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Der Besuch
Das Zimmer sah aus wie ein besserer Stall. Man sass am Boden und sah direkt nach draussen auf eine magere Ziege. Sie war mit einer Schnur an einen Stock gebunden und frass die dürftig vorhandenen Grashalme. Daneben gackerten Hühner, die frei herumliefen. Drinnen, eine Frau in dunkle Tücher gehüllt, die vor einer Kochplatte stand, auf der zwei verbeulte Pfannen mit Inhalt vor sich hin köchelten. Hin und wieder rührte sie mit einem Holzlöffel darin herum. Ansonsten war das Zimmer nur mit einem einzigen Möbelstück ausgestattet. Einem Gestell, bestehend aus drei Tablaren, auf dem Teller, Gläser, Zeitungen und noch eine weitere verbeulte Pfanne standen. Anni sass auf dem Boden und blickte auf den Mann, dessen Frau am Kochen war. Dieser sah aus, als hätte er nicht mehr lange zu leben. Bleich, ausgemergelt und an den Armen alles voller blauer Flecken. Die Kleider die er trug, waren zerlumpt und sein schütteres Haar war ungepflegt und trotz seiner erst 35 Jahren, ganz ergraut. Er war mit Annis Ehemann in einem Gespräch, von dem sie nichts verstand, ausser den vielen Handbewegungen und Gebärden, die darauf schlossen, dass es sich wohl um etwas Wichtiges handelte.
Die Frau kam mit vier Tellern, die allesamt beschädigt waren, herbei. Zog Zeitungen aus dem Gestell, öffnete diese und legte mehrere Seiten vor Anni auf den Boden. Jedem stellte sie dann einen Teller und ein nicht ganz sauberes Glas hin. Das Fladenbrot und die geschnittenen Peperoni, legte sie einfach auf die Zeitung. Dann schlurfte sie zurück in die Kochnische. Kam kurz darauf mit einer der Pfannen retour und schöpfte, mit einem Holzlöffel, Reis auf die Teller. Brachte diese wieder zurück, kam mit der anderen und legte noch etwas Fleisch dazu. Nachdem sie diese auch gleich wieder auf die Platte gestellt hatte, setzte sie sich hin, sagte etwas, was Anni aber nicht verstand.
Sie sah deshalb zu ihrem Mann, der ihr erklärte: »Sie wünscht uns einen gesegneten Appetit.«
Sie sah zu der Frau und sagte: »Danke, ihnen auch einen guten Appetit.« Dabei lächelte Anni ihr zu.
Die Frau sah Anni traurig an. Danach nahm sie ihren Teller und fing an, das Reis und das Fleisch zu kneten und stopfte es dann in den Mund. Dazu riss sie noch ein Stück vom Fladenbrot ab, nahm etwas von den Peperoni und schob es hinterher.
Anni verspürte Ekel in sich aufsteigen. Auch war es hier drin, stickig und heiss. Hilfesuchend sah sie zu ihrem Mann. Doch dieser versuchte ihr mit einem Blick zu verstehen zu geben, dass sie essen musste, da sie ansonsten die Leute beleidigen würde. Also riss sich Anni zusammen und versuchte es der Frau nachzumachen. Zuerst nahm sie mit dem Daumen, Zeige- und Mittelfinger etwas Reis, drückte dann ein Stück Fleisch dazwischen und schob dies alles so schnell in den Mund, damit nichts daneben ging. Zu ihrer eigenen Verwunderung schmeckte es wirklich sehr gut. Beim nächsten Bissen versuchte sie es mit dem Fladenbrot und den Peperoni. Leider hatte sie zuvor niemand gewarnt, wie scharf diese waren. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch nahm sie ohne das Gesicht zu verziehen, etwas Reis in den Mund um die Schärfe im ganzen Mundbereich zu neutralisieren. Es gelang. Die Kleider klebten ihr nun noch mehr am Körper. Doch ass sie alles, ausser den Peperoni, tapfer weiter.
Da die Männer nun auch assen, also aufgehört hatten zu reden, war es ganz ruhig. Nur das Schmatzen des Mannes und seiner Frau waren zu hören. Anni sah verstohlen zu, wie ihr Mann ass. Es war ein befremdliches Bild, den Mann, mit dem sie seit über fünf Jahren zusammen lebte, der immer korrekt gekleidet war und viel Wert auf Tischmanieren legte, nun so auf dem Boden sitzend und mit der Hand essend, zu sehen. Das Wasser, das ihr die Frau in das unsaubere Glas einschenkte, sah bräunlich aus. Davon konnte Anni, auch wenn sie wegen der scharfen Peperoni grossen Durst verspürte, beim besten Willen nicht trinken.
Sie dachte an ihre moderne Eigentumswohnung, bei der es an nichts fehlte. Dabei bekam sie ein so schlechtes Gewissen, dass sie sich während des Essens verschluckte. Sie musste husten. Ihr Mann sah sie erschrocken an: »Anni ist etwas nicht in Ordnung?«
»Können die Leute unsere Sprache verstehen?«
»Nein, sie sprechen nur meine Muttersprache. Warum?«
»Ich habe ein so schlechtes Gewissen. Wir haben Alles und diese Leute haben nicht einmal das Nötigste.«
Ihr Mann sah sie liebevoll an und antwortete: »Ja Anni, so ist es auf der Welt.«
Alle waren fertig mit essen. Die Frau stand auf. Anni wollte sich erheben und mithelfen, als die Frau, wild mit den Armen fuchtelnd, ihr zu verstehen gab, dass sie sitzen bleiben müsse. Also sah Anni zu, wie diese die Teller und Gläser draussen, bei einem Regenfass hinstellte. Dann den Deckel dessen hochhob und mit einem schmuddeligen Tuch und etwas schmutzigem Wasser einfach über das Geschirr wischte. Dann versorgte sie die noch nassen Teller und Gläser in dem Gestell.
Kurz darauf stand ihr Mann auf, so dass sie sich auch erhob. Der andere Mann blieb sitzen. Annis Mann nahm die Hand des Gastgebers, legte kurz seine Stirn auf dessen Handrücken und sagte dazu etwas. Dann gab er ihr ein Zeichen, das gleiche zu tun. Die Hand des Mannes wirkte kraftlos und ganz knochig. Anni verneigte sich und machte dasselbe wie zuvor ihr Mann. Dann schritt er zu dem einzigen angrenzenden Raum, in dem eine Art Matratze lag und legte ein Kuvert unter das Kissen. Wieder bei ihr bat er sie: »Würdest Du noch der Frau auf Wiedersehen sagen?«
Also schritt sie auf die Frau zu, nahm ihre Hand: »Danke für das leckere essen und ihre Gastfreundschaft. Ich wünsche dir und deinem Mann alles Gute und gute Gesundheit.« Dabei sah Anni hinüber zu dem kranken Mann. Die Frau umarmte Anni und als sie wieder losliess, waren Tränen in ihren Augen. Dann ging sie auf Annis Mann zu, nahm seine Hand und legte ihre Stirn auf seinen Handrücken. Dann verliessen sie Beide die Hütte und stiegen draussen ins Auto.
Ihr Mann startete und fuhr los. Anni konnte nicht mehr an sich halten und fragte: »Warum verabschiedet ihr euch so?«
»Das ist die Tradition. Weil er älter ist, zeigen wir so unseren Respekt.»
»Wenn deine Familie bei uns zu Besuch kommt, macht ihr das aber nie?«
»Ja Anni, wir haben viel von eurer Kultur angenommen. Aber diese Leute hier leben noch ganz in ihrer Tradition.«
«Was hast du denn diesen Leuten unter das Kissen gelegt?«
Stille dann: »Geld.«
»Geld?«
»Ja, Anni. Der Mann braucht dringend eine Operation, ansonsten stirbt er. Hier gibt es für arme Menschen keine Krankenversicherung. Sie haben fünf Kinder. Das älteste davon ist zwölf.«
»Fünf Kinder? Wo waren die denn? Und wo schlafen sie alle?«
»Die mussten draussen bleiben, damit wir ihr Essen bekommen können. Schlafen tun die Grösseren im Stall und die Kleinen bei ihren Eltern.«
Anni wurde es ganz eigenartig zu Mute. Sie war schockiert: »Im Stall? Warum mussten denn die Kinder auf das Essen verzichten?«
»So ist die Tradition. Es hat nicht für alle gereicht. Auch das Geld hätten sie nie angenommen, wenn ich es ihnen direkt gegeben hätte. Dafür sind sie viel zu stolz.«
»Genügt denn das Geld was du ihnen gegeben hast?«
»Ja Anni. Wenn sie die OP bezahlt haben, können sie damit ein Haus und dazu einen Brunnen mit sauberem Wasser bauen. Wir wissen ja nicht, ob die OP gut verläuft. So ist wenigstens die Existenz der Frau und ihren Kindern zusätzlich etwas abgesichert.«
Anni sah ihren Mann voller Bewunderung an.