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Der Busch
Ein heißer Sommertag. Das Eis rinnt über ihre Fingerspitzen und doch friert sie.
„Pistazie, Walnuss“, sagt er. „Wie kann man so was nur mögen, Anne?“
Der ausdruckslose Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn quittiert, spricht Bände. Sie haben sich schon lange nichts mehr zu sagen. Er zündet sich eine Zigarette an und stößt Rauch durch seine Nasenlöcher aus. Sie hasst seine Art zu rauchen. Angewidert, konzentriert sie sich wieder auf ihr tropfendes Stanitzel. Er, großgewachsen, durchtrainiert, in teuren Markenklamotten und sie, zwei Köpfe kleiner, von zierlicher, aber sehr weiblicher Statur, in ihrem neuen Designerkleidchen, ergeben ein sehr hübsches Paar. Die wohlwollenden Blicke der Leute, die im Schlossgarten zwischen Rosenbeeten und gestutzten Büschen spazierengehen, berühren Anne schmerzlich. Sie zieht sich ihren Blazer über.
„Dir wird doch wohl nicht kalt sein?“, fragt er spöttisch. Sie antwortet nicht.
Stumm schlendern sie den breiten Betonweg entlang, den Duft der Rosen in der Nase.
Abrupt bleibt sie vor einem, zu einem Reh geschnittenen, Busch stehen. Sie sieht einen Blutstropfen aus der Pflanze auf den grünen, frischgemähten Rasen tropfen. Erschrocken zuckt sie zusammen. An immer mehr Stellen trieft der rote Saft herunter. Sie denkt an den Menschen, der diesem einst wunderschönen, natürlichen Lebewesen diese Wunden zugefügt hat. Sie sieht den „Künstler“ vor sich, wie er es mit der Kettensäge bearbeitet, ihm die Äste abschneidet, es verstümmelt. Ungeachtet der Schmerzen, die er ihm zugefügt, grinst er ein blutverschmiertes Lächeln, zufrieden mit sich und seinem Werk.
„Beeindruckend, nicht wahr?“ sagt Martin, der ebenfalls den Busch ansieht.
Er ist ihr Künstler, ihr Metzger. Er hat sie, das einst wilde, ungebändigte Wesen, beschnitten, zurechtgestutzt und eine leblose, hübsche Puppe geschaffen.
Eine Frau kommt auf die beiden zu. Ihre Schuhe sind so rot und spitz, wie ihre Fingernägel. Das ist eine von seinen zahlreichen Gespielinnen. Anne ist sich sicher. Auch wenn er ihr keine von ihnen vorstellt, weiß Anne, dass es sie gibt. Früher hat ihr das nichts ausgemacht, zumindest glaubt sie das. Sie ist die einzige, die er wirklich liebt. Sein Ein und Alles. Seine Kameradin. Sein willenloses Spielzeug.
Die Frau tut so, als würde sie ebenfalls den grünen Leichnam bewundern. Mit angespanntem Unterkiefer, verfolgt Anne Martins Blick, der auf dem dunklen Spalt im Ausschnitt der roten Frau, seine Ruhe findet. In der Sekunde klinkt Anne sich aus dem Geschehen aus.
Sie steht auf einer bunten Blumenwiese. Der Busch steht in seiner ursprünglichen Form vor ihr, unangetastet und wunderschön. Lichterwesen erscheinen.
„Da seid ihr! Meine Engel! Ihr seid wundervoll! Ich liebe euch!“, jubelt sie den Gestalten, in einem Singsang, zu. Sie breitet die Arme aus und dreht sich um sich selbst. Einige der Lichtergeister heben den Busch hoch und tragen in gen Himmel. Die anderen schweben um Anne herum. Glücklich tanzt sie mit ihnen und spürt deren durchdringende Wärme. Sie wispern ihr tröstende Worte zu, die ihre Augen mit Tränen füllen. Da hört sie eine Männerstimme, die ihren Namen ruft.
„Nein, noch nicht!", schreit Anne. „Ich will hier bleiben.“
Die Lichtgestalten verwandeln sich in dunkle Schatten, die sich langsam verziehen, bis nichts mehr von ihnen übrig ist.
Sie steht nackt im Schlosspark. Martin steht vor ihr mit drei uniformierten Männern.
„Schon gut, Herr Wachtmeister. Ich hab sie schon im Griff. Ist ja nicht das erste Mal.“ sagt er ruhig zu den Männern.
„Na komm schon, Anne!“
Gehorsam, wie ein kleines Mädchen, sammelt sie BH, Slip und Kleid vom Boden auf und geht zu ihm. Wortlos lässt sie sich von ihm ankleiden.
Hand in Hand gehen sie zu ihrem nagelneuen, metallfarbenen BMW und fahren nach Hause.