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Der braune Kuchen (inkl. »Zahltag«)
Jetzt ist es soweit, ich werde mich an dir rächen. Heute. Du sollst endlich dafür zahlen, was du mir mein Leben lang angetan hast. Eigentlich wäre es ja dumm von mir, wenn ich es wirklich mache, denn dann mußt du nicht leiden und es ist gar keine richtige Strafe für dich. Aber gut, Hauptsache, wir teilen nicht mehr eine Welt miteinander, dann ist mir schon leichter. Um den Richter mache ich mir keine Sorgen, zu oft hast du versucht, mich umzubringen, körperlich wie seelisch – niemals werde ich vergessen, welche Angst ich ausstehen mußte, als du mir die Stecknadeln vor meine Augen gehalten hast und ich mich auf Knien entschuldigen mußte. Oder wie du die Decke erst von meinem Gesicht genommen hast, nachdem ich mich totgestellt hatte. Oder die ungefähr dreitausend Mal, wo du mich an den Haaren gerissen und in irgendeine Position gezwungen hast, um mich anschließend gegen den Türstock oder die Badewanne zu stoßen. Wie oft ich mich nicht aus dem Klo getraut habe, weil du vor der Tür auf mich gewartet hast. Wie du mich in die Ecke gedrängt hast und ich mich immer mehr gefürchtet hatte. Du hast sie gesehen, die Angst in meinen Augen. Hat sie dich befriedigt? Und als du mich mit fünfzehn vor die Wahl gestellt hast, entweder die Schule weiterzumachen oder mit Freunden wegzugehen, da hast du doch nicht wirklich geglaubt, ich könnte sagen: »Ja, gern bleib ich meine ganze Jugend über hier im Zimmer sitzen.« Du hast gewollt, daß ich sie abbreche, und mir hinterher noch Schuldgefühle gemacht. Du hättest es nicht ertragen, wenn ich etwas Besseres geworden wäre als du. Und als ich mit Julia ausziehen wollte, in eine WG, in der es noch ein Kind gab, hast du den Leuten gedroht, uns jeden Tag die Polizei zu schicken. Da habe ich aufgegeben, geglaubt, ich schaffe es nie, wenn ich nicht nach deinen Regeln spiele. Eine Gemeindewohnung durfte ich beantragen, weil du wußtest, dass es mindestens zwei Jahre dauert, bis ich eine bekommen würde. Zeit für dich, ihr zu zeigen, nach wessen Pfeife hier getanzt wird.
Lange Zeit war ich zugefroren, bis ich erkannte und das Eis beinahe wasserfallartig von mir geschmolzen ist.
Ich sehe nur mehr einen Weg: Die Vernichtung dessen, was mich nicht leben lassen will. Zur Zeit steht es unentschieden. Aber ich werde als Gewinner hervorgehen. Und wie ich gewinnen werde. Endlich alles von dir begraben – ich würde dir dann gerne ins Grab nachspucken und all deine Scheiß-Sprüche, Drohungen, Erpressungen, Verleumdungen, Erniedrigungen und Demütigungen vorher auf kleine Zettel schreiben, mit Draht zu einem Strauß binden und dir hinterherschmeißen. Das gäbe mir noch den letzten Rest an Befriedigung, aber während dieser Feier werde ich schon in einer Zelle sitzen. Allerdings nicht lange, da kannst du dir sicher sein. Der Richter wird Milde walten lassen, davon bin ich überzeugt. Du hast mein Leben zu einem Krater mit freiem Ausblick auf die Hölle gemacht.
Nur mit dir wollten sie nichts zu tun haben, als ich sie um eine Zeugenaussage über dich und deine Methoden bat. Ja, deine Ex-Männer! Was mußt du in ihnen für Gefühle hinterlassen haben … Nicht einmal mehr bei Gericht wollten sie dich sehen! Dabei ging es um meine Tochter. Alle beide könnten sie deinen Anblick unter keinen Umständen mehr ertragen. Sie machten es sich leicht, jedoch kann ich sie verstehen. Ja, mir geht es genauso. Nur, daß ich mich niemals scheiden lassen konnte. Daß ich gezwungen war, dich zu ertragen, ich war dir ausgeliefert und von dir abhängig, bis du mir mein Herz herausgerissen hast. – Heute drehe ich den Spieß um. Selbst, wenn ich zehn Jahre bekommen sollte, was hätte ich vom Leben, wenn du meine Tochter hast? Einen Ersatz soll ich bekommen? Ich bin noch jung genug? Ich werde meine Tochter nicht „ersetzen“, was bildest du dir eigentlich ein? Du glaubst, du kannst tun, was du willst, und alle müssen dir gehorchen, ja? Einen Scheiß werde ich dir in Zukunft gehorchen! Lieber gehorche ich die nächsten Jahre den Gefängniswärtern, als daß überhaupt noch irgendjemand dir gehorchen muß!
Was nehme ich für ein Messer, hm, dieses wäre zwar das beste, aber zu schade für dich. Es schneidet das Fleisch so gut. Das hier, ja, genau. Schön spitz, fest genug, damit es sich nicht verbiegt, wenn ich es mit aller Wucht in dich stoße, und schön breit ist es, damit es eine todsichere Wunde ergibt. – Wo geb ich es hinein ... ah ja, Zeitungspapier.
Um Spuren brauche ich mich nicht zu kümmern, auch um kein Alibi, denn sie werden ohnehin als erstes zu mir kommen und so erspart es eine Menge Arbeit, sowohl mir in der Vorbereitung als auch den Kriminalbeamten, sie können den Fall dann in Rekordzeit lösen. Ich mache es ihnen leicht, warum sollten sie sich auch mit deiner Akte noch lange beschäftigen, du bist das doch gar nicht wert! Schade um die Steuergelder.
Du meinst, ich sei gehässig? Rate mal, wo ich das gelernt habe. Normalerweise bin ich gar nicht so, nur wenn ich an dich denke oder mich etwas an dich erinnert. Aber die Erinnerungen werde ich bald abgelegt haben. Im Gefängnis werde ich ein Buch schreiben, da habe ich wenigstens Zeit dafür und bin nicht immer mit Hausarbeit abgelenkt. Man könnte direkt meinen, ich freu mich schon darauf.
Natürlich wäre es mir lieber gewesen, ich hätte eine liebe Mutter gehabt. Aber das warst du eben nicht, damit muß ich leben und das geht nur, wenn du endlich weg bist. Das verstehst du doch, ach so, Logik war noch nie deins, macht nichts, du mußt nichts mehr verstehen. Hättest du mir nicht gedroht, daß du mir mein Leben so lange zerstören willst, so lange du lebst – ich habe schon genug Ängste ausgestanden. Hättest du dir den Telefonterror gespart, der hat mich sehr wütend gemacht. Ich hätte dich in Ruhe gelassen. Aber du wolltest immer wieder und immer wieder sekkieren und quälen, konntest mich nie leben lassen, ohne dich irgendwie einzumischen. Ab heute ist Schluß damit. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen, ob ich auch am Sonntag brav aufstehe. Du brauchst auch nicht mehr meiner Chefin erzählen, ich würde mich vor der Arbeit drücken, während ich gerade auf dem Operationstisch liege; ja, sie hat es mir erzählt. Du mußt auch nicht mehr vor meinem Haus auf und ab stolzieren, um zu sehen, wann ich ein und aus gehe oder wer mich besucht. Du brauchst auch nicht mehr versuchen, meinen Mann gegen mich aufzuhetzen, wir haben übrigens alle Telefongespräche aufgenommen, da schaust du, was? Auch von der Sorge, was in meinem Postkasten ist, kann ich dich befreien. Du siehst, auch ich habe nur dein Bestes im Sinn.
In einer Stunde kommst du von der Arbeit nach Hause. Dann werde ich dich im Durchgang erwarten, hinter dem Mauervorsprung. Ich lege mich jetzt noch eine Weile hin, damit ich dann ausgeruht bin. Hoffentlich hinterläßt du in der Arbeit alles so, daß der nächste sich leicht tut, damit sich nicht noch einmal jemand über dich ärgern muß.
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Etwas lässt mich hochfahren, ich muß wohl eingenickt sein – was war das? Ich trinke einen Schluck Tee, stehe auf, da läutet es nochmal an der Tür. Ich schaue durch das Guckloch – Polizei – mir fällt das Herz in die Hose, was machen denn die da? Ich öffne. „Guten Tag ...“, sage ich mehr fragend als begrüßend. – „Wir müssen Sie bitten, mitzukommen.“ – „Was ist denn los? Ist etwas passiert?“ – „Ja; kommen´s, wir erzählen Ihnen alles in Ruhe unterwegs.“ – „Moment, gleich.“ Ich gehe in die Küche, nehme leise mein Messer aus der Tasche, stecke es zurück in den Messerblock und ziehe dann im Vorzimmer meine Schuhe an. Irgendwie habe ich eine gewisse Vorahnung.
Wir fahren Richtung Stadtgrenze, biegen in einen Waldweg ab und bleiben bald danach stehen. Die Erklärungen der Polizei bestätigen meinen Verdacht. – Wir gehen noch etwa zwanzig Meter. Da, am Baum hängt noch der Rest des abgeschnittenen Seiles. Mich schaudert und gleichzeitig bin ich erleichtert. Ich muß mir die Finger nicht schmutzig machen.
Natürlich hat sie sich nie umgebracht. Und ich sie auch nicht, obwohl ich damals, vor mehr als einem Jahrzehnt, wirklich knapp davor war.
In Wirklichkeit kam nicht die Polizei, sondern mein Ex-Mann nach Hause. Es war ein Joint, der ihr das Leben gerettet hat. Ein Joint, den er mir unter die Nase gehalten hat. Während des Rauchens begann ich nachzudenken und ließ mein Vorhaben bleiben. Welche Ironie, wo sie doch immer so dagegen gewettert hat, und dann rettet ihr das Gras das Leben.
Langsam begann ich, mich selbst zu finden. Und die vielen Dinge, die sie mir eingetrichtert hat; die gar nicht zu mir gehörten und trotzdem so taten, als würden sie das. Gehirnwäsche, die nicht zuließ, das zu vertreten, was mein Gefühl mir sagte.
Aber so richtig funktionierte das Finden erst, nachdem sie schließlich auch den noch sieben Jahre andauernden Telefonterror aufgab. Was ihr das wohl gegeben haben mag? Es war allein durch diesen »Kontakt« immer eine Erinnerung an sie da. Es brauchte nur das Telefon zu läuten und schon waren meine Gedanken wieder bei ihr.
Ich stillte meinen Sohn, das Telefon läutete.
Ich wickelte ihn um, das Telefon läutete.
Ich fand endlich Zeit für eine Stunde Schlaf, das Telefon läutete.
Ich wollte bei der Tür hinaus, zum Einkaufen, meinen Sohn links am Arm, rechts die Tasche mit den Pfandflaschen, das Telefon läutete. Könnte ja zur Abwechslung etwas Wichtiges sein … So ging es tagein, tagaus. Meine Wut wurde dabei nicht merklich kleiner, dabei bemühte ich mich so, sie endlich los zu werden.
Immer wieder verspürte ich so eine komische Sehnsucht ganz tief in mir drin, die weh tat, wie ein Messerstich. Sie hatte mich immer noch in der Hand.
Ich begann, abwechselnd in meiner Wohnung und in meiner Seele auszumisten. Nein, eigentlich ging beides Hand in Hand, und dabei wurde in beidem mehr Platz für mich. Aber diese verdammte Sehnsucht war noch immer da, nur hatte sie jetzt eine Form bekommen: Es war der braune Kuchen; mein brauner Kuchen, der seit ich denken kann mein Lieblingskuchen war und ist und immer sein wird, und den sie immer dann gebacken hatte, wenn sie mir zeigen wollte, dass sie mich doch irgendwie mochte.
Als ich auszog, fragte ich nach dem Rezept, und sie sagte: »Hast du vielleicht vor, nicht mehr zu kommen? Du kriegst ihn doch bei mir, oder ist er dir von mir jetzt nicht mehr gut genug?«
Als wir uns endgültig trennten, fragte ich noch einmal und bekam schnippisch zur Antwort: »Da hab ich kein Rezept dafür, den backe ich nach Gefühl.«
In den Jahren danach probierte ich sämtliche Schokolade-Nuss-Kuchen-Rezepte aus, die ich finden konnte, aber mein brauner Kuchen war nicht dabei. Ich abonnierte die »Brigitte«, weil sie immer die Rezepte daraus nachkochte; sicher wiederholen die die Rezepte von Zeit zu Zeit, dachte ich. Fehlanzeige, nichts wiederholte sich und mein brauner Kuchen war auch nicht darunter. Immer wieder musste ich deshalb heulen und merkte dabei, wie sehr ich beim Denken an den Kuchen Sehnsucht nach Liebe empfand. Ich ließ es heulen, das Kind in mir, und je mehr es mir von den Momenten erzählte, in denen es sich geliebt fühlte, weil es den braunen Kuchen bekam, desto mehr musste es weinen. Ich nahm es an der Hand und wir schauten gemeinsam, ob wir irgendwo einen Hinweis auf das Rezept finden konnten.
Es tat sich lange Zeit nichts. Viele Erinnerungen haben wir heraufgeholt, über vieles haben wir gemeinsam geweint, aber am Schluss des Filmes kam wieder die Sehnsucht nach dem Kuchen und kein Rezept, und manchmal drängte es mich, doch wieder zurückzugehen, dahin, wo es den Kuchen gab. Es wäre wohl ein bitterer Kuchen geworden.
Ich versuchte, mich damit zu trösten, immerhin auf ein ähnliches Rezept gestoßen zu sein, und vielleicht könne ich ja ein bisschen daran herumfeilen …
Das Kind in mir gab immer noch keine Ruhe, es wollte seinen Kuchen.
Es hatte wohl ohne mein Zutun den ganzen Dachboden da oben durchwühlt, denn plötzlich war sie da, die passende Erinnerung. Ich muss ungefähr drei Jahre alt gewesen sein, es war noch in der alten Wohnung. Da sah ich sie, wie sie den Mixer abstellte, den geschlagenen Schnee zur Seite stellte, und auf einer »Manner«-Biskotten-Packung zu lesen begann … Das Kind in mir hüpfte vor Freude durch das kleine Zimmer, das es in mir bewohnt. Im selben Moment fiel mir ein, dass es damals gar kein Kuchen war, sondern ein Rehrücken, und dass genau dieses Rezept immer noch auf den Biskottenpackungen zu finden war. Und ich hatte es nie gebacken, weil ich nach einem Kuchen in einer runden Form suchte und keine Zeit hatte für einen Rehrücken …
Ich musste nur durch vier Geschäfte gehen, bis ich eine Packung mit dem richtigen Rezept fand, und die kleine Änderung, die sie gemacht hatte – die grob gehackten Nüsse – fiel mir sofort auf. Und natürlich ohne Schokoglasur – es war der einzige Kuchen, bei dem sie sie mir zuliebe wegließ. Ich fand es schon immer ekelhaft, wenn die Glasur den guten Geschmack des Kuchens so picksüß übertönt.
Es war ein richtiger Geburts-Tag, als ich mir meinen ersten eigenen braunen Kuchen gebacken hatte. Es war ein Gefühl der tiefen inneren Befriedigung. Als würden Trauer und unerfüllte Sehnsucht aus allen meinen Poren hinausdampfen und mein Inneres frisch gelüftet.
Dass ich sie mit meinem Kuchen ermordet hatte, wurde mir erst später bewusst. Ich musste schmunzeln und sah meine Finger an. Sie waren immer noch sauber.