Der einsame Mann
Der einsame Mann
Der Bahnsteig hatte sich geleert, vorn wurde gepfiffen, der Zug ruckte an und glitt hinaus in die Nacht. Ein Mann, nicht mehr jung, blickte ihm nach, bis die roten Schlusslichter zu einem einzigen glühenden Punkt verschwammen.
Der Kiosk hatte noch geöffnet. Der Mann kaufte eine Schachtel Zigaretten und stand dann noch eine Weile auf dem Bahnhof herum. Er steckte sich eine Zigarette an und lief gemächlich zur großen Treppe, die in den unterirdischen Bahnhof mit seinen S-Bahnsteigen führte.
Es war ein unauffälliger Mann. Er hatte etwas von einem kleinen Angestellten an sich, der seinen Kindern die Eigentumswohnung schuldenfrei übergeben wollte und deshalb alle Demütigungen im Amt auf sich nahm. Jemand, der ihn von weitem sah, dachte: Ein grauer Mann. Alles war grau an ihm: der Mantel, das nicht mehr ganz volle Haar, die Blässe des Gesichts im Schein der Bahnhofsbeleuchtung.
Ein langer Tunnel führte zur Hauptstraße, schwach von Neonlicht erhellt. Die einsamen Schritte des Mannes hallten von den graffitibeschmierten Kachelwänden wider.
Dass er müde war, bemerkte er, als er die steile Treppe zur Straße hinaufstieg. Jeder Schritt ein Sieg über sich selbst. Die Straße, es war eine breite Straße mit vier Fahrbahnen und einem begrünten Mittelstreifen, empfing ihn wie einen, den sie nicht erwartet hatte, gleichgültig, mit sich selbst beschäftigt, im Halbschlaf.
Noch auf ein Bier, dachte der Mann. Prüfend warf er einen Blick in das kleine Imbisslokal an der Ecke, das erst seit kurzem geöffnet hatte. Es war fast leer. Zwei Fastbetrunkene verdeckten den Tresen, hinter dem der Mann einen Vietnamesen bemerkte, mit dem Spülen von Gläsern beschäftigt. Er war schon an der Tür, als er sich anders entschied.
Der Mann war auf dem Weg zu seiner Wohnung, einer leeren Wohnung, in einer der Seitenstraßen. Dass er auf das Bier verzichtet hatte, mochte Gründe haben, er dachte nicht darüber nach. An der menschenleeren Kreuzung musste er warten. Lächerlich, dachte der Mann, nachts an der Ampel warten. Aber er wartete, er hielt viel von Disziplin, auch wenn sie heute nacht niemandem auffallen mochte. Vielleicht saß irgendwo jemand vor einem Bildschirm mit der Kreuzung und war es zufrieden, dass die Ampel funktionierte. Er sollte nicht enttäuscht werden, nicht von ihm.
Es war eine Flucht. Er hasste es, sich verstecken zu müssen. Aber es war eine Flucht.
Heute nacht war er aus seiner Familie geflohen. Aus einer Familie, die er nicht mehr wollte und die er verabscheute. Das war nicht ganz richtig, er verabscheute nicht die gesamte Familie, nicht den Sohn und die Tochter, er verabscheute nur seine Frau. Er hatte sie auf die Bahn gesetzt, um Ruhe zu haben, vielleicht zwei Wochen lang, so lange würde sie sich bei ihren Eltern mit den Kindern aufhalten können, ohne dass sie Verdacht schöpften.
Er hatte die Scheidung eingereicht. Die Kinder, noch zu jung, um Mitleid mit ihm zu empfinden, aber schon zu alt, als dass sie nicht begriffen, gehörten zur Mutter. Er wusste nicht, ob er den Jungen liebte, sicher würde er zur Mutter halten. Anders die Tochter. Er sei ihr Lieblingspappi, sagte sie. Aber das war schon egal, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, wusste er, dass er kein Vater war, nicht mehr ihr Vater, sondern nur noch der Schlafbursche, dem die Wäsche gewaschen und das Essen vorgesetzt wurde. So ähnlich hatte sich seine Frau ausgedrückt, als sie darüber sprachen. Auf keinen Fall, hatte sie gemeint, ihre Einwilligung in die Scheidung behalte sie sich vor, sie hänge von der Höhe des Unterhalts ab. Es war das längste Gespräch, das sie seit vier Jahren miteinander geführt hatten. Er hatte seine Einsamkeit und Verlassenheit in diesem lächerlichen Zustand, den sie noch immer ihre Ehe nannte, nicht erwähnt. Sie hätte ihn ausgelacht. Sie verstand nichts. Wenn ihre Ehe noch eines war, dann war sie absurd.
Der Mann hatte sein Haus erreicht, ein Berliner Mietshaus mit Vorder- und Seiteneingang, auf dem stand: Nur für Personal. Er nahm den Personaleingang und stieg die drei Treppen hinauf, bemüht, leise aufzutreten, damit die Nachbarn hinter den braungeschnitzten Türen nicht aufmerksam wurden. Die Treppe hatte einen roten Kokosläufer. Der Mann stolperte immer auf derselben Stufe. Wie jedesmal, fluchte er auch heute nacht. Dann fluchte er, weil er zu laut geflucht hatte.
Als er den Flur betrat, fühlte er sich endlich frei. Es war eine Freiheit, er wusste es, die nicht lange währen würde, er musste sie auskosten. In der Küche roch es nach Basilikum, das seine Frau auf dem Fensterbrett züchtete. Der Duft war ihm angenehm. Aber dann fiel ihm ein, dass auch dieses Kraut ein Teil seiner Frau war, und er nahm die beiden Töpfe und warf sie in den Mülleimer.
Im Wohnzimmer schaltete er den Fernseher ein und suchte lange nach einem Programm. Endlich fand er einen Sender, der ihm zusagte. Eine Frau, nur mit einem Pullover bekleidet, den sie über die Brüste gezogen hatte, saß breitbeinig in einem Sessel, und der Mann hoffte darauf, dass die Kamera länger auf der Frau weilen würde, aber sie schwenkte ab auf das Gesicht der Frau. Das Frauengesicht schien ihm zu raffiniert, zu ausgekocht, ihn interessierte nicht mehr, welche obszönen Verrenkungen die Frau auf dem Bildschirm noch anstellen würde. Er schaltete den Fernseher ab.
Die Zeitung lag an ihrem Platz neben dem Fernseher. Er suchte die Seite mit den kleingedruckten Anzeigen, fuhr mit dem Zeigefinger über sie hin, blieb dann an einer hängen.
Swetlana. Der Name gefiel ihm.
Es war nichts los. Die Nacht war halb vorbei. Morgen, nahm sich der Mann vor. Er würde sehr lange duschen und sehr lange frühstücken und dann ans Telefon gehen. Morgen, sicher erst mittags. Ja, er war einsam. Einsamer als er war niemand.