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Der Fall Simon
Simon, so heißt der junge Mann? Bitte entschuldigt, er sitzt nicht in meinen Klassen, ich kenne ihn nicht und das ist gut, denn wir alle lassen uns beeinflussen von Verhalten und Erscheinung, Dingen, die nichts mit Leistung zu tun haben. Nun denn. Wir wissen, dass es so etwas wie eine objektive Notengebung nicht gibt, das weiß jede und jeder, der oder die auch nur einmal darüber nachgedacht oder vielleicht die eine oder andere empirische Studie zum Thema gelesen hat. Wir haben keine exakte Messung vorliegen, vielmehr eine Art verschwommenes Gesamtbild und das Gesamtbild ist ein verdammt knappes Daumen runter, und das bedeutet, dass wir in der Verantwortung stehen. Selbstverständlich sprächen wir nicht über diesen Fall, wenn es ein knappes Daumen hoch wäre, diese Fälle werden ja stets durchgewunken, ein knappes Daumen hoch ist im Grunde ein solides Daumen hoch, ein undiskutables Urteil gewissermaßen, und das würde ich übrigens gerne mal in Frage stellen, wenn uns die Schulleitung die Gelegenheit gäbe und etwas Muße, um genauer darüber nachzudenken, präzise darüber nachzudenken, meine ich, und nicht so lala und es ist doch alles in Ordnung, wenn eine oder einer den geforderten Notenschnitt hat, auch wenn er oder sie nie im Unterricht aufkreuzt und bei der einen oder beim anderen von uns - ich sehe niemanden an, ich hebe den Kopf und blicke an die Decke - eine gute Vortragsnote erschnorrt hat, mit Dackelblick oder Babyrobbenblick oder was unsere Schülerinnen und Schüler sonst noch alles drauf haben.
Pusten wir unter dieses nicht ganz unbeschriebene, aber doch leidlich dünne Blatt Papier und heben es an? Es braucht ja nicht viel, eine halbe Note reicht aus, vielleicht in Französisch oder in Geschichte. Sind das exakte Wissenschaften? Nein. Ist Notengebung eine exakte Wissenschaft? Genauso wenig. Da wäre nichts gebogen oder gebrochen, da fielen uns nicht reihenweise die Zacken aus den Kronen, wenn du zum Beispiel, Severin? In Geschichte? Ich sehe, du nickst, du wärst also bereit. Das ist eine valable Option, nichts spricht dagegen.
Aber.
Wir dürfen an dieser Stelle nicht abbrechen, nicht aufhören nachzudenken. Die Versuchung ist groß, dessen bin ich mir bewusst, denn es änderte ja nichts, es wäre ein Unterlassen, ein Nicht-Tun gewissermaßen. Wir rüttelten nicht am Status quo und griffen nicht in Dinge ein, die sich quasi natürlich entwickelt haben. Weshalb also jetzt auf einmal darüber nachdenken, worin unsere Verantwortung liegen könnte? Kann man verantwortlich sein für das Nicht-Tun? Man kann, liebe Kolleginnen und Kollegen. Gemeinhin denken wir, Verantwortung zu übernehmen, bestehe darin, sich für eine Handlung zu entscheiden, und - Achtung! - gemeinhin denken wir genau richtig. Die Dinge laufen zu lassen, nichts zu tun, kann das Verantwortungsloseste sein, zu dem Menschen fähig sind, denken wir nur an - aber ich will nicht abschweifen, es ist wichtig, gnadenlos fokussiert zu bleiben, auf den Punkt zu denken und der Punkt liegt eben darin, sich nicht zu drücken, weder vor der Verantwortung noch vor einer Entscheidung und da müssen wir uns die entscheidende Frage stellen, die Frage aller Fragen in diesem zentralen Punkt und sie lautet: Tun wir diesem jungen Mann einen Gefallen, wenn wir ihn weiterhin unsere Schule besuchen lassen?
Denken wir nach. Haben wir alles getan, was wir tun konnten? Johanna? Wie viele Gespräche hast du mit Simon geführt? Die anderen? Ich kann sehen, wie ihr die Augen verdreht und das sagt mir genug. Wir sind ein Gymnasium und unser Auftrag besteht nicht darin, junge Menschen zu erziehen, wir sind keine soziale Institution in diesem Sinne, wir sind keine Therapeutinnen und Therapeuten und keine Animateure, die vor ihrer Klientel den Clown spielen. Und doch haben wir all diese Aufgaben übernommen, obwohl es nicht unsere Aufgabe ist, und zwar weil wir Menschen sind, weil wir an einer Schule arbeiten, die den Ruf, eine menschliche Schule zu sein, nicht umsonst nach außen trägt. Also haben wir alles getan? Wir haben auf alle Fälle mehr getan, als erwartet werden kann, wir sind an Grenzen gegangen, Johanna, darf ich - darf ich erzählen, wie ich dich im Lehrpersonenzimmer angetroffen habe, abends um halb sieben und du hattest Tränen in den Augen, das kann man schon sagen, oder? Vor Erschöpfung und vor Anspannung und vor Hilflosigkeit, und ich weiß nicht mehr, worüber genau wir damals gesprochen haben, aber es ging um den jungen Mann, über den wir hier und jetzt sprechen, und du hast gesagt, du wüsstest nicht mehr weiter. Haben wir alles getan? Wir haben.
So und jetzt, was geschieht, wenn man alles getan hat und nichts hat sich geändert? Gerade so gut könnte ich fragen, was geschieht, wenn man von einer Zwei eine Zwei subtrahiert. Ich kenne Simon nicht und daher kann ich ganz unvoreingenommen sagen, aufgrund meiner Erfahrung, nicht mit diesem konkreten Menschen, aber mit den Menschen im Allgemeinen, mit dem Menschen an sich gewissermaßen, dass dieser junge Mann sein Verhalten niemals ändern wird. Stimmt’s?
Falsch!
Er kann sich ändern, wenn wir ihm die Chance dazu geben, wenn wir die Umstände ändern, wenn wir die Krücken, die Simon womöglich gar nicht braucht, kein gesunder junger Mann braucht Krücken, wenn wir also diese Krücken, auf die er sich stützt, wegschlagen, damit er die Gelegenheit bekommt, endlich die Gelegenheit bekommt, auf eigenen Füßen zu stehen und die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Wenn wir das nicht tun, ich komme zum Ende, es tut mir leid, dass ich so lange geredet habe, aber es musste sein, weil auch ich will meine Verantwortung wahrnehmen. Wenn wir das also nicht täten, wenn wir Simon weiterhin an Krücken gehen ließen, die er gar nicht braucht, wenn Simon also – ich komme zur alles entscheidenden Überlegung - in einem Jahr genau am selben Punkt steht wie jetzt, hätten wir dann unsere Verantwortung wahrgenommen? Wir hätten nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, und ich sehe dich nicken Johanna, und auch dich, Severin, und ich denke, damit ist die Sache geklärt.