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Der Brief
Der Tag begann mit dem Einschlag von Granaten und endete damit. So war es gestern und so wird es morgen sein.
Die Dunkelheit schob sich wie ein Tuch über das Land, als ob sie den Sternen diesen schrecklichen Anblick auf der Erde ersparen wollte.
Irgendwo an der Ostfront.
Ein kleines, zerbombtes Dörfchen.
In einem Haus.
Leutnant Köhler saß auf einem wackeligen Stuhl vor einem rustikalen Tisch, der in einem schiefen Raum stand. Die Decke war eingedrückt, aber nicht undicht. Es war still geworden draußen. Ab und zu hörte man noch den leisen Donner weit entfernter Geschütze. Das Haus selbst lag in Stille da. Der Ort hatte wieder Ruhe gefunden. Trügerische Ruhe.
Der Leutnant rückte das Papier zurecht, das er sich hergerichtet hatte. Er packte einen Stift aus und begann im flackernden Kerzenschein zu schreiben.
Liebste Iris,
Ich lebe noch. Aber ich habe Angst, dass ich hier sterben könnte. Nicht von einer russischen Kugel getroffen, einer Granate zerfetzt, einem Splitter zerrissen, sondern vor Einsamkeit. Ich vermisse dich jeden Tag und jede Nacht. Auch wenn die Nacht manchmal der Tag ist, bloß ohne Licht, weil ich nicht schlafen kann. Die Gedanken an dich martern meine geprüfte Seele, ich weiß nicht, wie es um dich steht. Wie es um uns steht.
Dies hier zu sagen. Hunderte von Kilometern entfernt von dir und der Heimat ist falsch, aber ich habe die Befürchtung, dich nicht mehr lebend zu sehen.
Der Feind ist im Vormarsch, unsere Stellungen werden überrannt. Schon morgen kann der Iwan hier sein und wo ich dann bin-?
Selbst jetzt kann ich dir nicht sagen, wie sehr ich dich mag. Selbst zu dieser Stunde schaffe ich es nicht. Meine Worte vermögen nicht auszudrücken, was ich für dich empfinde.
Das Haus erzitterte in seinen Grundfesten, als eine Granate im Nachbarhaus einschlug, und es in eine Ruine verwandelte. Stimmen wurden laut. Wieder ein Einschlag.
Schritte im Korridor, der Leutnant sah von seinem Brief auf. Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen. Ein junger Unteroffizier stürzte herein.
„Herr Leutnant, wir liegen unter schwerem Feuer!“, sagte er hastig.
„Es sind stürmische Zeiten.“
Wenn den Soldaten die Antwort verwirrte, ließ er es sich nicht anmerken.
„Wir werden angegriffen“, wiederholte der Mann. „Ich muss den Herrn Leutnant bitten, mit mir das Haus zu verlassen. Das Dorf wird evakuiert.“
Köhler schaute den jungen Mann lange an, bevor er antwortete. Im Kerzenlicht war sein Gesicht nur schwer zu erkennen. Der Unteroffizier schwitzte.
„Ich habe hier einen Brief“, sagte Köhler, „den ich noch nicht fertig geschrieben habe.“
Abschuss eines schweren MGs. Befehle. Die Kerze flackerte unruhig hin und her.
„Aber Herr Leutnant-“
„Nur diesen Brief noch fertig, nur diesen Brief...“
Der junge Mann, zuerst unschlüssig, entschied sich dann doch zu tun, was ihm gesagt wurde.
„Herr Leutnant, ich warte dann vor der Tür.“
Mit diesen Worten wandte sich der Soldat um, verließ den Raum und schloss die Türe.
Die ganze Hektik ließ ein wenig nach. Köhler begann wieder zu schreiben:
Es ist soweit, der Feind ist da, früher als erwartet. Grausamer, als befürchtet.
Schreie. Ein Stakkato aus Schüssen und Einschlägen.
Dass ich nicht den Mut hatte, dir die Wahrheit zu sagen, damals in der Heimat, zu der Zeit, als ich noch die Chance dazu hatte, das tut mir so schrecklich und unendlich Leid.
Köhler hörte Kugeln um das Haus Pfeifen; dann und wann Treffer in die Mauer.
Aber wie so oft, hoffe ich auf einen späteren Zeitpunkt, irgendwann, dich noch einmal zu sehen.
Ich habe die Hoffnung daran nie aufgegeben und auch
Schüsse im Gebäude, der Unteroffizier brüllte im Korridor.
jetzt nicht. Ich glaube daran, dass ich eines Tages den Mut aufbringen kann und dir sage,
Das Holz der Tür splitterte, als Kugeln durchschlugen. Ein dumpfes Geräusch, wie ein Körper, der zu Boden fällt. Sprachkauderwelsch, eilige Schritte. Geräusche von Türen, die aufgestoßen wurden und gegen die Wand prallten.
wie sehr ich dich liebe. Und ich weiß auch, dass du das nicht verstehst, doch ich werde es dir erklären. Aber nicht jetzt, sondern dann, wenn wir uns Wiedersehen.
Die Tür wurde fast aus den Angeln gerissen, als die Russen den Raum stürmten. Köhler sah die grimmigen Gestalten, deren Augen funkelten und er blickte auf die Maschinenpistolen in ihren Händen. Einer der Männer sprach ihn auf Russisch an, was der Leutnant nicht verstand. Er nahm seelenruhig den Stift und setzte den Schlusssatz unter die Zeilen:
In Liebe,
Ralf
Dann nahm er den Brief und faltete ihn, während er von zwei Soldaten gepackt wurde, die ihn zu Boden stießen.
Die Kerze fiel vom Tisch, rollte brennend bis zur Wand, und als sie dort anstieß, erlosch die Flamme, wie das Sterben der letzten Hoffnung.