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Der (Ein)Druck einer Begegnung

Lev

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06.02.2007
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Der (Ein)Druck einer Begegnung

Schneidend kalt umbläst mich der Wind, als ich vor dem gähnenden Loch stehe, dessen Durchschreiten mich über ein Jahr mit wildfremden Leuten zusammenpferchen wird. Leute, die ich nicht kenne, die mich nicht kennen, mich wahrscheinlich nicht einmal kennen wollen. Junge, da mußt du durch, sagt meine innere Stimme vorlaut wie immer. Ich gehe durch, vorsichtig - aber bestimmt.

Meine Willenskraft treibt mich voran ins Stiegenhaus, rechts zum Aufzug und da ...
... stehen Leute. Irgend jemand spricht mich an. "Auch zum Kurs?" Ich drücke ein gequältes "Ja" durch die Lippen.

Wer ist das? Was will der von mir? Kenn ich nicht, muß ich nicht kennen. Nur ein Jahr. Mit links!

Der Aufzug hat gestoppt. Die Person, die mich angesprochen hat, habe ich längst vergessen. Ah, der kleine Saal. Düsteres Ambiente. Passend. Was soll's? Hinein! Man begrüßt sich. Vorsichtig, lauernd. Leute, die sowieso zusammenarbeiten, rotten sich zusammen. Sicherheitshalber - nehme ich an. Gute Freunde sind selten. Überhaupt jetzt und hier. Aha, es gibt zwei Mehrheiten. Mir doch egal. Siegesgewiss lächle ich mein Vor-euch-fürcht-ich-mich-schon-gar-nicht-Lächeln. Keiner hat's bemerkt. Glück gehabt.

Der Raum füllt sich. Kalter Schweiß auf meiner Stirn. Noch immer niemand, den ich kenne. Aber ich bin stark. Ich schreite energisch auf eine Gruppe von drei leeren Sesseln zu und besetze den mittleren. Wegen des Überblicks, warum auch sonst? Nachzügler treffen ein. Ah, endlich, ein bekanntes Gesicht. Ich lächle sie an, sie lächelt zurück. Mann, bin ich selbstbewußt.

Komm, Susanna, setz dich neben mich. Bitte. Bitte! Wir müssen uns vertrauen, gerade hier - im Feindgebiet. Danke. Wunderbar! Jetzt geht es aufwärts. Susanna kenne ich, nicht gut, aber immerhin. Ich sag's ja - aufwärts. Da nickt mir auf einmal eine Frau zu. Ich nicke zurück, den Anschein erweckend, sie zu kennen.

Verdammt noch mal, wer ist das? Egal. Leise unterhalte ich mich mit Susanna, denn wem soll man vertrauen.

Die Gespräche versiegen. Unruhe kommt auf. Alle sind da, außer den Kursleitern. Endlich treffen sie ein. Der Chef und der oberste Lektor. Die habe ich wenigstens schon früher einmal gesehen, sogar mit ihnen gesprochen. Immerhin ein Anfang.

Ein Anfang von was? Vom Ende?

Man verspricht uns eine Doppelconference. So etwas ist lustig, oder?

Doch bald vergeht einem die Lustigkeit. Gruppendynamische Spiele zum Kennenlernen, versichert man uns. Doch was sind das für Spiele? Man gruppiert uns in Ticket- und Computerbüchereien. Ich fühle mich sekkiert. Nun in Männer und Frauen. Ich bin frustriert. Dann in B- und C-Kräfte. Diskriminiert. Sinnvoll scheinen nur die Namensschilder. Endlich: Große Pause! Wir werden für den nächsten Unterrichtsteil um Lebensläufe gebeten. Nur mündlich, Schriftliches wäre nicht nötig, so sagt man uns.

Pause. Entspannung. Kaffee. Noch immer sitzen wir in denselben Gruppen wie im Saal. Ja, das Misstrauen ist groß. Jetzt erst Recht, wo es um Lebensläufe geht: die dunklen und schrecklichen Geheimnisse unserer selbst. Von einem Tisch wird herübergebrüllt: "Schreibt ihr schon eure Lebensläufe?" Unser Tisch verneint kollektiv. Das ist Gruppendynamik!
Einer erzählt, wir würden für die zusätzlichen Arbeitsstunden, die wir im Kurs verbringen, Extragehälter bekommen. Alles verstummt. Die Augen beginnen zu leuchten, die Herzen zu hoffen. Doch unser aller prüfenden Blicke hält der Sprecher nicht stand. Ein Scherz. Ha! Ich sage es ja, nur niemand vertrauen.
Auch die längsten Pausen enden. Wir schleppen uns zurück. Natürlich freudig.

Wieder angekommen, wird uns schalkhaft vermittelt, dass die Lebensläufe doch schriftlich benötigt werden, um sie an die Wand zu pinnen. Alle sind glücklich. Überhaupt die ersten im Alphabet, zu denen ich, verdammt noch mal, dazu gehöre. Nach meinem mündlichen Auftritt bin ich darum gezwungen, schnell einen Lebenslauf niederzuschreiben. Wäre alles kein Problem, würde nicht einer der Kursleiter direkt neben mir sitzen, wohlwollend lächelnd. Peinlich. Da war Schummeln in der Schule spannender. Aber anderseits: Warum nicht? Ich bin stark genug. Denke ich.

Immerhin stellt sich im Rahmen dieser Lebenslaufrunde heraus, welch lustiger Haufen wir eigentlich sind. Dachdecker mit Epilepsie, gescheiterte Buchhändler, gelangweilte Jazz-Club-Besitzer, abgewählte Kleinstpolitiker oder schlicht Lebenslaufverweigerer. Dann gab es da noch eine Geschichte mit österreichischen Au-Pairs in Frankreich und französischen Au-Pairs in Österreich. Aber das war mir dann eindeutig zu hoch.

Endlich Schlußpfiff. Ab in meine Bücherei. Wo ich den Leuten vertrauen kann. Hoffentlich.

 

Kurze Erläuterung zum obigen Text.

Kursiv habe ich nur einen Satz gestellt, da gerade an dieser Stelle, glaube ich zumindest, Verwirrung aufkommen würde. Diese Momentaufnahme ist schon einige Jährchen alt und damals habe ich sie als eine Art Gedankenprosa gesehen. Da ich sie von all meinen Ideen für meinen ersten Textbeitrag in dieser Rubrik am Geeignetsten befand, habe ich sie im Kern belassen und nur hie und da ein bißchen stilistisch nachgebessert.
Der Begriff "sekkieren" ist in Österreich durchaus gebräuchlich und heißt soviel wie belästigen, quälen, hänseln.
Hoffe trotzdem, ein wenig Unterhaltung mit dieser Geschichte bieten zu können.
Danke! Und jetzt: Feuer frei!

LG
Lev

 
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Hallo Lev,

willkommen hier im Forum. Viel Spaß bei allem was nun kommen wird.

Zu deiner Momentaufnahme.

Du hältst dich recht präzise daran, was der Titel bereits ankündigt. Vieles ist nachvollziehbar für all jene, die in ähnlichen Situationen gesteckt haben, und da gibt es sicher sehr viele. Du bringst das alles schnörkellos auf den Punkt. Ein fast "dokumentarischer" Stil, der sich keine Ausbrüche erlaubt. Das liest sich sehr alltäglich, und verzichtet auf Möglichkeiten, diese Urangst innerhalb einer fremden Gruppe besonders individuell und einzigartig zu beschreiben. Es bleibt relativ allgemein, was zweifellos auch Absicht ist.

So liest sich der Text vertraut, dem Leser ähnliche Erlebnisse und daraus resultierende Empfindungen bestätigend, ohne darüber hinaus Einsichten oder Erkenntnisse zusätzlich zu vertiefen oder ihnen einen neueren (interessanteren?) Blickwinkel abzugewinnen.

Fazit: Unterhaltsam auf alle Fälle, aber irgendwie einen Tick zu ... spröde.

Was mir auffiel:

Zitat: Wegen dem Überblick

Mittlerweile darf man es glaube ich so schreiben, aber ich finde "Wegen des Überblicks" immer noch die elegantere Lösung.

Zitat: Von einem Tisch wird herrübergebrüllt: "Schreibt ihr schon eure Lebensläufe?" Unser Tisch verneint kollektiv. Das ist Gruppendynamik!

"brüllen" finde ich in einem Raum, in dem nicht gerade jugendliche Schüler sitzen, etwas zu stark. Ein Rufen würde vielleicht etwas besser passen. Außerdem ist da ein "r" überflüssig.

Grüße von Rick

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke @Rick für die Kritik
(ist ja bisher wesentlich sanfter, als ich befürchtet habe)

Wegen des Überblicks: ganz deiner Meinung, eindeutig ein Fehler. Gleiches gilt für das r zuviel. (geändert)
Das "Brüllen" war schon beabsichtigt, sollte ein wenig die Übersensibilität in solchen und ähnlichen Situationen darstellen.

Das Spröde ist nicht ganz unbeabsichtigt.

Wie? Es gibt interessante Blickwinkel bei so etwas? :dozey:

Nochmals Danke
Lev

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Lev!

Ich hab den Eindruck, dass der Text keine genaue Richtung hat: An manchen Stellen wirkt er wie eine Satire auf eine alltägliche Kurssituation, dafür ist er aber zu realistisch. Der teilweise abgehackte Stil legt dem Leser nahe, dass der Ich-Erzähler seine Eindrücke während des Kurses auf seinen Notizblock kritzelt - das find ich gut gewählt, das gibt Unmittelbarkeit. Außerdem hast du die gruppendynamischen Prozesse, und was dabei im Inneren des Ich-Erzählers vorgeht, gut beschrieben - das hätte aber durchaus etwas ausführlicher und genauer sein können. So kommt man als Leser nicht wirklich ganz rein, das ungute Gefühl, das der Erzähler bei diesem Kurs offensichtlich hat, erscheint nicht ausreichend motiviert. Es wird nicht klar, woher die Ängste und Befürchtungen kommen. So bleibt das Ganze ein bisschen an der Oberfläche.

Von einem Tisch wird herübergebrüllt: "Schreibt ihr schon eure Lebensläufe?" Unser Tisch verneint kollektiv. Das ist Gruppendynamik!
:D

Fehler:

Ich sage es ja, nur niemand vertrauen.
niemandem
Überhaupt die ersten im Alphabet, wo ich, verdammt noch mal, dazu gehöre.
Besser: die ersten im Alphabet, zu denen ich, ..., gehöre.
Da wa war Schummeln in der Schule spannender.
„wa“ zuviel

Gruß
Andrea :)

 

Hallo Lev,

Eigentlich bin ich ja kein großer Freund solcher Momentaufnahmen, doch dieser Text gefiel mir. Du offenbarst eine feine Beobachtungsgabe, jedes Wort wirkt genau abgewogen und passend gewählt.
Situationen wie die, die du hier beschreibst sind auch mir bekannt und ich denke, dass es dir gut gelungen ist, die auftretenden Empfindungen und Eindrücke wiederzugeben.
Ich vermute mal, dass solche Übertreibungen

Ein Anfang von was? Vom Ende?
ironisch gemeint sind und eine gewisse Ironie, die dem Protagonisten zu eigen ist, zeigen soll.


Gruß,
Abdul

 

Hallo euch beiden und Danke für eure Kritik!

@Andrea H.

An manchen Stellen wirkt er wie eine Satire auf eine alltägliche Kurssituation, dafür ist er aber zu realistisch.

Diesen Satz habe ich nicht ganz verstanden. Hier bitte ich um genauere Klärung, gerne auch per PN.

das ungute Gefühl, das der Erzähler bei diesem Kurs offensichtlich hat, erscheint nicht ausreichend motiviert. Es wird nicht klar, woher die Ängste und Befürchtungen kommen.

Gut, ich muss schon sagen, es handelt sich natürlich um irreale Ängste, bzw. eher Gefühle, die man zu Ängsten aufbläst.

Fehler:
niemandem

Den werde ich "drinlassn", da ich empfinde, dass der Satz sonst an Wirkung verliert. Aber du hast eindeutig Recht.

Besser: die ersten im Alphabet, zu denen ich, ..., gehöre.
„wa“ zuviel

Hier werde ich frech deinen Vorschlag übernehmen und das "wa" kippen.

Danke, dass es dir ein bisschen gefallen hat.

@AbdulAlhazred

Auch dir nochmals ein herzliches Dankeschön für Kritik und Gefallen.

LG
Lev

 

Hallo Lev!

Stilistisch fand ich Deine Geschichte sehr schön und sie ließ sich sehr flüssig lesen. Inhaltlich muß ich mich Andrea anschließen:

Andrea schrieb:
An manchen Stellen wirkt er wie eine Satire auf eine alltägliche Kurssituation, dafür ist er aber zu realistisch.
Besonders am Anfang klingt manches satirisch, zum Beispiel diese Stelle ...
Siegesgewiss lächle ich mein Vor-euch-fürcht-ich-mich-schon-gar-nicht-Lächeln. Keiner hat's bemerkt. Glück gehabt.
... die ich aber auf jeden Fall sehr gelungen finde!

Man verspricht uns eine Doppelconference. So etwas ist lustig, oder?
Hier klingt es, als würde es jetzt so richtig satirisch oder lustig, aber eigentlich beginnt der Text ab da immer ernster zu werden. Das mit den Überstunden weiß nicht so recht, ob es frustriert oder satirisch rüberkommen will und das ...
Wir schleppen uns zurück. Natürlich freudig.
... ist dann nur mehr ein recht kleines satirisches Spitzerl ;), bevor man (ich) so richtig mit dem armen Protagonisten zu leiden beginnt ... :crying: (Das war jetzt natürlich ein bisserl übertrieben. ;-))

Gruppendynamische Spiele zum Kennenlernen, versichert man uns. Doch was sind das für Spiele? Man gruppiert uns in Ticket- und Computerbüchereien. Ich fühle mich sekkiert. Nun in Männer und Frauen. Ich bin frustriert. Dann in B- und C-Kräfte. Diskriminiert.
Unter diesen Spielen kann ich mir wenig vorstellen - allerdings kann ich mir vorstellen, daß sie Deiner Intention nach satirischer rüberkommen sollten, als sie sich (zumindest für mich) lesen. Vielleicht kannst Du sie noch etwas genauer beschreiben und dabei ein bisschen überzeichnen?
Und was ist das eigentlich für ein seltsamer Kurs? :susp:
Lebenslauf & Gruppendynamik liest sich nach Arbeitsamt-Kurs, daß sich mehrere Leute kennen und das (wenn auch erfundene) Bezahlen von Überstunden liest sich wiederum nach einem Kurs, in den die Teilnehmer von ihrer Arbeitsstelle geschickt werden oder von sich aus gehen, wobei ich letzteres ausschließe, denn so freiwillig wirkt Dein Protagonist nicht - hm.
Ein Bekannter von mir hat vor zwei, drei Jahren so einen lustigen Kurs vom Arbeitsamt verordnet bekommen, da hat er nicht nur mit 45 endlich gelernt, wie man einen Lebenslauf schreibt (er war zuvor Korrektor), sondern sie haben auch stundenlang mit Bausteinen gespielt! Das sollte die Teamfähigkeit trainieren und das Befolgen von Vorgaben oder so ähnlich. Sie saßen sich jeweils zu zweit gegenüber, einer baute etwas vor, der andere mußte es genau so nachbauen ... Und das alles nur, um die Arbeitslosen an der Statistik vorbeizuschummeln.
Also vielleicht kannst Du in Deiner Geschichte noch ein bisschen detaillierter erzählen, was bei den gruppendynamischen Spielen dort so los ist bzw. wie Dein Protagonist sie und die anderen Teilnehmer dabei sieht, ich bin sicher, mit mehr Details wird es automatisch satirischer, selbst wenn Du nicht allzu viel überzeichnest! :)


Zwei Kleinigkeiten noch:

Doch unser aller prüfenden Blicke hält der Sprecher nicht stand.
Ich glaube, es müßte "prüfenden Blicken" heißen, aber ich bin gerade zu faul, das nachzuschlagen.

Ha, Ha! Ich sage es ja, nur niemand vertrauen.
Das zweite "Ha" klein (Ausruf), und wenn Du Dich gegen "niemandem" wehrst, könntest Du ja durch ein Apostroph andeuten, daß da bewußt etwas fehlt.

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hola, Susi

Danke fürs genaue Lesen und die Kritik.

Die "prüfenden Blicke" müßten m.M. nach passen.

"Niemand' " halte ich für einen faulen, dabei aber unschönen Kompromiss. Da könnte/müsste ich gleich "Niemandem" schreiben, wie schon Andrea H. richtigerweise vorgeschlagen hat. Ich hab's aber ausprobiert. Beim Lautlesen ist das falsche "Niemand" am effektivsten.

Du bekritelst auch diese Satire/Realismus-Geschichte. Mmh? Gibt mir zu denken, aber wie bereits gesagt, ich verstehe es nicht ganz. Was ist denn Satire, wenn nicht eine überzeichnete Realität? (Wobei ich bei dieser Geschichte ganz sicher nicht bewußt satirisch war)

Die detailreichere Schilderung dieser Situation muss ich verweigern, denn sonst würde sie ihren spröden Kern (der beabsichtigt war) verlieren und endgültig in Langeweile abgleiten. Eine richtige Satire daraus zu machen, wäre in der Tat eine Möglichkeit.

Was für ein Kurs das war?
Ein Hochehrwürdiger, kann ich da nur sagen. Zum Glück findet er in dieser Version nicht mehr statt, sondern wurde mittlerweile durch ein noch schlechteres System ersetzt. Und ja, es ist und war realistisch und ebenfalls ja, die Geschichte ist autobiographisch. Und es war kein Bla-Bla-Statistik-Verbesserungskurs der Arbeitsämter, sondern purer, oftmals bitterer Ernst.

Thanks nochmal und liebe Grüße
Lev

 

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