sich und ein Schauer aus Schindeln und Ziegeln prasselte um Arthur herum zu Boden. Sämtliche Behausungen wurden verschlungen von einem züngelnden, leckenden Inferno, blaue, grüne und violette Stichflammen verzehrten den letzten Rest der Gebäude. Arthur glaubte zuerst, dass es zu schneien begonnen hatte, denn nachdem die Flammen erloschen waren, schlich sich eine klirrende Kälte unter seinen Mantel und ließ ihn frösteln. Vom Himmel fiel schwarze Asche, leicht wie verbranntes Zedernholz. Sie blieb auf seinem Gesicht kleben, legte sich auf das Haar und färbte die Kleidung.
„Arthur.“
Beim Klang seines Namens blickte er sich hektisch um, fasste neue Hoffnung. Es war doch jemand hier! Gott sei Dank! Magda trat aus dem Nebel, ihr kleines Töchterchen an der Hand. Es war zu dunkel, um die Gesichtszüge des Mädchens zu erkennen, aber er hatte das unwirkliche Gefühl, dass sie ihm ähnlichsah.
Kaum hatte Magda bemerkt, dass der irre Arthur Notiz von ihr genommen hatte, entfernte sie sich von ihm. Zuerst zögerlich, doch dann riss sie das Gör immer vehementer hinter sich her und rauschte durch den wieder dichter werdenden Nebel davon.
Arthur durfte sie nicht verlieren! Er ließ die Laterne kraftlos fallen und sie erlosch mit einem Klirren. Dann rannte er los, dem flüchtigen Schatten der beiden Gestalten hinterher. In seinem Kopf riefen sie seinen Namen, wobei das Mädchen mehr brabbelte, als dass es tatsächliche Worte sprach. Die Stimmen machten ihn verrückt, sie hallten von einem Gehörgang zum anderen, wie ein gewaltsames Echo, das in seinen Sinnesorganen herumrollte.
Nach einer endlos scheinenden Zeit des Suchens und Verfolgens, stand er vor dem Dorfbrunnen. Aus seinem runden, von behauenen Steinen umgebenen Auge quoll der Nebel wie Dampf aus einem Vulkanschlot. Die Stimmen entsprangen dem Zentrum, einem bodenlosen Loch.
Arthur stolperte auf den Brunnen zu, versenkte den Blick in dessen Tiefen und in seinem Inneren tobte ein Wirbelsturm der abstrakten Farben. Das Letzte, was er fühlte, war eine grenzenlose Müdigkeit, die sich wie ein schwerer Deckel über sein Bewusstsein legte.
Starr und ungläubig wurde er Zeuge davon, wie der Zahn der Zeit ihm die Jahre wie Nägel in den Leib trieb, die Arme verschrumpelten zu dürren, knochigen Anhängseln, der einst maßgeschneiderte Mantel schlackerte lose um seinen abgemagerten Körper. Sein Hunger hatte ein schreckliches Maul voller Reißzähne entwickelt und fraß sich satt an seiner Existenz. Dann fiel er nach vorne. Kippte über die Steinquader hinweg, hinein in den finsteren Schlund, wo die Farben sich drehten und wirbelten, ein hypnotisches Miasma aus Chaos und Zerstörung.

* * *

Er befand sich in freiem Fall und hatte das Gefühl, sein Körper löse sich auf.
Haut und Fleisch fielen von ihm ab, entblößten die verwitterten Knochen, Nase und Ohren zerstoben im Brunnenschacht zu feinem Staub. Sein poröser Schädel grinste unter der pergamentartigen Gesichtshaut hindurch und seine fleischlosen Lippen verzerrten sich zu einem lautlosen Schrei. Ein letztes Aufbäumen des Willens, dann ein Reißen und sein Hirn wurde entweiht. Die schwindelerregenden Farben grillten es in ihrem gnadenlosen Purgatorium und zeigten ihm eine groteske Szene.
Unter ihm saßen mehrere Personen an einem Tisch bei Kerzenschein. Arthur schwebte darüber, nun völlig körperlos, beobachtete, wie die Leute in ein stummes Gebet versunken waren. Dann erkannte er weitere Details. An den Wänden hingen prachtvolle Bilder von Jagdszenen. Auf dem Eichentisch lag sein Körper. Ein weißes Tuch war sorgfältig unter ihm ausgebreitet worden. Dessen reiner Stoff war mit einem psychedelisch anmutenden Muster blutroter Spritzer besudelt. Die Gruppe Personen um ihn herum bestand ausschließlich aus Dörflern.
Magda war da mit ihrem kleinen, toten Mädchen, Hugo und Gregor, Thompson und viele weitere, die er nur vom Sehen kannte und sich nicht einmal an ihre Namen erinnern konnte. Mit Entsetzen und Abscheu bemerkte er, dass sie Gabel und Messer zur Hand nahmen, während der Koch ihm alle vier Glieder mit einem Fleischerbeil abtrennte und seinen Brustkorb offenlegte. Gierig bedienten sie sich an seinem Inneren, schaufelten reichlich von den Leckereien auf ihre Teller. Lunge, Herz und Nieren. Dann fielen sie schmatzend und jauchzend über ihr dekadentes Mahl her. Je mehr Teile sie seinem Körper entnahmen, desto schwärzer wurde Arthur, bis ihn schließlich seine lang ersehnte Erlösung in die Arme schloss. Der Mahlstrom aus Farben explodierte und die Dunkelheit dieses alptraumhaften Ortes verschlang brüllend seine Seele, endgültig und ohne Wiederkehr.

 

Jemand klopfte aufgeregt an die Tür.

Das ist ja nicht jemand. Das ist Hugo. Der Charakter wird hier eingeführt, es ist nur noch nicht klar, in welcher Position. Das ist äußerst ungeschickt gemacht, weil es nicht sofort weitergeht, weil es keine Aktion gibt, sondern erstmal eine lange Exposition, die auch noch recht langweilig ist.
Außerdem: Wie klopft denn jemand aufgeregt an die Tür? Zeigen. Da könnte das Glas Single Malt erbeben, ein Manuskript vom Tisch fallen - da hast du direkt eine Wirkung.

Arthur befreite sich aus den Wirrungen des Textlabyrinths vor ihm und betrachtete die gigantische Pendeluhr an der gegenüberliegenden Wand. Ihre metallenen Zeiger standen exakt auf Neun und Zwölf. Im Zimmer roch es nach dem Rauch aromatischer Zigarren, das helle Licht einer Glühfadenlampe brach sich in dem edlen Kristalldekanter auf dem Tisch. Bücherregale türmten sich hinter ihm auf, märchenhafte Kolosse, die das Wissen eines ganzen Jahrtausends in ihren Eingeweiden vereinten. Die hölzernen Bantu-Masken starrten ausdruckslos auf ihn herunter, als warteten sie auf eine Reaktion.
Der Single Malt, den er während des angestrengten Lesens aus einem bauchigen Glas genippt hatte, fachte seinen Hunger an, doch der schwere Wälzer vor ihm auf dem Tisch hielt seinen Geist gebannt. Wie jeden Abend hatte sich Arthur in sein Lesezimmer zurückgezogen. In seine wundervolle, ihm heilige Bibliothek, in der er Bücher hütete, die älter und seltener waren, als so manch wissenschaftliche Sammlung es von sich behaupten konnte. Heute hatte er sich das sechste Kapitel in Keltermanns Grundlagen der Thermodynamik vorgenommen und der abrupte Unterbruch kam ihm deshalb sehr ungelegen.
Für ihn war geschriebene Prosa das wahre Gold, die Sprache selbst lag ihm dagegen eher wie ein zu scharf geratenes Gewürz auf der Zunge. Dazu kam, dass er sich stets kurz und knapp hielt, als wolle er keine unnötigen Silben verschwenden.

Das alles passiert im Text, bevor Hugo die Tür dann öffnen darf. Da ist auch einiges widersprüchlich und schief: Er befreit sich aus dem Text? Ich denke, Prosa ist sein wahres Gold? Befreien tut man sich doch aus einer mißlichen Lage. Es ist doch viel eher so, dass er sich losreißen muss, er weigert sich doch, weil er eigentlich nicht gestört werden will. Warum ist die Pendeluhr gigantisch? Gigantisch zu was, da muss ein Vergleich her, eine Abmessung. Gigantisch wäre bei mir, so groß wie ein Dreifamilienhaus. Vorsicht mit Superlativen. Warum sind die Zeiger metallen? Ist das wichtig? Man merkt, du willst hier Atmo aufbauen, so britisches Landhaus, alles etwas dekadent, Lovecraft, 19 Jahrhundert, eccentric intellectual. Aber es ist viel zu viel. Es wirkt wie ein Abbild, ein Abziehbild dessen, was du darstellen möchtest. Warum? Weil es nie konkret wird. Die Bantu-Masken wären das Einzige, dass ich stehen lassen würde.

Bücherregale türmten sich hinter ihm auf, märchenhafte Kolosse, die das Wissen eines ganzen Jahrtausends in ihren Eingeweiden vereinten.

Bücher, die Eingeweide haben. Bücher als märchenhafte Kolosse. Das ist hart, sehr hart an der Grenze. Ich meine, ein Stapel Bücher reicht doch. Es wird doch klar, was abgeht, das dieser Typ sich hinter diesen Büchern verschanzt. Die bezweckte Charakterisierung würdest du aber anders erreichen: Wie sortiert er die Bücher, wie geht er mit ihnen um, wie liegen sie da?

Für ihn war geschriebene Prosa das wahre Gold, die Sprache selbst lag ihm dagegen eher wie ein zu scharf geratenes Gewürz auf der Zunge. Dazu kam, dass er sich stets kurz und knapp hielt, als wolle er keine unnötigen Silben verschwenden.

Muss man schnell lesen, sonst bröselt er auseinander, der Satz. Ist auch ein schiefes Bild. Sprache liegt auf der Zunge wie ein zu scharf geratenes Gewürz. Wer sorgt denn dafür, dass ein Gewürz zu scharf gerät? Gibt es da ein Mindestmaß für? Und liegt Sprache wirklich auf der Zunge? Der andere, folgende Satz ist redundant, weil es klar wird, dass so einer nicht besonders viel redet.

Heute hatte er sich das sechste Kapitel in Keltermanns Grundlagen der Thermodynamik vorgenommen und der abrupte Unterbruch kam ihm deshalb sehr ungelegen.

Das ist, was der ganze Absatz erzählt, aber was du nicht zeigst, sondern im Grunde drumherum schreibst. Du könntest viel mehr Wirkung erzielen, wenn du den Charakter echt machst, wenn du ihn realistisch, physisch werden lässt - bis jetzt ist das alles nur Autor, alles nur eine Nacherzählung. Da müsste es aktiver werden. Wie äußert sich das, was da oben in dem Satz steht, konkret bei deinem Charakter? Er wird schroff. Er raunzt Hugo an: Ja? Oder: Jetzt nicht! Oder: Was soll das schon wieder!

„Ja?”, ließ er verlauten und eine leise Wut lag in dem schlichten, einzelnen Wort begraben.
Vertraue deinem Leser mal mehr. Du bereitest diesen riesigen, ellenlangen Absatz vor, und dann traust du dem Leser nicht mal zu, dass er merkt, dass dein Charakter wütend ist. Du musst es sogar noch erklären, noch hinschreiben. Wie soll da eine Atmosphäre entstehen?

„Magda ist fortgelaufen. Sie sagte, dass sie ihr Kind suchen müsse und war ganz nervös und aufgekratzt. Irgendetwas scheint ihre Seele aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben, sie ist doch sonst so ein tapferes Mädchen. Ist einfach fortgelaufen! Sie glaubte, ihre Tochter schreie nach ihr und deshalb wollte sie ins Dorf gehen.”

So redet niemand. Magda ist fortgelaufen. Punkt. Hugo ist doch gar nicht in der Position, da etwas zu erlären. Der steht sowieso total unter Druck. Arthur ranzt ihn an, und er gibt sich erstmal ganz hündisch, weil er seinen Herrn unterbrochen und verärgert hat. Und dann redet er gleich so los? Nee, der wartet doch ab, was Arthur macht. Der müsste dann genervt: Und? seufzen, und dann darf Hugo wieder loslegen. Ich weiß auch nicht, ob er sagen würde: Irgendetwas scheint ihre Seele aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben. Das ist so ein plakativer Allgemeinplatz, der hat in einem guten Text nichts zu suchen.

„Ich getraue mich nicht, Sir. Dort draußen ist etwas …”, begann Hugo, unterbrach sich dann aber und machte eine wegwerfende Handbewegung, als wolle er einen düsteren Gedanken beiseiteschieben. „Seit dem späten Nachmittag ist ein dichter Nebel aufgezogen und hat das Haus verhüllt. Eine graue, undurchdringliche Wand. Sehen Sie doch selbst nach, Sir! Glauben Sie mir, da will niemand raus, bei diesem Wetter …”
Dieses foreshadowing ... Dort draußen ist etwas. Damit verrätest du alles. Es ist egal, was da noch kommen mag, auch wenn die Story einen vollkommen anderen Twist nimmt, aber diese Trope so direkt zu benennen, das ist wirklich kein gutes Niveau. Das dichter Nebel aufgezogen ist, das reicht doch vollkommen.

Er ergriff den Einband vor sich und schlug das Buch zu, dann erhob er sich aus seinem feudalen, fellbekleideten Sessel und starrte Hugo gnadenlos nieder.
Feudal. Das sollst du aber nicht einfach behaupten, sondern da muss der Leser drauf kommen: Du beschreibst anhand einiger guter, wahrer Details die Szene, und der Leser denkt: So stelle ich mir ein feudales Lesezimmer vor!

Ich könnte jetzt so weiter machen, den Text habe ich überflogen und da sind noch sehr viele solcher umständlichen, ungelenken Sätze drin, die viel beschreiben, aber zu keiner Atmosphäre und auch zu keiner eigenständigen Charakterisierung betragen. Ich weiß nicht, ob du da irgendeiner Schule folgst, wo man so schreiben will und soll, aber für meine Augen liest sich das einfach nicht gut. Überhäuft, konstruiert, beschreibend und langatmig, ohne das etwas in Bewegung kommt. Die Dialoge sind auch nicht wirklich gut, die wirken gestelzt und wie Stichwortgeber. Ich fürchte, das liegt daran, dass du im Grunde keinen Charakter vor Augen hast, Arthur, Hugo, das sind Pappkameraden, die in der Versuchsanordnung gewisse Aufgaben haben.

Konstruktiv: Show, dont tell. Wahrhaftige Details, die konkret werden, die mir etwas erzählen, die einen eigenen Ursprung haben, speziell und nicht einfach willkürlich bin. Charakter und dessen Entwicklung nicht nur behaupten, sondern durch Aktion lebendig werden lassen. Dialoge! Mal drauf achten, wie Menschen miteinander reden, vor allem, wie sie mit Informationsvorsprung und Machtgefälle umgehen, wie Menschen aneinander vorbeireden, oder durch Auslassungen subtil doch etwas sagen, Nicht-Kommunikation, Gestik, Mimik.

Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi @jimmysalaryman

Danke erstmal für deine direkten Worte und das Du dir die Mühe gemacht hast, deine Rückmeldung so ausführlich zu gestalten. Man ist ja immer ziemlich betriebsblind für seine eigenen Texte und Du hast mir hier wirklich einiges aufgezeigt, was mir weiterhilft.

Ich weiß nicht, ob du da irgendeiner Schule folgst, wo man so schreiben will und soll, aber für meine Augen liest sich das einfach nicht gut. Überhäuft, konstruiert, beschreibend und langatmig, ohne das etwas in Bewegung kommt.
Nee, ich folge keiner Schule, habe noch nie einen dieser Ratgeber gelesen, wie man schreiben soll, oder irgendeinen Literaturkurs besucht (vielleicht sollte ich das aber mal?). Oder vielleicht doch, ich lese in letzter Zeit viel von Autoren die ca. zwischen 1850 und 1920 geschrieben haben und das hat hier wahrscheinlich abgefärbt und zu diesem antiquierten Stil geführt. Ich dache mir auch, das passt besser zu dieser Geschichte als hier allzu modern zu schreiben. Aber für Dich hat das offensichtlich nicht funktioniert und es hat Dir nicht gefallen. Leider hast Du kein Wort zum Inhalt an sich verloren, aber das kann ich schon nachvollziehen, wenn schon alles andere nicht stimmt.

Zu den Details:

Das ist ja nicht jemand. Das ist Hugo. Der Charakter wird hier eingeführt, es ist nur noch nicht klar, in welcher Position. Das ist äußerst ungeschickt gemacht, weil es nicht sofort weitergeht, weil es keine Aktion gibt, sondern erstmal eine lange Exposition, die auch noch recht langweilig ist.
Außerdem: Wie klopft denn jemand aufgeregt an die Tür? Zeigen. Da könnte das Glas Single Malt erbeben, ein Manuskript vom Tisch fallen - da hast du direkt eine Wirkung.
Ja, mit dem Anfang haderte ich und war mir unschlüssig. Habe das zwei-, dreimal umgestellt, erst war da nur die Exposition, ohne das Klopfen an der Tür. Das kam erst danach. Aber auch so verstehe ich, dass es nicht das Gelbe vom Ei ist. Werde das nochmal überarbeiten. Wenn jemand an die Tür klopft - und sei es noch so energisch - dann fällt doch nicht gleich ein Manuskript vom Tisch oder ein Glas erbebt? Das wäre in meinen Augen sehr überzeichnet. Aber ich verstehe durchaus, was Du mir hier mitgeben willst: Show, don't tell. Ich denke, dass ist das Kredo der Schule des Schreibens, nach der hier gearbeitet wird.

Das alles passiert im Text, bevor Hugo die Tür dann öffnen darf. Da ist auch einiges widersprüchlich und schief: Er befreit sich aus dem Text? Ich denke, Prosa ist sein wahres Gold? Befreien tut man sich doch aus einer mißlichen Lage. Es ist doch viel eher so, dass er sich losreißen muss, er weigert sich doch, weil er eigentlich nicht gestört werden will.
Bin ich absolut mit Dir einverstanden, das ist ein Widerspruch hier. Werde ich korrigieren.

Warum ist die Pendeluhr gigantisch? Gigantisch zu was, da muss ein Vergleich her, eine Abmessung. Gigantisch wäre bei mir, so groß wie ein Dreifamilienhaus. Vorsicht mit Superlativen.
Einverstanden. Auch das verfolge ich gerne weiter und werde ich mir für die Zukunft merken.

Bücher, die Eingeweide haben. Bücher als märchenhafte Kolosse. Das ist hart, sehr hart an der Grenze. Ich meine, ein Stapel Bücher reicht doch. Es wird doch klar, was abgeht, das dieser Typ sich hinter diesen Büchern verschanzt. Die bezweckte Charakterisierung würdest du aber anders erreichen: Wie sortiert er die Bücher, wie geht er mit ihnen um, wie liegen sie da?
Hart an der Grenze zu was? ;)
Das "märchenhafte Kolosse" bezieht sich hier nicht auf die Bücher, sondern auf die Bücherregale. Dasselbe mit den Eingeweiden. Aber sehe schon, das ist Dir zu übertrieben dargestellt. Ein bisschen Fantasie bracht es aber schon, um diesen Text zu lesen. Eigentlich ist er auch deshalb mit "Fantasy" getaggt, den ansonsten hat das hier nichts mit diesem Genre zu tun. Das mit dem Sortieren der Bücher finde ich wiederum einen guten Input. Nehme ich auf, danke.

Muss man schnell lesen, sonst bröselt er auseinander, der Satz. Ist auch ein schiefes Bild. Sprache liegt auf der Zunge wie ein zu scharf geratenes Gewürz. Wer sorgt denn dafür, dass ein Gewürz zu scharf gerät? Gibt es da ein Mindestmaß für? Und liegt Sprache wirklich auf der Zunge? Der andere, folgende Satz ist redundant, weil es klar wird, dass so einer nicht besonders viel redet.
Okay, ist etwas ungelenk formuliert, schaue ich mir an. Mit dem redundanten Satz gebe ich Dir ebenfalls recht.

Das ist, was der ganze Absatz erzählt, aber was du nicht zeigst, sondern im Grunde drumherum schreibst. Du könntest viel mehr Wirkung erzielen, wenn du den Charakter echt machst, wenn du ihn realistisch, physisch werden lässt - bis jetzt ist das alles nur Autor, alles nur eine Nacherzählung. Da müsste es aktiver werden. Wie äußert sich das, was da oben in dem Satz steht, konkret bei deinem Charakter? Er wird schroff. Er raunzt Hugo an: Ja? Oder: Jetzt nicht! Oder: Was soll das schon wieder!
Ich muss direkter einsteigen und die Exposition am Anfang nach hinten schieben bzw. irgendwo anders einbauen. Verstanden. Kann ich nachvollziehen und probiere es aus.

Vertraue deinem Leser mal mehr. Du bereitest diesen riesigen, ellenlangen Absatz vor, und dann traust du dem Leser nicht mal zu, dass er merkt, dass dein Charakter wütend ist. Du musst es sogar noch erklären, noch hinschreiben. Wie soll da eine Atmosphäre entstehen?
Auch hier: Stimmt!

So redet niemand. Magda ist fortgelaufen. Punkt. Hugo ist doch gar nicht in der Position, da etwas zu erlären. Der steht sowieso total unter Druck. Arthur ranzt ihn an, und er gibt sich erstmal ganz hündisch, weil er seinen Herrn unterbrochen und verärgert hat. Und dann redet er gleich so los? Nee, der wartet doch ab, was Arthur macht. Der müsste dann genervt: Und? seufzen, und dann darf Hugo wieder loslegen. Ich weiß auch nicht, ob er sagen würde: Irgendetwas scheint ihre Seele aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben. Das ist so ein plakativer Allgemeinplatz, der hat in einem guten Text nichts zu suchen.
Ja, Dialoge sind für mich mit das Schwierigste beim Schreiben. Ich habe mir zu wenig Gedanken gemacht, wie die verschiedenen Charaktere reden bzw. wie sie sich verhalten. Das wird im Text wohl sehr deutlich und Du zeigst mir hier gut, was für Überlegungen ich mir eben machen müsste, damit es authentisch(er) rüberkommt.

Dieses foreshadowing ... Dort draußen ist etwas. Damit verrätest du alles. Es ist egal, was da noch kommen mag, auch wenn die Story einen vollkommen anderen Twist nimmt, aber diese Trope so direkt zu benennen, das ist wirklich kein gutes Niveau. Das dichter Nebel aufgezogen ist, das reicht doch vollkommen.
Ok!

Feudal. Das sollst du aber nicht einfach behaupten, sondern da muss der Leser drauf kommen: Du beschreibst anhand einiger guter, wahrer Details die Szene, und der Leser denkt: So stelle ich mir ein feudales Lesezimmer vor!
Ebenfalls: Ok!

Ich fürchte, das liegt daran, dass du im Grunde keinen Charakter vor Augen hast, Arthur, Hugo, das sind Pappkameraden, die in der Versuchsanordnung gewisse Aufgaben haben.
Ich fürchte, Du hast recht ... ;) Das werde ich mir gross hinter die Ohren schreiben! Diesen Fehler mache ich immer wieder. Oder vielleicht ist es auch schlicht Faulheit. Ich mache mir nicht die Mühe, meinen Charakteren ein Gesicht zu geben, sondern schreibe einfach drauflos und dann bleiben die wohl einfach ohne spezielle Eigenschaften, haben nicht viel, was sie zu etwas Besonderem macht und bleiben somit blass und seelenlos.

Konstruktiv: Show, dont tell.
Das fasst ja deinen Beitrag gut zusammen und ist auch die Quintessenz, welche Du mir ans Herz legen möchtest. Danke für die Beispiele, die Du dazu gemacht hast.

Habe einige Dinge lernen können, dank deinem Beitrag! Bin nicht mit allem einverstanden, aber grössenteils gebe ich Dir bei deinen Ausführungen recht.

Beste Grüsse,
DM

 
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Hallo @DissoziativesMedium!

Da ist sie endlich, die langerwartete Story! "Der Beobachter im Nebel" ist eine klassische Schauergeschichte, stringend durcherzählt, gut verständlich detailreich beschrieben, mit einem bewährten Setting, vereinzelten schrägen Bildern und einem surrealen Finale, das die Story in origineller Weise abrundet. Dass die klassischen Schauerautoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dich inspiriert haben, ist offensichtlich - und es beeinflusst den Text sowohl im Guten als auch im weniger Guten. Der Reihe nach:

Die Sprache
Dein Stil ist barock und bisweilen sogar richtig schwülstig. @jimmysalaryman hat die Eingeweide der märchenhaften Kolosse schon angesprochen, davon gibt's noch mehr. Fairerweise sei gesagt: Poe und gerade Lovecraft haben oft selbst einen sehr blumigen Stil. Das Problem ist allerdings, dass es im Jahr 2020 verdammt schwierig ist, so zu schreiben, ohne unfreiwillig komisch zu wirken. Das gelingt dir, finde ich, nicht immer. (@Katla hat mit "Der vierte apokalyptische Reiter" vor ein paar Monaten eine Schauergeschichte vorgelegt, die das ziemlich beeindruckend durchexerziert - das ist schon echt schwierig.) Ein einfacher Tipp, um den Stil zu überarbeiten: Streich alle Adjektive raus und dann setze nur dort wieder welche ein, wo sie fürs Textverständnis notwendig ist. Sobald die ornamentalen Sachen raus sind, liest sich der Text schon deutlich eleganter.

Das Setting
Der schuldbeladenen Protagonist, das Herrenhaus, die Bibliothek, die Uhr, der Nebel - das sind natürlich alles bekannte Versatzstücke. Der Einstieg erinnert stark an Poes "Raven", der Nebel als abstrakte Bedrohung erinnert an Morley Roberts Kurzgeschichte "The Fog". Das ist völlig okay und ich finde, dass die surrealen Einschübe - das Bücherfressen und das schräge Finale - hier enorm wichtig sind, weil sie die Story davor bewahren, eine reine Pastiche zu werden. Etwas überladen finde ich die Details: Ich würde @Rob F zustimmen, dass du hier ziemlich stark kürzen könntest, ohne Wesentliches zu verlieren. Das ist halt auch so ein Zeit-Ding: Die Erzähler des 19. Jahrhunderts sind häufig sehr beschreibend, sehr detailliert, das kann heute behäbig wirken.

Das Foreshadowing
... muss weg. In den Dialogen wird von Anfang an die Bedrohung ganz konkret benannt. Das würde ich komplett streichen, dadurch wird jede Möglichkeit von Spannung im Keim erstickt. Vgl. Lovecraft, die größte Angst ist die Angst vor dem Unbekannten - bzw. die bewährte Horrorfilm-Regel: Zeige das Monster so selten und so spät wie möglich.

So viel auf die Schnelle.

Wichtig: Das ist alles Kritik auf ziemlich hohem Niveau. Man merkt der Story an, dass du gerne erzählst, und zwar in Cinemascope, groß, sinnlich, ausführlich. Das ist sehr, sehr beeindruckend! Du beherrschst eine komplexe, vielschichtige Erzählung, und obwohl sie an manchen Stellen noch perfektioniert werden kann, legst du damit ein ziemlich beeindruckendes Debut vor.

Chapeau!

Christophe

 

Hallo @Rob F

Danke, dass Du dir Zeit genommen hast, eine Rückmeldung auf meine Story zu schreiben, auch wenn sie dir nicht gefallen hat.

Du hast zwar früh in der Geschichte Inhalte, die eine spannende Handlung ankündigen: Magdas Verschwinden und der Nebel. Danach passiert jedoch erstmal nichts mehr, was zu einer kontinuierlichen Steigerung der Spannung beiträgt. Im Gegenteil, der erzählst u.a. sehr ausführlich, wie Arthur zu Abend isst. Außerdem ausführliche tellige Informationen, die du deutlich kürzen könntest.
Ich erachte das Abendessen schon als einigermassen wichtig für die Geschichte: Arthur hat extremen Hunger (das steigert sich immer weiter), das Essen ist für ihn aber völlig geschmacklos. Das soll ihn in den Wahnsinn treiben und er soll dasselbe fühlen, womit seine Untergebenen tagtäglich kämpfen (die können sich ein anständiges Essen halt nicht leisten). Ich gebe Dir aber insofern recht, dass ich die Szene wohl zu detailliert ausgewälzt habe und es somit durchaus langweilig für den Leser werden kann. Werde versuchen, das besser zu machen und es mit weniger Worten deutlicher rüberzubringen.

Du versuchst, deine Beschreibungen der Zeit und Umgebung anzupassen, was ich grundsätzlich gut finde. Allerdings wirkt es an einigen Stellen eher unbeholfen und konstruiert, ich habe dir nachfolgend das ein oder andere Beispiel beigefügt.
Danke auch für diese Detailarbeit. Bei sehr vielen Dingen, die Du aufgeführt hast, gebe ich Dir recht und werde das entsprechend überarbeiten.

Konzentriere dich auf die Handlung, die du erzählen möchtest. Bringe sie deutlicher schneller voran und kürze - umfangreich - die allgemeinen telligen Informationen. Auch die Beschreibungen zur Umgebung würde ich "herunterfahren", so dass sie natürlicher und weniger gestelzt wirken.
Werde ich machen. Die Geschichte war auch insofern ein Experiment, als das ich versuchte, an einer der "alten" Autoren angelehnt zu schreiben: W.H. Hodgson, Ambrose Bierce, M.R. James, Lovecraft, Poe etc. Scheint mir zumindest teilweise misslungen zu sein, aber das viele tell kommt halt schon aus der Ecke. Ist zu antik und behäbig, verstehe ich schon. Für meinen Einstand im Forum scheint es - jedenfalls für Dich und Jimmy - nicht die richtige Story gewesen zu sein... ;)

Beste Grüsse
DM

 

Moin @Christophe

Auch Dir vielen Dank für deine Rückmeldung! Hat mich sehr gefreut, dass die Story bei Dir besser angekommen ist :)

"Der Beobachter im Nebel" ist eine klassische Schauergeschichte, stringend durcherzählt, gut verständlich detailreich beschrieben, mit einem bewährten Setting, vereinzelten schrägen Bildern und einem surrealen Finale, das die Story in origineller Weise abrundet.
Danke für das Kompliment!

Dein Stil ist barock und bisweilen sogar richtig schwülstig.
Das war die Absicht, danke! Für meinen Einstand im Forum wohl nicht die allerbeste Wahl :lol:

Das Problem ist allerdings, dass es im Jahr 2020 verdammt schwierig ist, so zu schreiben, ohne unfreiwillig komisch zu wirken.
Ja, das war mir auch bewusst und ich habe mich ja mittlerweile auch genug im Forum umgesehen, dass ich schon wusste, mich hiermit auf eine Art Gratwanderung zu begeben. Oder besser gesagt, nicht nur hier, sondern allgemein.
Es freut mich natürlich umso mehr, dass die Geschichte trotzdem bei Dir auf Anerkennung gestossen ist. Das einige Bilder ziemlich schräg und überzeichnet sind, habe ich nun erkannt. Die angesprochenen Dinge, z.B. mit den märchenhaften Kolossen und dem sagenumwobenen Ambiente habe ich erst nachträglich beim Überarbeiten eingefügt. Habe aber wohl damit den Vogel abgeschossen bzw. übers Ziel hinausgeschossen und nehme das raus bzw. formuliere es anders.

Ein einfacher Tipp, um den Stil zu überarbeiten: Streich alle Adjektive raus und dann setze nur dort wieder welche ein, wo sie fürs Textverständnis notwendig ist. Sobald die ornamentalen Sachen raus sind, liest sich der Text schon deutlich eleganter.
Danke für diesen wertvollen Tipp, den ich gerne ausprobieren werde, um "Balast abzuwerfen".

Etwas überladen finde ich die Details: Ich würde @Rob F zustimmen, dass du hier ziemlich stark kürzen könntest, ohne Wesentliches zu verlieren. Das ist halt auch so ein Zeit-Ding: Die Erzähler des 19. Jahrhunderts sind häufig sehr beschreibend, sehr detailliert, das kann heute behäbig wirken.
Jupp, habe ich erkannt. Werde einige überflüssige Details rausstreichen.

Das Foreshadowing
... muss weg. In den Dialogen wird von Anfang an die Bedrohung ganz konkret benannt. Das würde ich komplett streichen, dadurch wird jede Möglichkeit von Spannung im Keim erstickt. Vgl. Lovecraft, die größte Angst ist die Angst vor dem Unbekannten - bzw. die bewährte Horrorfilm-Regel: Zeige das Monster so selten und so spät wie möglich.
Das mache ich. Wollte damit eine bedrohliche Athmo aufbauen, ist aber wohl nach hinten losgegangen, da schon viel zu viel verraten wird. Hatte wohl Tomaten auf den Augen ...

Wichtig: Das ist alles Kritik auf ziemlich hohem Niveau. Man merkt der Story an, dass du gerne erzählst, und zwar in Cinemascope, groß, sinnlich, ausführlich. Das ist sehr, sehr beeindruckend! Du beherrschst eine komplexe, vielschichtige Erzählung, und obwohl sie an manchen Stellen noch perfektioniert werden kann, legst du damit ein ziemlich beeindruckendes Debut vor.
Solche Worte liest jeder Autor gerne! Christophe, ich danke Dir für diese abschliessenden, sehr erbauenden Zeilen und natürlich auch, dass Du die ganze Geschichte gelesen hast, die im Vergleich zu anderen hier wirklich nicht kurz ist. Ich bin weiterhin erstaunt, dass dich der antiquierte Stil nicht "abgeturnt" hat! Deine angesprochenen Kritikpunkte schaue ich mir auf jeden Fall an und lasse diese bei der Überarbeitung mit einfliessen. Merci!

Beste Grüsse,
DM

 

Aber ich verstehe durchaus, was Du mir hier mitgeben willst: Show, don't tell. Ich denke, dass ist das Kredo der Schule des Schreibens, nach der hier gearbeitet wird.

Nein, hier wird nach keinem Credo gearbeitet. Ich denke, jede Geschichte besitzt bestenfalls eine eigene, geeignete Form, es spielt keine Rolle, ob das eher szenisch ist oder als Monolog, es muss einfach passen. Man kann da natürlich auch geteilter Meinung sein, was für einen Text besser ist, ich kann jedenfalls mit Dissens gut leben, man kann nicht jedem gefallen. Hier, bei deinem Text, war es jedenfalls für mich so, dass ich persönlich mir diesen wirkungsvoller und intensiver vorstellen könnte, wenn du etwas szenischer schreibst. Das ist alles. Ich mag auch durchaus poetische Texte, die nur aus Tell bestehen, wenn es denn passt, wenn es dem Sujet entspricht.

Gruss, Jimmy

 

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