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- 08.07.2012
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Der dunkle Spiegel IV
Das Mata Hari-Programm
Lenka taumelte den Gang entlang. Zitternd fischte sie im Dämmer der Nachtbeleuchtung die Chipkarte aus ihrer Handtasche und hielt auf die letzte Tür des Korridors zu. Noch vor wenigen Minuten hatte sie sich über die Kameras Gedanken gemacht und über die Frage, wie sie möglichst unauffällig ihr Zimmer erreichen könnte. Doch für subtile Manöver war es jetzt zu spät.
Ein Hotelgast, ein älterer Herr in blauem Zweireiher, war vor dem Fahrstuhl stehengeblieben. "Je peux vous aider, Madame?" Lenka schüttelte den Kopf und schwankte dem Ende des Ganges entgegen. Auf ihren High Heels kam sie nicht mehr weiter. Schwer atmend blieb sie stehen, stützte sich an der Wand ab und schleuderte die Pumps von ihren Füßen.
Immerhin war es ihr gelungen, Suite 473 ungesehen zu verlassen. Sundberg hatte ihr dieses Detail der Mission eingeschärft: "Sobald man die Leichen findet, wird die Polizei jede Person unter die Lupe nehmen, die zu Messier und Duval Kontakt hatten. Also lassen Sie sich im Hotel nicht mit denen sehen."
Schweiß brannte in ihren Augen, als sie die Karte vor den Wandleser hielt. Das Schloss sprang mit einem metallischen Klicken auf. Lenka drückte die Klinke hinunter und wankte in ihr Zimmer. Nach allem, was sie über Aqua Tofana wusste, blieb ihr nicht mehr viel Zeit. Sollte sie jetzt bewusstlos werden, wäre sie innerhalb einer Stunde tot.
Sie schob die Tür hinter sich ins Schloss, stolperte im Dunkeln hinüber zum Schrank und öffnete ihn. Sie zog sich die Perücke vom Kopf, und warf sie auf den Boden. Während sie auf Knien in ihrer Sporttasche wühlte, spürte sie, dass ihr die Luft ausging. Sie ertastete die Innentasche; dort musste das Gegenmittel sein, doch ihre Hand griff ins Leere. Wo war diese verdammte Phiole abgeblieben?
In diesem Moment schaltete jemand die Leselampe über der Couchgarnitur ein, und eine Stimme in Lenkas Rücken sagte: "Ich glaube, Sie suchen das hier."
Lenka fuhr herum. Der Fremde saß auf dem Sofa im hinteren Teil des Raumes und hielt ihr mit gespielter Hilfsbereitschaft ein Glasröhrchen entgegen.
"Dimaval, ein Antidot zur Behandlung von Arsenik-Vergiftungen", sagte er. "Lassen Sie mich raten, Lenka – oder soll ich Sie Jackey nennen oder Mademoiselle Duroc, naja, was immer Sie bevorzugen – Sundberg hat Sie mit seinem berüchtigten Aqua Tofana ausgerüstet."
Lenkas Blick fiel auf ihren Laptop, der vor dem Fremden auf dem Kaffeetisch stand. Er hatte das Zimmer offenbar gründlich durchsucht.
"Wer sind Sie?", sagte Lenka, erhob sich mühsam und machte ein paar Schritte auf das Sofa zu.
"Meine Name ist Georg Hartmann", sagte der Fremde. Lenka blieb stehen, als sie sah, dass er eine Pistole aus seiner Softshell-Jacke zog.
"Setzen Sie sich doch dort in den Sessel, dann unterhalten wir uns", forderte er sie auf.
Einen Tag zuvor hatte Yves Lemaire, der sich selbst als Gangster der alten Schule betrachtete, in Wahrheit aber lediglich ein ebenso brutaler wie erfolgsloser Pariser Zuhälter war, ein unangenehmes Zusammentreffen mit Lenka. Lemaire kehrte gerade von seiner Nachtschicht heim und war eben im Begriff seine Wohnung zu betreten, als er einen schmerzhaften Druck im Genick spürte.
"So fühlt sich die Mündung einer Fünfundvierziger an, Penner! Mach die Tür auf, und geh rein." Lenka sprach Englisch, und sie wusste, dass Lemaire sie verstand. Sundberg hatte Dossiers zu allen Personen angefertigt, die dem Plan nach bei dieser Mission eine Rolle spielen würden. Und obwohl Messier und Duval zweifellos die größeren Verbrecher waren, widerte dieser schmierige Zuhälter Lenka so sehr an, dass sie ihm am liebsten auf der Stelle eine Kugel verpasst hätte.
Lemaire, dem man nicht zum ersten Mal eine Waffe in den Nacken bohrte, war weit davon entfernt, klein beizugeben. Er hob die Hände und drückte die Tür auf, doch dann drehte er sich mit einem Ruck herum, heraus aus der vermeintlichen Schusslinie und den Arm erhoben - bereit, Lenka die Pistole aus der Hand zu schlagen.
Lenka hatte es kommen sehen. Noch bevor Lemaires Schlag sie erreichte, stieß sie mit dem Fuß zu. Sie traf Lemaire mit Wucht, und er stürzte polternd in den Korridor seiner Wohnung.
"Schon ziemlich kaltblütig, ein Zimmer im Grand Hotel zu nehmen", sagte Hartmann und stellte das Glasröhrchen mit den Dimaval-Kapseln auf den Kaffeetisch. Er beobachtete Lenka, die schwer atmend vor ihm im Sessel saß. "Ich habe mich gefragt, was dahinter steckt."
Lenka blickte ihn schweigend aus geröteten Augen an.
"Dann habe ich das hier gefunden", fuhr Hartmann fort. Er legte seine Pistole neben sich auf das Sofa, beugte sich vor und öffnete den Laptop. Es wunderte Lenka nicht, dass er das Passwort kannte. Die Finger seiner schmalen Hände flogen über das Keyboard, und Lenka wusste, was jetzt kommen würde.
"Stellen Sie sich meine Überraschung vor", sagte Hartmann. Er drehte den Laptop herum, so dass Lenka auf dem Monitor das Fenster mit dem Livefeed aus Suite 473 sehen konnte.
"Erst beobachten, dann zuschlagen", sagte Hartmann. "Das ist Sundbergs Schule, nicht wahr? Er jagt wie ein Hai."
Das Kamerabild auf dem Monitor zeigte das Zimmer, so wie Lenka es wenige Minuten zuvor verlassen hatte – inmitten eines rötlichen Rauschens, das vom Kerzenlicht stammte, lagen Bettzeug und zerwühlte Laken auf dem Boden, umgestürzte Stühle, zerbrochene Flaschen und Gläser. In einem dunklen Winkel war Messiers verkrümmte Gestalt auszumachen. Sein Körper zuckte in schweren Krämpfen.
"Duval ist noch einmal kurz zu Bewusstsein gekommen und hat sich ins Bad geschleppt", sagte Hartmann. "Ich schätze, er ist bereits tot."
"Tja, danke für das Update", sagte Lenka. "Und jetzt wollen Sie mir beim Sterben zusehen?"
"Aber nein", entgegnete Hartmann. "Ganz und gar nicht. Ich würde nichts lieber tun, als Ihnen das Dimaval auf der Stelle zu geben. Aber wir haben vorher etwas zu erledigen."
Lemaire beobachtete aus whiskeytrüben Augen, wie Lenka eine Spritze aufzog. Er saß auf einem geraden, harten Stuhl in seinem Wohnzimmer, die Arme schmerzhaft auf den Rücken gebogen. Seine Hände hatte Lenka mit einem Kabelbinder hinter der Lehne gefesselt. Ein schmaler Streifen der morgendlichen Oktobersonne schnitt schräg durch das unaufgeräumte, düstere Zimmer.
"Du verdammte Fotze! Was wird das hier?", knurrte Lemaire.
Lenka fegte mit einem Arm Pizzaschachteln, leere Bierdosen und anderen Abfall vom Tisch und legte die Spritze so ab, dass die Nadel auf Lemaire zeigte.
Sie wandte sich ihm zu und sagte: "Ich habe von drei Frauen gelesen, die du ins Krankenhaus geprügelt hast."
Lemaire schwieg. In seinem grauen Gesicht leuchtete ein breites Lächeln auf, das kräftige, nikotingelbe Zähne zeigte.
"Eine dieser Frauen war schwanger, und das war ja auch der Grund, weshalb du sie geschlagen und getreten hast."
"Was soll ich mit einer schwangeren Nutte anfangen. Kannst du mir das sagen, Pétasse?"
"Dazu könnte ich dir einiges sagen, denn ich war in der gleichen Situation wie diese Frau."
Lenka sah sich im Zimmer um. Dann machte sie ein paar Schritte auf einen Schrank zu und öffnete ihn.
"Ich hatte allerdings das Glück, dass mein Kind überlebte."
"Dass die Fotze – wie hieß die noch gleich, Jasmin oder Jaqueline - eine Totgeburt hatte, war nicht meine Schuld", sagte Lemaire.
Lenka hatte den Schrank mit einem Ausdruck von Desinteresse durchstöbert, ein paar Kleidungsstücke lagen jetzt auf dem schmuddeligen Teppichboden.
"Der Mann, der mich damals schlug, lebt nicht mehr", sagte sie beiläufig und ging hinüber zur Wohnküche. Sie öffnete die Türen des Spültischs und holte eine massive Stahlblechkiste hervor. Lemaire verfolgte ihre Bewegungen mit schmalen Lippen. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.
"Werkzeug sollte nie in der Nähe von Wasserleitungen aufbewahrt werden", sagte Lenka wie zu sich selbst und hantierte in der Kiste.
"Also was soll das hier? Schickt Jasmin dich? Wird das so eine Rachegeschichte? Blut für Blut?"
Lenka ergriff ein Hammer und wog ihn nachdenklich in der Hand.
"Ich kenne diese Jasmin nicht", sagte sie schließlich.
Lemaire beobachtete, wie Lenka den Hammer zurück in die Kiste warf und einen schweren Engländer packte.
"Okay", sagte Lemaire, "also, was willst du dann von mir?"
"Soweit sind wir noch nicht", erwiderte Lenka, erhob sich und ließ die Rohrzange spielerisch durch die Luft kreisen. In ihren grünen Augen glomm ein Funke, der Lemaire frösteln ließ.
"Uns läuft ein bisschen die Zeit davon", sagte Hartmann, "deshalb beschränke ich mich auf das Wesentliche und fasse mich kurz."
Lenka kniff die Augen zusammen und holte tief Luft. Hartman ergriff seine Pistole. Die Art, wie er sie unter seine Jacke schob, verriet, dass er ein Schulterholster trug. Wäre Lenka in besserer Verfassung gewesen, hätte sie möglicherweise versucht, einen Angriff zu starten. Selbst jetzt noch, mit keuchendem Atem und unter Krämpfen zuckend, dachte sie kurz daran, den Tisch mit einem Fußstoß gegen Hartmanns Knie zu rammen, um dann … Doch es war aussichtslos. Das Gift in Lenkas Körper machte sie beinahe bewegungsunfähig.
"Sie haben es sicher bereits erfasst", sagte Hartmann. "Wir sprechen heute nicht zum ersten Mal miteinander."
Lenka wollte etwas erwidern, doch Hartmann hob die Hand. "Hören Sie einfach nur zu. Als Sie vor einem halben Jahr in Prag auftauchten und kurz darauf das modernste Methamphetamin-Labor Europas in die Luft flog, habe ich ein paar Monate mit intensiven Nachforschungen verbracht."
"Sie haben Lukáš damals vor mir gewarnt", sagte Lenka röchelnd.
"Tja, und wenn er auf mich gehört hätte, würde er heute noch leben", sagte Hartmann. "Wie Sie sich erinnern werden, habe ich Ihnen auch einen Rat gegeben."
"Sie sagten, ich solle mich von Sundberg fernhalten."
"Ich frage mich, ob Sie ihm meinen Anruf gemeldet haben." Er erhob sich, ergriff das Glasröhrchen und machte ein paar Schritte durch den Raum. Vor einem der Fenster blieb er stehen und schaute hinaus in die Pariser Nacht. Lenka betrachtete ihn genauer. Sein Alter konnte sie kaum schätzen; er hätte dreißig sein können oder auch vierzig. Er wirkte wie ein Mann, der Tag für Tag viel Zeit vor einem Bildschirm zubrachte – in seinen fahlen, abgespannten Gesichtszügen und der kurzsichtigen, leicht gebeugten Erscheinung zeigte sich der Typus des lungenschwachen Computer-Nerds.
"Vielleicht ahnten Sie ja, dass ich recht haben könnte", sagte Hartmann.
"Was zum Teufel wollen Sie von mir?", fragte Lenka erschöpft.
"Ich möchte Ihnen erklären, weshalb Sie hier sind", erwiderte Hartmann. Er drehte sich herum und begann, langsam im Raum auf und ab zu gehen. "Wissen Sie, wer Mata Hari war?"
"Ich habe keine Zeit für eine Geschichtsstunde", sagte Lenka, und machte Anstalten, sich zu erheben. Hartmann zog umständlich seine Waffe, und als er sah, wie Lenka ihn dabei beobachtete, lächelte er.
"Sie haben mich ausgekundschaftet, gratuliere! Aber wenn Sie das Dimaval wollen, dann sollten Sie sich anhören, was ich zu sagen habe."
Lenka sank zurück.
"Vor ziemlich genau siebenundneunzig Jahren wurde nicht weit von hier, in der Festung Vincennes, eine Frau standrechtlich erschossen, die man als größte Spionin des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet hat."
Hartmann blieb vor der Minibar stehen, öffnete sie und entnahm eine Flasche Vichy. Während er den Deckel abschraubte, schien er nicht recht zu wissen, wohin er mit der Pistole sollte. Entweder hatte dieser Mann niemals eine Kampfausbildung erhalten, oder er verstand es perfekt, sich zu verstellen.
"Ich möchte hier nicht auf Details eingehen", fuhr er fort, nachdem er getrunken hatte, "sondern nur festhalten, dass Mata Hari für ein jahrhundertealtes Konzept von Militär und Geheimdienst steht, nämlich für den Einsatz von Sex zum Zweck von Spionage, Manipulation und Irreführung."
Lenka bemerkte den Geschmack von Eisen auf ihrer Zunge, und sie wusste, dass die Blutungen einsetzten.
"Ihr feiner Herr Sundberg – der übrigens promovierter Historiker ist – hat vor etwa drei Jahren bei seinen Vorgesetzten einen ziemlich ausgefallenen Projektantrag eingereicht. Auf über einhundert Seiten erläutert der Mann da, welche Vorteile der gezielte Einsatz von Prostituierten für die geheimdienstliche Arbeit bietet und welche Möglichkeiten der Rekrutierung existieren."
"Ich kann nicht mehr", stöhnte Lenka.
Hartmann trat an sie heran und ergriff ihre rechte Hand. Während er den Puls fühlte, schaute er auf die Uhr an seinem Handgelenk.
"Das Gift breitet sich aus", sagte er schließlich. Er steckte die Waffe weg, legte sich Lenkas Arm um den Nacken und schleppte sie ins Badezimmer. Nachdem er sie in die Wanne gehievt hatte, drehte er das kalte Wasser auf.
Lemaires Zähne schlugen rasend und laut klappernd aufeinander. Vom Ansatz seines dünnen, grauen Haars floss der Schweiß in Rinnsalen das Gesicht herab. Lenka sah, dass er unter Schock stand – der Zusammenbruch stand unmittelbar bevor.
"Das war nur unsere erste Runde", sagte sie mitleidlos und ließ die Rohrzange auf den Boden fallen.
Sie ging hinüber zum Tisch und ergriff die Spritze.
"Das hier", sagte sie, "ist weit mehr, als du verdienst."
Sie trat an den Stuhl heran, auf dem Lemaire wie unter Stromstößen zitterte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie nicht Opfer, sondern Täter. Dieser Frontwechsel schien eine leichte Übung zu sein. Ob all die in den Jahren seit ihrer Kindheit erlittenen Demütigungen jetzt auf Vergeltung drängten, wusste Lenka nicht. Ihr war nur eines klar: Dieser Mann verkörperte eine weltweite Plage, ein spezielles Übel, das unzähligen Mädchen und Frauen das Leben zur Hölle machte.
"Ein Mix aus Morphin und Clorazepat", sagte Lenka, packte Lemaire an den Haaren und bog seinen Kopf zur Seite. Sie stieß die Stahlnadel in seinen Hals und drückte eine geringe Dosis in die Vene.
Als Lemaire einige Minuten später die klebrigen Augenlider hob und Lenka mit einer Mischung aus Hass, Furcht und Erschöpfung anblickte, sagte sie mit einer Bewegung des Kopfes hin zu seinen zertrümmerten Knien: "Das war erst der Anfang. Wenn du nicht kooperierst, breche ich dir jeden einzelnen Knochen."
Lemaire wollte etwas sagen, doch als er sah, dass Lenka nur auf ein Widerwort zu warten schien, schwieg er.
"Wo ist dein Telefon?", sagte sie. "Ich will, dass du einen Anruf für mich machst."
Hartmann saß auf dem Klosettdeckel, als Lenka die Augen aufschlug. Sie war nackt und zitterte am ganzen Leib, denn die Wanne, in der sie lag, war bis zum Rand mit kaltem Wasser gefüllt. Tatsächlich schwammen einige Eiswürfel zwischen ihren Knien. Offenbar hatte Hartmann den Zimmerservice bemüht.
"Sie hatten einen kleinen Blackout, aber jetzt geht es wieder", sagte er und erhob sich. "Wir müssen Ihren Kreislauf ein bisschen runterfahren, dann gewinnen wir Zeit."
Er hantierte am Waschbecken und als er sich wieder zu Lenka herumdrehte, hielt er ihr vier Dimaval-Kapseln entgegen. "Das ist die erste Dosis." Nachdem Lenka die Kapseln aus seiner Hand genommen hatte, reichte ihr Hartmann ein halbgefülltes Wasserglas.
Während er beobachtete, wie Lenka das Medikament schluckte, sagte er: "Es ist wichtig, dass Sie mir jetzt weiter zu hören, Lenka. Dieses Projekt, von dem ich sprach, wurde bewilligt. Es lief intern als Mata Hari-Programm – nicht zuletzt, weil Sundberg diese Frau in seinem Dossier erwähnt."
Lenka zitterte noch immer, aber entweder war es das Antidot oder die fiebersenkende Wirkung des kalten Wassers, jedenfalls fühlte sie sich ein wenig besser, und sie sagte mit bleichen Lippen: "Ich weiß wirklich nicht, weshalb Sie mir das erzählen."
"Verstehen Sie noch immer nicht, Lenka? Sundberg hat Sie für dieses Programm ausgewählt."
"Und wenn schon."
"Sundberg argumentiert so: Über achtzig Prozent aller für den Geheimdienst relevanten Zielpersonen sind Männer – Politiker, Botschaftsangehörige, Militärs, Funktionsträger in der Wirtschaft und so weiter. Der Einsatz einer attraktiven Agentin ist häufig wesentlich aussichtsreicher als jede andere Methode. Sundbergs Idee besteht darin, eine Sondergruppe von Frauen aufzubauen, die aus dem Prostitutionsgewerbe stammen. Und diese Frauen sollen so ausgebildet werden, dass man sie als Attentäterinnen einsetzen kann."
"Schwachsinn", sagte Lenka, stellte das Wasserglas auf den Wannenrand und stemmte sich mühsam hoch. "Geben Sie mir ein Handtuch."
Hartmann zog eines der weißen Badetücher aus dem Wandregal und legte es Lenka über die Schultern.
"Das ist die idiotischste Geschichte, die ich jemals gehört habe", sagte Lenka, während sie begann, ihren Körper trocken zu reiben.
Hartmann winkte ab. "In den sechziger Jahren gab die CIA fünfzehn Millionen Dollar dafür aus, Mikrofone in Katzen einzupflanzen, um sowjetische Botschaftsangehörige abzuhören. Aus dem gleichen Haus stammt die glorreiche Idee, einen Putsch im Iran zu organisieren oder das Projekt, eine kommunistische Partei in Panama zu gründen, um die Funktionäre als Doppelagenten nach Moskau zu schicken."
Lenka verdrehte die Augen und stieg aus der Wanne. "Ja, ja. Die CIA …"
"Die Geheimdienste ticken überall auf der Welt gleich", beharrte Hartmann. "Es ist ein Haufen paranoider Männer mit verrückten Ideen."
Lenka verließ das Bad, tappte ins Zimmer und ergriff eine Decke, die auf dem Sofa lag. Sie wickelte sich darin ein, und ließ sich in die Polster fallen.
"Es gibt einen Unterschied zwischen Agenten und Attentätern", sagte sie.
"Wirklich?", erwiderte Hartmann, der ihr gefolgt war. "Sie haben Messier überwacht, vielleicht sogar ein paar Telefonate über Ihr Kamerasystem hier aufgezeichnet. Aber der Zweck Ihrer Mission war es, Duval zu töten. Darum ging es und um nichts anderes."
Lenka war Laurent Messier einen Tag zuvor in einer Bar unweit des Gare du Nord zum ersten Mal begegnet. Für jemanden, dessen Aufgabe darin bestand, seinem Boss und Schwager im Wochentakt neue Frauen zuzuführen, machte Messier einen überraschend sympathischen Eindruck.
Er lächelte, als er zu Lenka an den Tisch trat. "Enchante, Mademoiselle Duroc! Ich werde Lemaire, diesem Kretin, einen Bonus geben müssen. Er hat eine ausgezeichnete Wahl getroffen." In seinem dunklen Maßanzug hätte man ihn für einen Broker aus dem QCA, dem Businesszentrum von Paris, halten können, doch seine Figur und Haltung bewiesen, dass er kein Geschäftsmann war. Lenka kannte die Akte Messier. Bevor Duval seine Karriere als Menschenhändler in der Straße von Gibraltar begonnen hatte, diente Messier als Sergent der Fremdenlegion.
"Ich habe uns eine Flasche Château Mouton-Rothschild bestellt", sagte er, während er sein Sakko öffnete und sich an den Tisch setzte.
Sundbergs Rechnung war aufgegangen. Messier unterhielt in Paris zu mehreren Kupplern Kontakt, vornehmlich solchen, die die Dienste von Edel-Prostituierten vermittelten. Doch es waren auch einige wahrhaft schäbige Gestalten unter diesen Zuhältern; Männer wie Lemaire, die Messier noch aus Zeiten kannte, in denen er sich als Türsteher am Place Pigalle durchschlug.
"Wie Sie bestimmt wissen", sagt Messier, "obliegt es mir, im Sinne von Monsieur Duval zu entscheiden, über dessen Vorlieben ich recht genau informiert bin."
Lenka zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, sah Messier in die Augen und sagte: "Das nehme ich an, da Sie ja zusammen ficken."
Messier betrachtete sie einen Moment lang erstaunt. "Sie sind also im Bilde. Ich hoffe, das ist kein Problem für Sie?", fügte er liebenswürdig hinzu.
Lenka entzündete eine Zigarette, inhalierte, und während sie den Rauch ausblies fragte sie: "Werden noch andere Mädchen dabei sein?"
"Nein, wir sind zu dritt."
Ein Ober trat an den Tisch, entkorkte eine Weinflasche, gab Messier einen Schluck zum Degustieren und schenkte danach in zwei Gläser ein. Dann wandte er sich an Lenka und sagte mit gedämpfter Stimme: "Das Rauchen ist hier nicht gestattet, Madame."
Ohne den Blick von Messier abzuwenden erwiderte Lenka: "Verpiss dich!" Der Ober verschwand mit zusammengepressten Lippen.
Messier hob lächelnd sein Glas. "Santé!"
Nachdem sie getrunken hatten sagte er: "Natürlich muss ich mich bezüglich Ihrer … Qualifikation absichern."
"Sie nehmen Ihren Job sehr ernst, wie?", sagte Lenka.
"Kommen Sie doch heute Abend um zehn Uhr ins Grand Hotel, Suite 473", erwiderte Messier. "Monsieur Duval wird heute nicht dabei sein. Wir haben also genug Zeit, um uns kennenzulernen."
"Ich möchte Ihnen sagen, was mit den Geheimdiensten des Ostblocks in den neunziger Jahren passierte." Hartmann hatte sich ebenfalls auf dem Sofa niedergelassen. "Ein Teil der alten Strukturen wurde von den neuen staatlichen Diensten übernommen. Aber es gab auch eine zweite Entwicklung: Einige der alten Kader – alles Profis auf ihrem Gebiet – gingen in die Privatwirtschaft."
"Ich verstehe nicht, was das bedeutet", sagte Lenka.
"Es bedeutet, dass sie den Staatsdienst verließen und private, halblegale Netzwerke aufbauten. Sie wurden Dienstleister in den Bereichen Informationsbeschaffung, Abschirmung und Infiltration."
Lenka nickte. "Und Sie arbeiten für ein solches Netz."
"Das ist richtig", sagte Hartmann. "Ich handle mit Informationen."
"Sie stehen also im Dienst der tschechischen Meth-Mafia?"
"Nun, ich habe mehrere Klienten", erwiderte Hartmann selbstgefällig. "Und damit komme ich zu meinem Angebot."
Er schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk.
"Es wird Zeit für die zweite Dosis." Lenka sah, wie das Glasröhrchen durch die Luft wirbelte. Sie fing es auf und schaute Hartmann fragend an.
"Eine Geste des Vertrauens", sagte Hartmann, erhob sich, ging zur Hausbar und kam mit einer Flasche Mineralwasser zurück. "Ich habe keine genaue Vorstellung davon, warum Sie Sundberg an den Haken gegangen sind. Müsste ich auf eines der klassischen Motive tippen, dann glaube ich bei Ihnen weder an Abenteuerlust noch an irgendwelche politischen Überzeugungen."
Lenka spürte, dass die Schwäche allmählich ihren Körper verließ, und instinktiv fragte sie sich, mit welchen Mitteln sie Hartmann außer Gefecht setzen könnte.
"Also worauf tippen Sie dann?", sagte sie. Hartmann hatte ihr das Mineralwasser über den Tisch geschoben, und nun nahm sie vier weitere Kapseln des Gegengiftes ein.
"Auf Wunschdenken", erwiderte Hartmann. "Sie hoffen, Sundberg könnte Ihnen dabei helfen, eine neue Zukunft für sich und Ihre Tochter aufzubauen. Aber das ist natürlich ein Irrtum, denn Sie sind diesem Mann völlig egal."
"Und Ihr Angebot?"
"Ich habe Ihnen gesagt, dass ich mit Informationen handle, Lenka. Und die Information, wie man Sundberg zur Strecke bringen könnte, wäre äußerst wertvoll für mich. So wertvoll, dass ich in der Lage bin, Ihnen mehr zu zahlen, als Sie sich vorstellen können."
"Das heißt, ich soll Ihnen Sundbergs Kopf liefern?"
"Nur die Information, wie man ihn erwischen kann. Die Schmutzarbeit erledigen dann andere."
"Und wie viel bieten Sie mir dafür?"
"Eine schöne runde Million und einen Neustart in den Staaten."
"Wenn Monsieur Duval morgen zu uns stößt", sagte Messier, "ist es wichtig, dass Sie sich an ein paar Regeln halten." Lenka schaute sich in der Suite um, und dabei streifte ihr Blick das üppige Blumenarrangement auf dem Wandregal am hinteren Ende des Raumes. Vielleicht beruhte ihre Einschätzung auf einem Vorurteil, aber sie war überzeugt, dass keiner der beiden Männer das zwischen Löwenmaul und Lilien verborgene Kameraauge bemerken würde.
"Bitte verzichten Sie auf Übertreibungen, Mademoiselle Duroc. Monsieur Duval schätzt es nicht, wenn eine Frau ihm die hysterische Nummer vorspielt."
"Verstehe - Sandwich aber kein Geschrei", bemerkte Lenka sarkastisch und ließ sich auf der Chaiselongue nieder, die zusammen mit einem niedrigen Tisch vor zwei hohen Fenstern der Suite stand.
Messier lachte auf. "Wenn Sie so wollen!"
"Okay, was noch?"
"Tja, nun, das geht in die gleiche Richtung", sagte Messier. "Monsieur Duval hat vor einiger Zeit seine – sagen wir – passive Seite entdeckt."
Lenka hob die Augenbrauen. "Und das bedeutet?"
"Er wünscht, dass Sie gewissermaßen das Kommando übernehmen."
"Und wie weit soll das gehen? Beschimpfung, Züchtigung, Demütigung und so weiter?"
"Um Ihnen das zu demonstrieren, machen wir heute so eine Art Generalprobe."
Messier setzte sich zu Lenka. "Beginnen wir mit den Dessous", sagte er. "Bitte stehen Sie auf, und ziehen Sie sich aus, dann werde ich Ihnen sagen, ob wir das verwenden können."
Lenka erhob sich, machte ein paar Schritte in den Raum und drehte sich dann wieder zu Messier herum.
"Wie gefällt Ihnen mein Kleid?"
"Atemberaubend", sagte Messier. "Monsieur Duval liebt dieses Rot. Er wird begeistert sein."
Lenka betrachtete Messiers freundliches Gesicht. Dieser Mann hatte einen Weg gefunden, sich hinter den Verpflichtungen seines Jobs zu verbergen. Es war offensichtlich, dass dieser Abend vornehmlich seinem eigenen Genuss diente, doch er spielte noch immer den beflissenen Angestellten.
Als Lenkas Kleid an ihrem Körper herab glitt, saß Messier andachtsvoll mit übergeschlagenem Bein auf dem Sofa und betrachtete sie mit einem sonderbaren Ausdruck.
"Ein Meisterwerk", sagte er dann pathetisch. "Eine klassische Korsage – das hatten wir lange nicht." Er räusperte sich. "Monsieur Duval wird es lieben."
Ein Moment der Stille zeigte an, dass der Abend nun seinen Wendepunkt erreicht hatte.
Mit überraschender Gewandtheit schnellte Messier von der Chaiselongue empor und packte Lenka im Genick. Er stieß sie auf die Knie, und versetzte ihr mit der flachen Hand einen klatschenden Schlag auf den Hintern.
"Zeit für unseren Probedurchlauf", keuchte Messier, bebend vor Lust und zog den Gürtel aus seiner Hose.
"Ich behaupte nicht, dass ich Sie kenne", sagte Hartmann. Er war auf dem Sofa ein Stück näher an Lenka herangerückt, so dass sie ihn beinahe mit dem Arm berühren konnte. Lenka spürte, dass das Antidot wirkte - sie fühlte sich besser, ihre Kräfte kehrten zurück.
"Das, was ich über Sie in Erfahrung bringen konnte, passt auf ein Blatt Papier. Aber ich möchte Ihnen etwas zeigen."
Hartmann tippte auf das Finger-Pad des Laptops, und als dieser aus dem Ruhemodus erwachte, erschien erneut das Kamerabild aus Suite 473 auf dem Monitor.
Lenka beobachtete Hartmann, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie in Gedanken die Optionen eines Angriffs durchging. Ein Faustschlag würde ihn wahrscheinlich erreichen, aber Lenka bezweifelte, dass sie schon wieder genügend Kraft besaß, um Hartmann mit einem Hieb niederzustrecken. Vielleicht wäre es besser, eine Beinschere anzusetzen.
Hartmann drückte eine Taste und sagte: "Ich springe neunzig Minuten zurück. Was jetzt kommt, passt als Footage in ein Video von den Nine Inch Nails."
Während das Kamerabild auf dem Monitor zeigte, wie Lenka gemeinsam mit Duval und Messier anstieß, überlegte sie, ob sie sich in der richtigen Position für eine Schenkelwürge befand. Sie müsste ein Bein über Hartmanns Kopf schwingen.
"Ich springe zehn Minuten vor", sagte Hartmann – im rötlichen Flackern des Kerzenlichts durchschritt Lenka die Suite, Duval kniete nackt auf dem Parkett, eine Gerte oder Rute zwischen den Zähnen.
"Ich bin kein Psychologe, Lenka", sagte Hartmann, der fasziniert das Geschehen auf dem Monitorbild verfolgte. "Aber ich habe eine Theorie."
Aus dem Lautsprecher des Laptops tönten Duvals Schreie, als Lenka ihn - zornentbrannt wie eine Furie – peitschte und durch die Suite jagte. Messier hielt sich im Hintergrund.
Hartmann schien nicht zu bemerken, dass Lenka ein wenig näher gerückt war.
"Weitere zehn Minuten, hier gibt es Hardcore-Action." Während Hartmann beobachtete, wie sich Lenka unbekleidet auf Duval niederließ, schüttelte er den Kopf. "Sex für Geld, das ist eine Sache", sagte er nachdenklich. Er drückte erneut eine Taste, der Film sprang weiter, und die nächste Aufnahme zeigte Lenka – sie hatte sich von Duval gelöst – beim Einschenken von Champagner. Messier entkleidete sich im hinteren Teil der Suite, Duval lag erschöpft am Boden.
"Aber Sex einsetzen, um zu töten - das ist wahrhaft perfide."
Lenka rückte noch ein Stück näher an Hartmann heran. Eine Beinschere würde ihm nicht viel Zeit lassen - zwanzig oder dreißig Sekunden maximal. Spätestens dann hätte sie ihm entweder einen Nackenwirbel gebrochen oder das Blut der Halsschlagader abgedrückt.
"Hier sieht man, wie Sie die Phiole aus der Perücke ziehen, und das Gift in den Champagner mischen", sagte Hartmann beeindruckt und ließ kurz darauf den Film wieder ein Stück nach vorn springen.
Lenka holte tief Luft. Es war wie ein Symbol all der Sinnlosigkeit des Universums, dass Hartmann seine letzten Augenblicke mit dem Anschauen einer Sex-Szene verschwendete. Doch gerade als Lenka die Decke zurückwerfen und das Genick ihres Opfers in die Zange nehmen wollte, sagte Hartmann: "Sundberg führt Sie nicht in ein besseres Leben, Lenka. Er holt Ihre Dämonen ans Licht, macht Sie zu einer Mörderin. Und wenn er Sie nicht mehr braucht, beseitigt er Sie."
Lenka hielt inne.
"So werden Sie das Leben, das Sie sich für sich selbst und für Ihre Tochter wünschen, nicht finden."
Auf einen Tastendruck hin sprang der Film wieder ein Stück vor.
"Hier können Sie sehen, wozu Sundberg Sie machen will", sagte Hartmann. "In dem Durcheinander wurden die Gläser verwechselt, und deshalb haben Sie schließlich alle drei das Gift getrunken."
Auf dem Monitor war Messier zu sehen. Er stolperte durch die Suite, wild mit den Armen rudernd. Offenbar hatte er bemerkt, was vor sich ging und schwankte dem kleinen Tisch entgegen, auf dem das Zimmertelefon stand. Lenka verstellte ihm den Weg - auch sie wirkte jetzt schwer angeschlagen. In einem kurzen Kampf versetzte sie Messier einen Stoß mit dem Knie. Er ging zu Boden und blieb zitternd liegen.
Als Hartmann den Film stoppte, zeigte das Standbild Lenka, die sich über Messier beugte und mit einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit zu einem weiteren Schlag ausholte.
"Das ist Ihre Zukunft, Lenka", sagte Hartmann dramatisch, "wenn Sie bei Sundberg bleiben."
Eine Stunde später checkte Lenka aus. Als sie im Taxi dem Flughafen von Paris entgegenfuhr, fragte sie sich, wie viel Wahrheit in Hartmanns Worten steckte. Sollte es in ihr tatsächlich eine dunkle Seite geben - eine Schattenwelt, in der sich blutdurstige Rachegeister regten? Hatte der Kontakt zu Sundberg diese Welt freigelegt? In jedem Fall musste sie jetzt eine Entscheidung treffen.
Kurz bevor sie ins Flugzeug stieg, tippte sie eine Nachricht an Sundberg in ihr Telefon. "Bin auf dem Rückflug nach Berlin. Alles Geschäftliche erledigt. Keine Zwischenfälle. Ausführlicher Bericht morgen bei Treffen im Büro."