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Der (Ein)Druck einer Begegnung
Schneidend kalt umbläst mich der Wind, als ich vor dem gähnenden Loch stehe, dessen Durchschreiten mich über ein Jahr mit wildfremden Leuten zusammenpferchen wird. Leute, die ich nicht kenne, die mich nicht kennen, mich wahrscheinlich nicht einmal kennen wollen. Junge, da mußt du durch, sagt meine innere Stimme vorlaut wie immer. Ich gehe durch, vorsichtig - aber bestimmt.
Meine Willenskraft treibt mich voran ins Stiegenhaus, rechts zum Aufzug und da ...
... stehen Leute. Irgend jemand spricht mich an. "Auch zum Kurs?" Ich drücke ein gequältes "Ja" durch die Lippen.
Wer ist das? Was will der von mir? Kenn ich nicht, muß ich nicht kennen. Nur ein Jahr. Mit links!
Der Aufzug hat gestoppt. Die Person, die mich angesprochen hat, habe ich längst vergessen. Ah, der kleine Saal. Düsteres Ambiente. Passend. Was soll's? Hinein! Man begrüßt sich. Vorsichtig, lauernd. Leute, die sowieso zusammenarbeiten, rotten sich zusammen. Sicherheitshalber - nehme ich an. Gute Freunde sind selten. Überhaupt jetzt und hier. Aha, es gibt zwei Mehrheiten. Mir doch egal. Siegesgewiss lächle ich mein Vor-euch-fürcht-ich-mich-schon-gar-nicht-Lächeln. Keiner hat's bemerkt. Glück gehabt.
Der Raum füllt sich. Kalter Schweiß auf meiner Stirn. Noch immer niemand, den ich kenne. Aber ich bin stark. Ich schreite energisch auf eine Gruppe von drei leeren Sesseln zu und besetze den mittleren. Wegen des Überblicks, warum auch sonst? Nachzügler treffen ein. Ah, endlich, ein bekanntes Gesicht. Ich lächle sie an, sie lächelt zurück. Mann, bin ich selbstbewußt.
Komm, Susanna, setz dich neben mich. Bitte. Bitte! Wir müssen uns vertrauen, gerade hier - im Feindgebiet. Danke. Wunderbar! Jetzt geht es aufwärts. Susanna kenne ich, nicht gut, aber immerhin. Ich sag's ja - aufwärts. Da nickt mir auf einmal eine Frau zu. Ich nicke zurück, den Anschein erweckend, sie zu kennen.
Verdammt noch mal, wer ist das? Egal. Leise unterhalte ich mich mit Susanna, denn wem soll man vertrauen.
Die Gespräche versiegen. Unruhe kommt auf. Alle sind da, außer den Kursleitern. Endlich treffen sie ein. Der Chef und der oberste Lektor. Die habe ich wenigstens schon früher einmal gesehen, sogar mit ihnen gesprochen. Immerhin ein Anfang.
Ein Anfang von was? Vom Ende?
Man verspricht uns eine Doppelconference. So etwas ist lustig, oder?
Doch bald vergeht einem die Lustigkeit. Gruppendynamische Spiele zum Kennenlernen, versichert man uns. Doch was sind das für Spiele? Man gruppiert uns in Ticket- und Computerbüchereien. Ich fühle mich sekkiert. Nun in Männer und Frauen. Ich bin frustriert. Dann in B- und C-Kräfte. Diskriminiert. Sinnvoll scheinen nur die Namensschilder. Endlich: Große Pause! Wir werden für den nächsten Unterrichtsteil um Lebensläufe gebeten. Nur mündlich, Schriftliches wäre nicht nötig, so sagt man uns.
Pause. Entspannung. Kaffee. Noch immer sitzen wir in denselben Gruppen wie im Saal. Ja, das Misstrauen ist groß. Jetzt erst Recht, wo es um Lebensläufe geht: die dunklen und schrecklichen Geheimnisse unserer selbst. Von einem Tisch wird herübergebrüllt: "Schreibt ihr schon eure Lebensläufe?" Unser Tisch verneint kollektiv. Das ist Gruppendynamik!
Einer erzählt, wir würden für die zusätzlichen Arbeitsstunden, die wir im Kurs verbringen, Extragehälter bekommen. Alles verstummt. Die Augen beginnen zu leuchten, die Herzen zu hoffen. Doch unser aller prüfenden Blicke hält der Sprecher nicht stand. Ein Scherz. Ha! Ich sage es ja, nur niemand vertrauen.
Auch die längsten Pausen enden. Wir schleppen uns zurück. Natürlich freudig.
Wieder angekommen, wird uns schalkhaft vermittelt, dass die Lebensläufe doch schriftlich benötigt werden, um sie an die Wand zu pinnen. Alle sind glücklich. Überhaupt die ersten im Alphabet, zu denen ich, verdammt noch mal, dazu gehöre. Nach meinem mündlichen Auftritt bin ich darum gezwungen, schnell einen Lebenslauf niederzuschreiben. Wäre alles kein Problem, würde nicht einer der Kursleiter direkt neben mir sitzen, wohlwollend lächelnd. Peinlich. Da war Schummeln in der Schule spannender. Aber anderseits: Warum nicht? Ich bin stark genug. Denke ich.
Immerhin stellt sich im Rahmen dieser Lebenslaufrunde heraus, welch lustiger Haufen wir eigentlich sind. Dachdecker mit Epilepsie, gescheiterte Buchhändler, gelangweilte Jazz-Club-Besitzer, abgewählte Kleinstpolitiker oder schlicht Lebenslaufverweigerer. Dann gab es da noch eine Geschichte mit österreichischen Au-Pairs in Frankreich und französischen Au-Pairs in Österreich. Aber das war mir dann eindeutig zu hoch.
Endlich Schlußpfiff. Ab in meine Bücherei. Wo ich den Leuten vertrauen kann. Hoffentlich.