Mitglied
- Beitritt
- 21.05.2007
- Beiträge
- 63
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Der einsame Empath
Seltsam.
Seltsam in der Straßenbahn zu sitzen, um Emotionen zu fangen.
Seltsam, bei Gerichtsverhandlungen so sein, um Menschen voller Sorge, Trauer oder banges Erwarten aufzusaugen.
Ich bin seltsam.
Da saß ich.
In Restaurants. Imbissstuben, Fastfoodläden. Allein. Lauschte und nahm auf.
Meine Hände lagen ruhig auf den Tischtüchern. Die Fingerspitzen berührten die kleinen langstieligen Vasen aus Glas. Als hätte ich selbst das Empfinden der Blumen gesucht - um es mir zu eigen zu machen.
So viel Leben. So viel Gefühl.
Ein alter Mann. Er knetete seine Mütze. Seine Unterlippe zitterte. Ich spürte seine Trauer, die er zu verbergen suchte.
Zwei junge Mädchen - mir gegenüber. Zögernd saugte die Jüngere kurz an ihrer Zigarette. Ganz kurz nur. Paff. Und dann aschte sie minutenlang ab. Sie rauchte nicht gern. Aber dennoch musste sie.
Ich spürte ihre Angst, verstoßen zu werden.
Leben.
Wie soll man leben ohne Emotionen? Was, wenn jede einzelne Erfahrung nur gestohlen ist? Mitgefühlt?
Und dann - immer mehr Menschen verstecken sich hinter Masken. Nichts zu nehmen. Nichts mehr mitzufühlen.
Experimentiere mit Alkohol. Mit Psychopharmaka, Wizz, Acid, Meskalin, THC, Sex, Gewalt, Sanftmut, Gleichgültigkeit, Tagen ohne Schlaf - nichts ändert sich.
Und so pilgere ich als moderner Vampir durch die nächtlichen Strassen.
Nicht Hämoglobin ist es, was mich Menschen aussaugen lässt. Nicht die Gier nach Blut treibt mich.
Ich bin ein modernes Produkt. Haltlos und ohne eigentliches Ziel. Gier bestimmt mein Leben.
Also spreche ich, handle ich, manipuliere ich - um auszusaugen. Um Emotionen zu fassen. Das Gefühl zu haben, am Leben zu sein.
Ich lege den Stift auf das weiße Papier - sehe meine letzten Worte an. Ich spüre es. Diese Trostlosigkeit. Direkt hinter den Augen.
Also stehe ich auf. Nehme mein Mantel.
Gehe hinaus, um ein neues Opfer zu suchen.
Jemanden zu finden, der stark für mich empfindet. Liebe. Hass.
Und während ich unter flackernden Lampen dahinschreite, fröstelnd, ohne Gefühl. Hoffe ich dass meine Sehnsucht befriedigt wird. Und spüre vages Grauen darüber, dass ich irgendwann mehr brauche. Todeserfahrungen meiner Opfer.