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Der Durchbruch
(überarbeitete Version)
Er hatte soviel geredet, bei den ganzen letzten Terminen, und jetzt, plötzlich, bei einem einzigen Satz, schnappte die Falle zu, und das gleich zweimal.
„Ich will nicht, dass Sigrun dick wird.“
Ein einfacher Satz, doch Bernhard war über sich selbst erstaunt. Schließlich war er einer von den „neuen Männern“, nicht nur auf Äußerlichkeiten fokussiert, und das lebte er ganz bewusst. In manchen Kreisen können Frauen heute gefahrlos lustvolle Bemerkungen über Männerkörper vom Stapel lassen, doch bei Männern heißt es sofort: “Er ist halt ein Chauvi!“ Und wenn es keiner sagt, setzt zumindest die Selbstzensur ein. So auch bei Bernhard.
Er überlegte. Er hatte Sigi doch nicht allein wegen ihres Aussehens geheiratet. Warum also dieser Unwille, warum dieser Satz, warum seine aufgeschreckte Reaktion darauf? Und dann: Warum hatte er sich bloß versprochen und nicht Sigi oder Sigrid gesagt? Warum der Name seiner Schwester?
Es dröhnte und rauschte in seinem Kopf, wie er es in all den Wochen der Therapie nicht erlebt hatte. Dabei hatte er soviel erzählt, von Sigi, den Schwierigkeiten, dem Streit. Auch über seine Gefühle hatte er gesprochen, doch niemals hatte es ihn wirklich berührt. Und jetzt dieser banale Satz! Durch ihn war eine Tür ins Schloss gefallen; er konnte nicht mehr zurück. Jetzt war es ernst geworden; er konnte nicht länger von-sich-weg-reden. Er hatte nur noch die Wahl: entweder stellte er sich dem Kampf , oder er musste sich eingestehen , dass er Veränderungen nie wirklich gewollt hätte. Damit wäre auch diese ganze Beratung, in der er seine Beziehung klären wollte, eine einzige Farce! Das konnte er nicht mit seinen Ansprüchen vereinbaren, und so blieb ihm nur der Kampf.
Ulla, seine Therapeutin, sah ihn aufmerksam an. Das Rauschen in seinem Kopf war angeschwollen. Er saß stumm da, wie versteinert, und konnte kaum verstehen, was sie zu ihm sagte. Die Angst nahm verschiedene Gestalten an und schwirrte vor ihm durch die Luft: dunkle, düstere Schatten.
Und ein Gefühl stieg in ihm auf; in einem Fleckchen des Magens beginnend breitete es sich aus, bald füllte es den ganzen Oberbauch: Ekel. Langsam kroch er die Speiseröhre hinauf, griff auf die Luftröhre über und lagerte sich als zäher Schleim an ihren Rändern ab. Wie widerlich! Weiter pflanzte er sich fort, teilte sich in unzählbare Wesen, die wie Amöben weiterschlichen, um den Brustraum völlig zu bevölkern. Schon spürte er sie in der Kehle; unaufhörlich schoben sie sich weiter.
„Ich habe Angst, ich muss kotzen, wenn ich jetzt den Mund aufmache“, zischte er durch die geschlossenen Zähne. Er fürchtete schon, Ulla hätte ihn bei dem ganzen Lärm nicht verstanden, und er müsste eine neue Anstrengung unternehmen, um sich ihr mitzuteilen. Doch da hörte er schon ihre mitfühlende Stimme:
„Das glaub ich dir, nach dem, was du alles geschluckt hast in letzter Zeit.“
Und sie schob ihm den Papierkorb hinüber , sagte: „Lass es raus. Wenn du brechen musst, tu´s.“
Noch während er sich vorstellte, wie der Brei aus seinem Magen sich über das zerknüllte Papier ergießen würde, verwandelten sich die Kriechtiere in kleine Schmetterlinge, die kitzelnd und kratzend durch Brust und Rachen flogen, so dass er fürchterlich zu husten begann. Und langsam, ganz allmählich, bei jeder Hustenwelle, begann der dicke Schleim sich zu lösen, und eitrig gelb wurde er abgetragen und ausgeworfen.
Während sein Verstand – ein passiver Beobachter jetzt – sich dem Geschehen nachzukommen mühte, entstand, bevor er durch Erklärungen etwas hemmen konnte, etwas Neues in ihm, ein unerklärliches Gefühl.
„Wie alt bist du jetzt?“, kam Ulla ihm zu Hilfe, und wirklich fühlte er sich klein und hilflos wie ein Junge.
„So sieben, acht, vielleicht auch jünger“, sagte er, ohne dass sich sein Verstand gebührlich gegen diese Unlogik wehrte.
„Und wer ist bei dir?“
Vor seinen Augen entstand schemenhaft Sigruns Bild.
„Meine Schwester“, gab er zur Antwort.
„Und was macht sie?“
„Jetzt nichts, aber gerade hat sie mich verhauen“, sagte Bernhard kleinlaut.
„Und was machst du?“
„Ich?“ Was sollte ein kleiner Junge wie er gegen seine fünf Jahre ältere Schwester unternehmen?
„Ich stehe da. Bin wütend.“
„Gut, lass sie zu, diese Wut. Was willst du tun?“
„Ich will´s ihr heimzahlen. Ihr wehtun.“ Dabei ballte er seine Hände zu Fäusten, fest, immer fester, bis sie zu zittern begannen.
„Bernhard, ich möchte dir etwas vorschlagen...“, fing Ulla an, und er wusste, was jetzt kommen sollte. Sie würde ihn jetzt bitten, sich auf den Boden zu setzen und Kissen vor ihm auftürmen, auf die er dann einschlagen sollte. Das war das erste gewesen, was er über Psychotherapie gehört hatte: Verrückte, die wie Wilde schrien und um sich schlugen und sich auf abscheuliche Weise gehen ließen. Das hatte ihn immer abgestoßen. Er war ein selbstbeherrschter Mann, gefühlvoll zwar, aber in Grenzen. Deshalb war er auch so froh gewesen, als sich die Beratung als so ganz anders als das Klischee erwies: sich unterhalten mit einer lebensfrohen Frau, bequem in einem Sessel, Streitgespräche wiedergeben, als wären sie Anekdoten.
Und wieder war eine Falle zugeschnappt, er stand im Türbogen und musste sich erneut entscheiden: entweder das fremde Terrain betreten oder zurückweichen. Noch immer spürte er die Spannung in seinen Unterarmen, und irgendwas drängte in ihm, drückte ihn vorwärts, vorbei an seinem Widerwillen, seinen Maßstäben, vorüber an dem Wesen in ihm, das für seine Selbstbeherrschung zuständig war und das die ganze Zeit „lächerlich, lächerlich“ vor sich hinbrüllte.
Und dann hockte er auf dem Boden, sah wieder seine Schwester Sigrun vor sich, groß aufgebaut wie damals, mit einem spöttischen Blick. Diese Demütigung drohte ihn zu erdrücken; seine Wut begann zu rasen wie ein wildes Tier und wuchs , und als er meinte, nicht mehr standhalten zu können, verschlang sie die Angst vor diesem riesenhaften Gegner, und seine Fäuste schlugen zu.
„Ich wollte warten, bis ich groß bin...“, keuchte er zwischen den Schlägen, „und dann sollte meine große Rache kommen. – Dann wollte ich dich vermöbeln – einmal nur – dass dir schwindlig wird – du nicht mehr richtig sehen und hören kannst – dass dir einmal klar wird, was du all die Jahre mit mir gemacht hast – dass du bereust – mich um Verzeihung bittest. – Aber dann...“, dabei schlug er besonders heftig auf die Kissen ein, „als i c h anfing zu wachsen, da bist du dick geworden, richtig fett – und sc h w e r e r als ich! Und damit immer noch stärker!“
Und endlich brachen die Tränen durch, die so lange darauf gewartet hatten, all den Kummer hinauszuschwemmen, das ganze Leid des kleinen Jungen. Er ließ sich auf die Kissen fallen und schluchzte und schluchzte. Diesmal war er ganz in seinem Gefühl, so dass er nicht merkte, wie das tiefe Grollen in seiner Kehle sich wandelte in leises Wimmern, bis irgendwann, als alles draußen war, auch dies verstummte. In dieser Leere entfaltete sich ein wohliges Gefühl, eine entspannte Mattigkeit, wie sie sonst nur selten kam; bei einem besonders schönen Liebesspiel vielleicht, wenn er seinen Samen ausgestoßen und in Sigis warmem Körper mit ihrer Feuchtigkeit vermischt hatte. Er blieb noch liegen, und nach Ullas zusicherndem „Lass dir Zeit!“ gab er sich ganz der Ruhe in ihm hin.
Erst später, bevor er einen Blick auf Ulla wagte, kam sein Schamgefühl wieder durch. Er hatte sich ihr ausgeliefert, sich völlig offen, schutzlos gezeigt. Doch dies war nicht wie ein flüchtiges Abenteuer, bei dem die Teilnehmer es eilig haben, die vermischten Körpersäfte abzuspülen und der Peinlichkeit zu entkommen, die an solchen Treffen klebt. Dies war eher wie die Begegnung zweier Menschen, denen die Muße bleibt, sich langsam loszulassen.
Ullas Blick zeigte Freude, als sie sagte:
„Jetzt bist du eingestiegen. Ab jetzt können wir arbeiten.“
Und auf sein verdutztes Gesicht erwiderte sie:
„Doch, du hast eine Menge geschafft!“
Da wurde ihm klar, dass dies wirklich nur der Anfang war. Er war nicht mehr der kleine Junge, der seine Schwester für unbesiegbar hielt. Es lag doch bei ihm, wie viel Macht sie noch über sein Leben ausüben konnte. Und seine Beziehung zu Sigi. Es gab soviel zu lernen.
Die Zeit des Plauderns war vorbei; jetzt ging es weiter, und damit kamen neue Schwierigkeiten. Er hatte sich eingelassen auf diesen Weg, auf die Beratung und damit auch auf Ulla, für die er doch nur ein Klient war.
„Das kriegst du schon klar“, sagte sie, als wenn sie seine Gedanken erraten könnte. „Lass dir Zeit.“