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Der Fluch des Maisfelds
„Abgemacht!“, sagte ich und streckte Chris Bailon die Hand entgegen.
Dieser lachte, und seine makellose Haut warf nicht die noch so winzigste Falte in seinem Gesicht. Ich mochte ihn nicht, wahrhaftig nicht. Chris Bailon war ein frisch polierter Pinkel.
Einen Moment lang schloss ich die Augen, wollte dieses Modelgesicht mit den unnatürlich weißen Zähnen und der ewig gleich gestylten Frisur, in der sich die Sonnenstrahlen reflektierten, nicht sehen.
Bob, Sydney, Lisa und ich standen hier vor dem Maisfeld, während Chris uns mit seinem Keine-Falten-Grinsen ansah.
„Arth, bist du wahnsinnig?“, rief Lisa und stellte sich neben mich.
Ich öffnete wieder die Augen und blickte in ihr wütendes Gesicht. Ein Lachen wollte sich um meine Mundwinkel herum ausbreiten, doch als ich Lisas Zornesfalte zwischen ihren Augen betrachtete, verkniff ich es mir wohlwissentlich.
„Da ist noch nie wieder jemand rausgekommen“, flüsterte sie mit ernster Stimme und deutete auf das Feld.
Wieder einmal wurde mir bewusst, wie sehr ich diese Frau liebte. Ich liebte ihr Lächeln, das sie mir immer entgegenbrachte und ich liebte diese kleine Zornesfalte, die sie wie auf Kommando entstehen lassen konnte.
Ein harter Griff umklammerte meine Hand. Chris – das Gesicht - Bailon hatte sie ergriffen. „Zehn Dollar und eine Flasche Hochprozentigen, wenn ihr es schafft, hier reinzugehen und auf der anderen Seite wieder rauszukommen. Und wenn nicht, werde ich Lisa von dem Geld auf einen Drink einladen.“
Chris Bailon war dreiundzwanzig und der Sohn von Malcolm P. Bailon, eines der reichsten Arschlöcher in ganz Curnie Falls. Und sein Sohn stand an Arroganz seinem Vater in nichts nach. Jeder im Ort hasste ihn, doch niemand hatte ihm das jemals persönlich ins Gesicht gesagt, denn Fakt war, dass ohne Malcolm P. Bailons Sägewerk die meisten Bewohner von Curnie Falls arbeitslos wären. Ich selbst hasste Chris, weil er sich ständig an Lisa ranmachte, obwohl er genau wusste, dass sie meine Freundin war. Okay, wir waren nicht offiziell zusammen, aber wir mochten uns sehr und hatten auch schon einmal Händchen gehalten.
Und mit Sicherheit würde es nicht mehr allzu lange dauern, bis wir uns das erste Mal richtig küssten.
Doch zunächst standen wir hier nur vor einem gewaltigen Maisfeld, und ich hatte mich auf diese Wette eingelassen; das Gesicht hatte lediglich mein Ego ankratzen müssen, und schon ließ ich mich auf jeden Mist ein, den er mir vorschlug. Insgeheim hasste ich mich selbst dafür.
Die Wette bestand darin, dass Bob, Sydney und ich das Feld durchqueren sollten, mehr nicht. Und dennoch schauderte es mich, wenn ich daran dachte; und gleichzeitig war ich aufs Äußerste darauf bedacht, dass man mir mein Unbehagen nicht anmerkte.
Ich blickte an Lisa vorbei, vorbei an ihrer Zornesfalte und sah die langen Mailshalme hinter Chris Bailons Rücken. Sie waren ungewöhnlich blass, ihre Farben wirkten tot und ausgeblichen wie Bobs T-Shirt, das er mit Sicherheit schon seit fünf Jahren besaß und beinahe täglich trug.
Die Sonne stand im Zenit, und die vereinzelt umstehenden Bäume warfen kurze Schatten, die aussahen, als würden sich von Gicht gekrümmte Finger ins Erdreich graben. Die Maishalme selbst waren schattenlos. Das Ganze wirkte unecht, und die satten Farben der Bäume brannten in den Augen, wenn man zuvor auf das Feld gestarrt hatte.
„Das Feld ist verflucht“, sagte Lisa leise.
Ich blickte in ihr Gesicht. Ihre Stirn hatte sich inzwischen geglättet, und ich erkannte eine gewisse Art von Traurigkeit in ihren braunen Augen. Meine Finger strichen sanft über ihre Wange.
„Es sind nur Gerüchte“, flüsterte ich.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ich nahm sie in den Arm und drückte sie. Ihr warmer Geruch ließ mich für einen winzigen Moment der Wirklichkeit entfliehen, und ich dankte Gott für jeden Tag, den ich mit Lisa verbringen durfte. Sie würde die Frau sein, die ich später heiratete, und unsere Kinder würden die Schönsten von ganz Curnie Falls sein. Das wusste ich.
Chris Bailons arrogante Stimme holte mich in die Realität zurück. „Los, Porky, gib ihr einen letzten Schmatzer, und dann macht euch bereit.“
Wie ich es hasste, wenn er mich Porky nannte. Mein Name war Arthur. Arthur! Und ich sah nicht im Entferntesten aus wie ein Schwein. Ich wollte ihm „Halt dein schäbiges Maul!“ ins makellose Gesicht schreien, „Halt einfach nur dein schäbiges Maul!“, stattdessen grinste ich hölzern.
Eine Stunde später saßen Bob, Sydney und ich auf dem trockenen Boden vor dem Maisfeld.
Chris Bailon hatte sich von uns verabschiedet, winkend, mit dem Zehn-Dollar-Schein in seinen Fingern. „Ich werde mit Lisa auf der anderen Seite warten“, hatte er hämisch gerufen. „Und wenn ihr bis Sonnenuntergang nicht raus seid, gehe ich mit ihr was trinken, Porky.“ Sein Grinsen war widerwärtig und seine Wangen hatten in der Sonne geglänzt wie die frisch gecremten Titten einer abgetakelten Bardame.
„Wir sollten langsam aufbrechen“, sagte Bob nach einer Weile. „Es ist fast eine Stunde um.“ Sein blasses T-Shirt glänzte von dicken Schweißrändern und sein gewaltiger Speckbauch quetschte sich zwischen Hose und Shirt hindurch.
Ich blickte in den Himmel, entdeckte nicht die Spur einer Wolkenbildung. Ich dachte an Lisa. Warum hatte ich sie mit diesem Typen gehen lassen? Aber sie hatte ja vorgeschlagen, uns zu begleiten, doch in alter Gentlemanmanier hatte ich ihr gesagt, dass es zu gefährlich sei. Sie würde sich das Kleid an den scharfen Blättern zerreißen und vielleicht sogar die Haut. „Unsere Kinder wollen doch eine Mutter ohne Narben“, hatte ich gesagt, woraufhin sie rot geworden war und mich angelächelt hatte. Dass es mir ganz tief in meinem Innern widerstrebte, sie der Gefahr des Fluches, welcher auf dem Maisfeld herrschen sollte, auszusetzen, sagte ich ihr natürlich nicht.
„Ich finde, Bob hat Recht“, sagte Sydney. „Sie sind jetzt weit genug weg. Wir sollten aufbrechen.“
Ich schaute in die Richtung, in die Lisa und Chris gegangen waren. Bis zum flirrenden Horizont erstreckte sich das Feld, einer lebenden Mauer gleich, die jeden Eindringling zu warnen schien, die Grenze in das Innere zu überschreiten. Die Maishalme standen unbeweglich in ihrer Blässe, vereint zu einem irrealen Ganzen.
Als Kinder hatten wir einmal versucht, das Feld zu umrunden, waren ganz früh morgens aufgebrochen. Und erst gegen Abend waren wir wieder an unserem Ausgangspunkt angekommen. Das Ausmaß des Feldes war gewaltig. Seit ich denken konnte, existierte es hier, weit hinter den letzten Ausläufern der Humbold Wälder. Wilder Mais, hatte Großvater einmal gesagt, als ich ihn nach dem Feld gefragt hatte. Wilder, gefährlicher Mais. Ich musste damals äußerst verdutzt geguckt haben, denn er lachte laut und schlug sich mit seiner faltigen Hand die Schenkel. Du solltest trotzdem nicht hinein gehen, hatte er dann hinzugefügt, und sein Lachen war augenblicklich verschwunden.
Irgendwann hatten wir Jungs mal ein paar der langen Halme abgeschlagen. Sie waren uns entgegengekippt und augenblicklich verdorrt. Da, wo sie gestanden hatten, war innerhalb von Minuten ein neuer Halm gewachsen, blass und ehrfurchtsgebietend.
Wir waren damals gerannt, als hätte der Leibhaftige uns seine grinsende Fratze entgegengestreckt, und für lange Zeit hatten wir die nähere Umgebung des Maisfelds gemieden. Es musste wahrhaftig verflucht sein.
„Meint ihr, wir werden es schaffen?“, fragte Sydney kaum hörbar.
„Das haben wir doch jetzt schon hundert Mal durchgekaut“, sagte ich, ohne meinen Blick von dem Feld zu lassen.
Sydney saß da im Schneidersitz, und seine dünnen, weißen Beine lugten aus der kurzen Hose hervor. Er hatte die Hände dazwischen gelegt, und seine Finger schoben nervös etwas Staub beiseite. Bob, der etwa das Fünffache an Körpermasse besaß, hockte neben ihm und blickte ebenfalls zu Boden. Vielleicht hätte ich doch lieber allein gehen sollen.
„Was meint ihr, wie lange wir brauchen werden?“, fragte Sydney.
„Wenn uns der Kompass nicht im Stich lässt, müssten wir es in ein paar Stunden geschafft haben.“ Ich blickte auf meine beiden Freunde. „Ihr seid immer noch nicht überzeugt.“
Sie antworteten nicht.
„Noch könnt ihr es euch überlegen. Ich gehe notfalls auch allein.“
Bob sah auf. „Wir haben gesagt, dass wir mitkommen, also tun wir es auch.“ Er hievte seine Massen vom Boden hoch und schlug sich den Staub vom Hosenboden. „Außerdem möchte ich nicht auf das Geld verzichten“, fügte er grinsend hinzu.
Sydney blieb sitzen. „Bisher soll es noch niemand geschafft haben“, flüsterte er an seine Beine gewandt.
„Es gibt keinen Beweis, dass es überhaupt mal jemand versucht hat“, sagte ich und merkte, dass meine Stimme gereizter klang, als es beabsichtigt war.
„Was ist mit den fünf Kindern, die nicht mehr rausgekommen sind?“
Ich stand auf. „Wessen Kinder sollen das gewesen sein? Kennst du irgendjemand im Ort, der seine Kinder vermisst?“
Es gab Hunderte von Gerüchten über das Maisfeld. Unheimliche Geräusche, die des Nachts aus seinem Innern dringen sollten, waren noch die Harmlosesten; einige Bewohner behaupteten, sie hätten Schreie gehört, Schreie und Hilferufe. Andere sagten, sie hätten von außen Kinder zwischen den Halmen umherwandern sehen; Kinder, deren Augen ausgestochen waren und die wimmernd und tastend durch das Feld irrten. Und wenn ich solche Geschichten hörte, dann überkam mich jedes Mal die Frage, wer soweit außerhalb des Ortes ein wildes – gefährliches – Maisfeld aufsuchen sollte, um zufälligerweise just in diesem Moment derartige Erscheinungen zu sehen. Äußerst unglaubwürdig. Aber genau das war es doch, was Mythen und Legenden so spannend machte.
Und genau heute wollten wir den Beweis antreten. Für mich ging es bei der Wette nicht nur um die zehn Dollar. Okay, natürlich wäre ich stolz gewesen, Lisa davon einmal richtig nett ausführen zu dürfen. Aber es war noch etwas anderes. Ich glaubte eigentlich nicht an irgendwelche ominösen Flüche, diese gab es schließlich zu Hauff, und es waren immer nur Gerüchte. Doch hier schien es anders zu sein. Sollte es sich hier tatsächlich um einen Fluch handeln? Wie sonst ließe sich die äußere Erscheinung des Feldes erklären? Genau das wollte ich herausfinden, denn für alles Mysteriöse gab es schließlich eine logische Erklärung. Und das war der Hauptgrund, weshalb ich heute hier war. Zumindest versuchte ich mir das einzureden.
Ich ging zu den langen Stöcken, die wir neben das Maisfeld gelegt hatten. Drei an der Zahl, für jeden einen. Als ich meinen hoch nahm, fühlte er sich seltsam kühl an, doch ich verschwendete keinen weiteren Gedanken daran.
Ich blickte zu Bob, der sich keuchend bückte, um ebenfalls seinen Stock aufzuheben. „Was ist jetzt, Sydney?“, fragte er. „Bleibst du hier?“
„Lasst es uns angehen“, rief Sydney, sprang auf seine dürren Beine und stand kurz darauf mit seinem Stock neben uns.
„Wenn uns irgendein Monster anfällt“, sagte ich lachend und schwang den Stock, „dann werden wir ihm ordentlich eins überbraten.“
Die beiden grinsten gequält, sagten aber nichts. Sydney öffnete seine Feldflasche und nahm einen Schluck.
„Das solltest du für später aufbewahren“, sagte Bob. „Vielleicht sind wir doch länger unterwegs.“ Er zwinkerte zu mir herüber.
„Hast du den Kompass?“, fragte ich ihn.
Bob öffnete seine fleischige Hand und streckte mir das glänzende Ding entgegen. „Alles bereit, Chef.“
Selbstverständlich hätten wir auch die Sonne als Orientierungshilfe nutzen können, aber sicher ist sicher, sagte ich mir.
Wir standen in einer Reihe vor dem Maisfeld, und die fahlen Stängel mit den blassgrünen Blättern ruhten bewegungslos vor uns. Noch einmal sah ich mich nach den Bäumen um. Es war beinahe windstill, aber nur beinahe. Wenn ich mich anstrengte, konnte ich das Rauschen der Blätter hören, ganz leise nur. Die Maishalme hingegen rührten sich nicht. Das Feld war tot. Wie auf einem alten Gemälde, dachte ich mit leichtem Schauer, der sich über meinen Rücken zog. Ich blickte zu Sydney und Bob hinüber, und ich erkannte an ihren Gesichtszügen, dass ihnen die bevorstehende Sache ebenfalls nicht geheuer erschien.
Die Halme standen willkürlich durcheinander, untypisch für ein Maisfeld, welches normalerweise in starren Reihen angeordnet war. Aber schließlich handelte es sich hier ja um Wildwuchs. Doch widersprach dem nicht die Tatsache, dass es von seinen Ausmaßen her, soweit ich mich erinnern konnte, annähernd rechteckig war?
„Lasst es uns angehen“, sagte ich an meine Freunde gewandt.
Bob nickte. „Dem Schnaps entgegen“, rief er laut und streckte den Stock, wie ein griechischer Krieger seinen Speer, in die Luft.
Dann traten wir in das Maisfeld ein.
Augenblicklich empfing uns ein kühler Hauch, und ich spürte ein unangenehmes Kribbeln auf den Armen. Hier drin war es mit Sicherheit zehn Grad kälter, als noch einen Schritt zuvor. Mich fröstelte.
„Scheiße, ist das kalt hier.“ Sydney verzog das Gesicht. „Hört ihr das?“, fragte er. „Was ist mit unseren Stimmen?“
Ich schluckte. Syd hatte Recht: Die Stimmen klangen genauso tot wie die Farbe der Maishalme. Alles um uns war still, und auch das Zwitschern der Vögel, das noch vor Sekunden um uns herum alles ausgefüllt hatte, war verschwunden.
„Das ist der Fluch“, sagte Bob, und seine Worte drangen dumpf zu mir herüber.
„Lasst uns einfach weitergehen.“ Meine Stimme war mehr ein eindringliches Flüstern. Ich mochte diesen toten Klang nicht. Es war, als würde man sprechen und sich dabei die Ohren zuhalten. Ich sah mich um, versuchte den Druck, der sich in meinem Innern ausbreitete, zu ignorieren. Es gelang mir nicht.
Die Halme standen hier so weit auseinander, dass wir bequem hindurch gehen konnten, doch schon nach einer Weile wurden die Abstände enger. Wir mussten uns seitlich durch die Stiele zwängen, um nicht Gefahr zu laufen die scharfen Blätter zu berühren.
Seit etwa fünfzehn Minuten waren wir jetzt in dem Feld unterwegs, und die anfängliche Kälte schien mit jedem Schritt zuzunehmen. Der Mais war hier so hoch, dass man durch das dichte Blätterwerk über unseren Köpfen nicht einmal den Himmel sehen konnte. Wie ein Dach hatte sich das fahle Grün zusammengeschlossen. Nichts mit An-der-Sonne-orientieren.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte mit einem Mal Sydney hinter mir.
Ich blieb stehen und drehte mich um. „Was ist passiert?“
„Diese verdammten Blätter.“ Ein dünner Blutfaden floss an seinem Arm herab, und das leuchtende Rot bildete einen harten Kontrast zur Blässe der Umgebung.
„Ich hatte gesagt, ihr sollt vorsichtig sein“, fauchte ich ihn an. „Ist es schlimm?“
Sydney nahm die Hand von seinem Arm und ein tiefer Schnitt war zu erkennen. Ich sah, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. An alles hatten wir gedacht, nur nicht daran, irgendetwas zum Verbinden von Wunden mitzunehmen. Sydney setzte sich und presste die Hand wieder auf die Verletzung. „Scheiße, das brennt.“
Ich legte den Stock beiseite, zog mein Hemd aus und versuchte, ein Stück von dem Stoff abzureißen, was sich jedoch als schwieriger erwies als ich es vermutet hatte.
„Zeig mal her“, sagte Bob, nahm das Hemd, biss hinein und mit einem Ratsch war der Ärmel vom Rest getrennt.
„Mir wird schlecht“, wimmerte Sydney. Sein Gesicht hatte die Farbe eines Bettlakens angenommen.
„Jetzt brich uns hier ja nicht noch zusammen“, brummte Bob. „Also ich werde dich nicht tragen.“ Er schlug Sydneys Hand beiseite und wickelte den Hemdärmel mehrfach um den Oberarm. „So, das war’s. Können wir jetzt weiter? Ich hab keine Lust, hier drin die Nacht zu verbringen.“
Ich lächelte innerlich. Genau das war Bob. Ich erinnerte mich daran, wie sich mal eine Ratte in seinem Finger festgebissen hatte. Er hatte mit der anderen Hand so lange auf das Viech eingeschlagen, bis es seitlich aufgeplatzt war. Danach hatte er den Finger in eine Pfütze mit Schweinepisse getaucht, um ihn zu desinfizieren. Und er hatte dabei nicht einmal seine Miene verzogen.
Ich nahm den Rest meines Hemdes und zog es wieder an. Augenblicklich fröstelte es mich wieder. „Es ist scheißenkalt hier“, sagte ich. Bob grinste.
Wir waren wieder eine ganze Weile gegangen, das Feld war immer dichter geworden, als wir vor einer undurchdringlichen Mauer aus Maishalmen standen. Die Pflanzen wurzelten hier so nah beieinander, dass es noch nicht einmal möglich war, hindurchzusehen.
Sydney hatte seit dem Vorfall von vorhin kein einziges Wort gesprochen.
„Gehen wir links, Richtung Süden, oder nach rechts?“, fragte Bob auf den Kompass blickend.
Ich wollte gerade sagen, dass es egal sei, als ein tiefes Raunen durch die Halme drang. Es war genauso ohne Hall wie unsere Stimmen, und doch klang es anders – bedrohlicher.
„Was war das?“ Sydneys zitternde Stimme kam von hinten. Er blickte hektisch in alle Richtungen, und sein Kiefer bebte.
Ich sah nach oben, konnte durch die blassen Maiskolben an einigen Stellen den Himmel ausmachen. Der Mais bewegte sich nicht.
Da war es wieder. Ein dumpfer Ton, der aus südlicher Richtung auf uns zukroch. Zunächst leise, dann anschwellend und kurz, bevor er unerträglich wurde, flachte er sanft ab, bis wieder Stille herrschte.
„Was ist das, verdammt noch mal?“ Sydneys Stimme driftete ins Hysterische.
„Keine Ahnung“, sagte ich leise. „Aber ich denke, wir sollten uns doch für die nördliche Richtung entscheiden.“ Auch in mir entstand ein ungutes Gefühl, das sich aus meinem Unterleib heraus metastasengleich durch den Rest des Körpers bewegte.
„Es wird der Wind sein“, sagte Bob. Seine dicken Finger spielten nervös mit dem Stock.
„Es ist kein Wind hier!“, kreischte Sydney. „Sieh doch, nicht ein Blatt bewegt sich.“
Das beklemmende Gefühl machte in meiner Brust Halt, und für einen Moment glaubte ich, nicht atmen zu können. Ich spürte, wie sich meine Haut unter dem Hemd zusammenzog.
„Dann ist es halt was anderes“, sagte Bob ruhig. „Aber ich denke, Arth hat Recht. Wir sollten Richtung Norden gehen.“
Die Stille, die nach diesem Geräusch um uns herum herrschte, war beinahe noch beängstigender als der Laut selbst.
„Vermutlich war es irgendein Tier.“ Ich glaubte selbst nicht daran, doch beruhigten mich die Worte ein wenig.
„Wir hätten es nicht machen sollen.“ Sydney sah mich an. Er stand kurz vorm Heulen. „Ich scheiß auf diese blöden zehn Dollar.“
„Auf die könnt ich auch verzichten“, schaltete sich Bob wieder ein, „aber ich will den Schnaps haben.“ Er ging an mir vorbei. „Also los, Leute. Sind wir Memmen oder Männer?“
Eine gute Stunde später standen wir erneut vor einer undurchdringlichen Wand aus blassen Halmen.
„Scheiße“, keuchte ich. „Das ist ein verdammtes Labyrinth.“
Die Erkenntnis, dass wir in die falsche Richtung gegangen waren, machte mich wütend.
„Wir hätten doch nach Süden gehen sollen.“ Und das ewige Gejammer von Sydney auch.
„Du warst es doch, der sich fast in die Hosen geschissen hat“, brüllte ich ihn an. Sydney zuckte zusammen.
„A... aber ... da war doch auch dieses Geräusch ...“ Dann fiel er auf seine Knie und fing an zu flennen.
Ich hockte mich neben ihn. „T’schuldige, war nicht so gemeint.“ Sein bebender Rücken drückte gegen meinen Arm.
„Wir hätten sofort da durch gehen sollen“, brummte Bob.
Ich blickte auf und sah, wie er seinen Stock zwischen die Halme steckte. Er drückte sie auseinander und versuchte hindurchzusehen. „Wenn wir uns anstrengen, kriegen wir die Dinger auseinander.“ Sein Gesicht lief vor Anstrengung rot an. „Ich geh auf keinen Fall wieder ganz zurück.“
„Komm, Sydney“, sagte ich. „Bob hat Recht. Wir sollten versuchen, durch diese Mauer zu kommen.“
„Scheiße, ich hab noch nie so’n Mais gesehen.“ Bob trat mit dem Fuß gegen einen armdicken Stamm. Der Tritt klang dumpf. „Das sind ja fast schon Bäume.“
„Wir werden uns die Haut abschälen.“ Sydney wischte sich seine Tränen ab. Dann lächelte er mich an. „Aber wir werden es schaffen, nicht wahr, Arth?“
Das Blut an seinem Unterarm war inzwischen getrocknet, und mir war, als sei es blasser geworden. Ich klopfte ihm auf die Schulter und half ihm hoch.
Bob hatte ein Bein zwischen die Stämme gesteckt. „Es geht. Ist aber nicht leicht.“
„Ist euch eigentlich mal was aufgefallen?“, fragte Sydney. „Es gibt hier keine Viecher. Ich meine, es müssten doch Ratten oder Hasen zu sehen sein. Oder zumindest irgendwelches Krabbelzeug.“ Er atmete hektisch. „Aber hier ist nichts. Nichts.“
Jetzt, wo es Sydney sagte, fiel es mir auch auf. Ich blickte genauer auf den Boden und stellte fest, dass er Recht hatte. Da bewegte sich nichts. „Es wird zu kalt sein“, sagte ich.
„Ist doch auch scheißegal“, rief Bob. „Kommt und helft mir lieber die Dinger auseinander zu drücken.“
„Pass auf die Blätter auf“, sagte ich.
Wir hatten die ersten Meter durch die Mauer zurückgelegt. Sie war um einiges dicker, als wir gedacht hatten, und es kostete uns arge Mühe, die Halme auseinanderzudrücken, um hindurch zu gelangen. Bob ging voran, hinter mir war Sydney. Ich war nassgeschwitzt und auch auf Bobs altem T-Shirt war keine trockene Stelle mehr zu erkennen. Die Halme pressten sich gegen unsere Körper, meine Arme zitterten vor Anstrengung, und ich keuchte wie eine alte Dampflok. Hin und wieder verspürte ich ein Reißen an meinem Hemd und ich wusste, dass die scharfkantigen Blätter ihre Arbeit verrichteten.
Auf unsere Rücken konnten wir nicht groß aufpassen, doch achteten wir darauf, die Arme nicht zu schnell zu bewegen. Bis jetzt waren meine noch unversehrt.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich Bob ein „Jawoll!“ brüllen hörte, woraufhin er aus meinem Blickfeld verschwand. Ich kämpfte mich weiter, hörte Sydney neben mir keuchen, als ich kurz darauf das Ende der Mauer erkannte. Bob tauchte wieder auf, presste mit seinen dicken Armen zwei Stämme auseinander. „Wir haben es geschafft! Hier lässt es sich wieder bequemer laufen.“ Sein Gesicht grinste wie ein Vollmond in einer sternenklaren Nacht. Auf seiner Wange glänzte ein langer, roter Schnitt, und winzige Rinnsale hatten sich einen Weg zu seinem Hals gebahnt. „Wir haben es geschafft!“
Trotz der Enge, die um meinen Körper herrschte, verspürte ich ein Gefühl der Freiheit. Ich begann zu lachen, es gab keine übersäuerte Muskulatur mehr, kein Stechen in der Lunge, und auch das Schneiden im Rücken war verschwunden. Wir hatten es tatsächlich geschafft. Ich sah hinüber zu Sydney, sah die nassen Strähnen seiner Haare, die ihm wirr im Gesicht klebten. Auch er lachte.
„Was ist denn das?“, hörte ich Bob verwundert fragen und sah zu ihm hinüber. Seine dicken Arme hielten noch immer die Maisstämme auseinandergedrückt, doch er blickte zu Boden.
„Scheiße, was ist das?“
Mein Lachen verstummte, und mein Puls dröhnte in den Ohren, als ich durch dieses Schlagen hindurch wieder dieses Raunen vernahm. Es strömte durch die Äste hindurch, wie schleichender Nebel. Oh, mein Gott, durchfuhr es mich. Und dann begann Bob zu schreien. Die Maisstämme schlugen zusammen und er war verschwunden. Nur noch sein entsetzlicher Schrei brandete mir entgegen, übertönte in seiner durchbohrenden Frequenz das tiefe Raunen der Luft.
Ich drückte die Stämme von mir weg, kämpfte mich weiter. „Bob!“ Ein Blatt peitschte gegen meinen Arm, hinterließ einen dünnen, weißen Stich, der sich Sekunden später mit Blut füllte. Normalerweise hätte ich bei so etwas gekotzt, doch jetzt registrierte ich es kaum.
„Bob!“, brüllte ich nur. „Bob, was ist los?“
„Scheiße. NEIIIIN!“ Der Schrei war lang, kreischend.
Noch zwei Stämme. Meine Oberarme schrieen vor Anstrengung. Sekunden später hatte ich das Ende der Mauer erreicht, presste meinen Oberkörper hindurch. Da war das Meer aus Maisstämmen, die ihre unregelmäßigen großen Abstände wieder eingenommen hatten. Bob lag auf einer Art Weg mit dem Bauch nach unten; ich sah sein entsetztes Gesicht, seine Finger, die sich in den Lehm krallten, und gleichzeitig erkannte ich, dass er nach hinten gezogen wurde.
Der ganze Boden hinter Bob war von einem dichten, grauen Schleier erfüllt. Wie ein wabernder See hatte er sich um die Maishalme gelegt, und Bobs Körper war bis zum Unterleib in der gräulichen Schicht verschwunden. Zentimeter um Zentimeter wurde er weiter hineingezogen.
Sein Schrei schlug mir entgegen, seine Fingernägel brachen ab, als er die Hände weiter in den harten Boden grub. Und in diesem Augenblick entdeckte ich die dunklen Schatten unter dem Nebel. Sie sahen aus, wie beinlose Körper, die in der trüben Masse auf Bob zukrochen.
Ich presste mich durch die Stämme, spürte, wie sich mein Fuß in etwas verfing und schlug hart auf den Boden auf. Ein beißender Schmerz explodierte in meinem Knöchel, trieb mir augenblicklich die Tränen in die Augen. „Sydney!“, brüllte ich nach hinten. „Sydney, hilf mir!“
Bob kreischte weiter, die Augen quollen hervor, seine Hand streckte sich mir entgegen. Die Nebelschicht hatte jetzt fast seinen gesamten Oberkörper umschlungen, und ein schmatzendes Geräusch wand sich durch den Schrei hindurch in meinen Verstand.
„SYDNEY!“
Ich versuchte, meinen Fuß zu befreien, doch er hatte sich zwischen zwei Stämmen verklemmt. Ich reckte meinen Arm nach vorn, für einen winzigen Moment berührte ich Bobs Finger. Der Nagel ragte blut- und staubverschmiert nach oben.
Ich riss an meinem Fuß, versuchte, mich länger zu machen. Der beißende Schmerz platzte, einer Feuerwalze gleich, mein Bein herauf. Ich schrie, fasste etwas Fleischiges. Bobs Hand! Seine Finger pressten die meinigen zusammen. Ich spürte, wie einer seiner Nägel in meiner Handfläche verschwand.
„Oh mein Gott, Aaaarth. Zieh mich raus!“ Die Worte waren kaum noch zu verstehen, erinnerten mehr an ein einheitliches Kreischen.
Das Schmatzen wurde lauter, klang wie das stetige Stapfen durch zähflüssigen Schlamm. Ich packte Bobs Hand, zog. Der Schmerz in meiner Hüfte wurde unerträglich, gleich würde mein Bein abreißen. Doch ich zog fester, sah, wie Bob ein wenig aus dem Nebel hervorkam.
„Sydney, verdammt noch mal, hilf mir!“ Mein Brüllen übertönte das von Bob. Ich schaffte es, ihn noch ein Stück weiter aus dem Nebel zu ziehen, als ich den glänzenden Breiklumpen erkannte, der einmal sein Unterleib gewesen war. Die Hose war verschwunden, und der riesige Fleischberg, aus dem seine zuckenden Beine ragten, sah aus, als hätte man ihn kurz zuvor durch einen Wolf gedreht.
Wo, verdammt noch mal, war Sydney?
Bob kreischte immer schriller, drohte meine Hand zu zerquetschen. Ich griff mit der anderen nach, spürte, wie ich langsam abrutschte. Warum wurden ausgerechnet jetzt meine Hände schwitzig? Warum ausgerechnet jetzt, obwohl es hier so kalt war?
Eine verkohlt aussehende Hand trat aus dem Nebel hervor, grub sich in den breiigen Klumpen, der einmal Bobs Hintern gewesen war, und verschwand bis zu dem sehnig dürren Oberarm darin.
Die Haut an Bobs Bauch dehnte sich, stülpte sich nach außen und barst kurz darauf mit einem platzenden Laut. Die Hand wand sich hinaus, und glänzender Darm hatte sich zwischen den langen Fingern verfangen. Die Nägel krallten sich in Bobs Fleisch unterhalb der Brust, lösten es mit einem Ruck von dem Muskel. Ich sah die roten Rippenknochen, bevor sich der Nebel wie ein sanftes Tuch über die Szenerie legte.
Bobs Schrei verstummte abrupt, sein Gesicht begann zu zucken, Speichel lief über seine Lippen. Ich spürte, wie seine Hand erschlaffte und langsam aus meinen Fingern glitt. Einer seiner Fingernägel hatte sich in meine Haut gebohrt. Das Letzte, was mir von ihm blieb. Dann griff ich ins Leere.
Bob verdrehte die Augen bis nur noch das Weiße zu sehen war, ein roter Strahl platzte aus seinem Mund hervor, spritzte hinüber bis zu meinem Gesicht. Dann war mein Fuß frei, und ich katapultierte mich aus der Maiswand heraus. Mein Gesicht schlug in den Staub, und Schwärze legte sich vor meine Augen. Keuchend hob ich den Kopf, das Brennen meiner Augen raubte mir für einen Moment die Sicht. Tränen. Brennende Tränen, die ich versuchte, fortzuwischen.
„Bob!“ Ich schrie in den Dreck vor meinem Gesicht. Der Schrei war dumpf und tonlos. Durch einen Schleier hindurch erkannte ich, dass Bob verschwunden war. Langsam zog sich der Nebel zwischen die Maishalme zurück, und ich sah den Kompass in einer dickflüssigen rotbraunen Lache liegen.
Mein keuchender Atem wirbelte trockene Partikel auf. Der Schmerz in meinem Bein schlug mit jedem Herzschlag bis hinauf in meine Brust. Ich wollte aufspringen, sah den Nebel lauernd um die Halme schleichen und erstarrte in der Bewegung. Was war da gerade passiert? Mein Verstand weigerte sich, das Geschehene zu fassen. Ein sämiger Kloß hatte sich in meinem Magen ausgebreitet, drohte jeden Augenblick daraus hervorzubrechen. Ich spürte den Speichel, der über meine Lippen quoll. Was war geschehen?
Ein dumpfes Summen drang an meine Ohren, wurde lauter. Meine Muskeln zitterten, und das lähmende Gefühl wich zögernd von meinem Körper, machte dem bohrenden Schmerz Platz, der aus meinen Fuß strahlte, und genau dieser Schmerz war es, der mir die Erkenntnis brachte, dass ich von hier weg musste.
Erneut näherte sich der Nebel. Ich zuckte zusammen. Ein Würgereiz entstand in meinem Hals. Hastig stieß ich mich zurück. Der Dunst hatte sich um die Maishalme geschlungen, wand sich um sie herum, wie eine schwebende Schicht silbergrauen Lichts. Das Summen war um mich herum, kreiste mich ein.
Wo, verdammt noch mal, war Sydney? Ich rief seinen Namen, versuchte es noch einmal lauter, doch es war nur das stetige Summen, das antwortete. Dieser verdammte Feigling war abgehauen. Er war tatsächlich abgehauen und hatte seine Freunde im Stich gelassen.
„Der Nebel kommt von hinten, Arth. Du musst aufstehen!“ Die Stimme jagte wie ein Stich durch mein Herz. Es war Lisas Stimme. Ihre Worte entstanden in meinem Kopf. „Bitte, Arth. Du musst von hier verschwinden.“ Tränen entstanden, ich spürte es am Brennen in meinen Augen und daran, dass die Sicht trüber wurde. In diesem Moment wollte ich nichts lieber, als bei ihr sein. „Der Nebel ist hinter dir, Arth!“
Ich sprang auf, und mein Knöchel jagte Schmerzwellen durch jede Pore meines Körpers. Ich blickte nach hinten, und tatsächlich, da war er! Die schwingende Schicht hatte sich bis auf wenige Zentimeter zu meinen Beinen vorgearbeitet. Wieder erkannte ich die schwarzen Schatten, die sich unter dem Dunst bewegten.
Ich humpelte voran, schrie bei jedem Auftreten. Das tiefe Raunen wurde lauter, drang von allen Seiten her auf mich ein, bohrte sich in meinen Verstand. „LAUF, ARTH!“
Wo war mein Stock? Etwas berührte mein Bein, und ich sprang nach vorn, kam mit dem schlagenden Fuß auf und fiel erneut zu Boden. Wo war der Stock? Ich hatte ihn auf den Boden gelegt, als wir die Mauer durchqueren wollten. Ich wirbelte den Kopf nach hinten, sah den Nebel direkt hinter meinem Stiefel. Ein schwarzer Hinterkopf trat aus der Schicht empor, wie eine groteske Haiflosse. Ich schrie, robbte nach vorn, sprang auf die Füße und hinkte so schnell ich konnte durch die dichten Reihen vor meinen Augen. Die scharfen Kanten der Blätter teilten meine Haut. Ich merkte es nicht. Nur noch weg!
Stunde um Stunde kämpfte ich mich keuchend durch das Feld, verlor jegliches Zeitgefühl und humpelte, mich an den dicken Stämmen haltend weiter. Unendlich schienen das Feld und die Zeit. Es wurde Nacht, doch ich ging weiter, tastend, jederzeit damit rechnend, von diesen Wesen aus dem Nebel gepackt zu werden. Ich ging immer weiter, bis es wieder heller wurde. Immer weiter … immer weiter.
Die zweite Nacht war nicht mehr ganz so schlimm. Zumindest hatte ich mich an das immer wieder auftretende Raunen gewöhnt und erlag nicht jedes Mal einem halben Herzinfarkt, wenn es ertönte. Seither war der Nebel nicht mehr aufgetaucht, ich war ihm entkommen, ihm und diesen Wesen, die darin hausten. Und genau wie der Nebel, so blieb auch Sydney verschwunden.
Ich lehnte an einem Maisstamm, und meine Augen brannten, so wie jeder Teil meines Körpers. Ich fror und verfluchte zum hundertsten Mal meine dumme Idee, mich auf diese Wette eingelassen zu haben. Zehn Dollar und eine Flasche Hochprozentigen für ein Menschenleben. Vielleicht sogar auch für zwei, falls es Sydney nicht geschafft hatte.
Oder drei!, höhnte meine innere Stimme.
Vielleicht hätte ich doch durch die Mauer zurückgehen sollen, als dieses Wesen über Bob hergefallen war, so wie es dieser Feigling Sydney getan hatte.
Vor gut zwei Stunden hatte ich den Kompass zertreten. Ständig hatte die Nadel etwas anderes angezeigt. Vielleicht sollte ich mich mit dem Gedanken abfinden, dass ich hier niemals wieder rauskommen werde. Vielleicht sollte ich mich einfach hier hinlegen und warten, bis der Nebel kam.
Ich schüttelte den Kopf, versuchte die ständig aufkeimende Müdigkeit zu vertreiben. Sie führte nur zu trüben Gedanken. Seit knapp zwei Tagen hatte ich nicht mehr richtig geschlafen, abgesehen von ein paar kleinen Nickerchen, aus denen ich jedes Mal wieder nach kurzer Zeit hochschreckte.
Mein Körper war ein einziger, tauber Schmerz, aber ich würde kämpfen. Für Lisa würde ich kämpfen. Und dafür, Sydney die Fresse einzuschlagen. Irgendwo musste es doch einen Ausgang geben. Es gab kein Maisfeld, das unendlich war. Schließlich hatten wir es als Kinder schon einmal umrundet. Sydney, Bob und ich. Bei dem Gedanken füllten sich meine Augen mit Tränen. Sie rannen meine Wange hinab und brannten in den Schnitten, die die Blätter auf meinem Gesicht hinterlassen hatten. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich nicht nur äußere Wunden davon tragen würde.
Immer wieder sah ich Bobs Todeskampf, sah diese Monster, die ihn in den Nebel gezogen hatten, sah das, was danach mit ihm geschehen war. Und ich dachte immer wieder daran, dass ich ihn vielleicht hätte retten können. Ja, mit Sydneys Hilfe hätte ich ihn retten können. Sydney, ich hoffe für dich, dass du hier nicht rausgekommen bist …
Ab morgen werde ich mich immer nur noch in eine Richtung fortbewegen. Und wenn ich zwanzig von diesen verfluchten Mauern durchqueren musste. Bisher hatte ich immer versucht, sie zu umgehen. Ich hatte ja den Kompass. Und wer weiß, wo ich mich jetzt, dank dieses Scheißdings, befand. Wahrscheinlich war ich immer nur im Kreis gelaufen. War das der Fluch des Maisfelds? Einmal drin, immer drin.
Ich schloss die Augen. Nur für einen Moment dieses unerträgliche Brennen vertreiben. Nur für einen Moment ...
Erschrocken fuhr ich hoch. War da ein Schrei? Stimmen?
Ich lag mit dem Kopf auf dem staubigen Boden, die Lippen berührten den Lehm. Meine Glieder waren so steif gefroren, dass ich das Gefühl hatte, sie würden bei der geringsten Bewegung aufplatzen.
Vorsichtig richtete ich den Körper auf. Es war hell. Wie lange hatte ich geschlafen? Und vor allem, was hatte mich geweckt? Ich versuchte zu lauschen, doch da war nichts mehr. Die erdrückende Stille, die mich seit zwei Tagen umgab und nur ab und an durch dieses dumpfe Raunen unterbrochen wurde, hatte sich auch jetzt über das Maisfeld gelegt.
Mein Mund war ausgedörrt, und ich nahm den letzten Schluck, der sich noch in der Feldflasche befand. Ich sah mich um. Der breite Weg, auf dem ich saß, wurde wieder von einer dieser undurchdringlichen Maismauern vor mir begrenzt, schien sich nach links und rechts ins Unendliche auszudehnen. Aus welcher Richtung war ich gekommen? Ich versuchte mich zu erinnern, doch es gelang mir nicht. Es hätte von überall her sein können. Außer durch die Mauer selbst.
Ich blickte nach oben, sah die Sonne, die versuchte, durch das dichte Blätterdach hindurchzudringen. Die Wunden auf meinem Rücken schmerzten, beinahe schlimmer als mein pulsierender Knöchel. Meine Hand war ebenfalls geschwollen, denn die Stelle, an der Bobs Nagel eingedrungen war, hatte sich entzündet, und Eiter glänzte in seiner gelblichen Konsistenz um das dunkle Loch herum. Die Schnitte auf meinen Unterarmen waren verkrustet und begannen zu jucken.
Mühsam erhob ich mich. Alles um mich herum begann sich zu drehen, so dass ich nach einem Maishalm greifen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als ich nach einer Weile die Augen wieder öffnete, sah ich eine Gestalt weit hinten auf dem Weg stehen. Ich rieb meine Lider und erkannte Lisa, die winkte. Dann war sie verschwunden. Mühsam tastete ich mich vorwärts. Lisa, warte auf mich! Warte …
Als ich erneut vor eine dieser undurchdringlichen Maismauern stand, spürte ich, wie Tränen meine Wange hinabliefen. Bestimmt zwei Stunden war ich jetzt diesen Weg entlanggehumpelt; zwei Stunden, in denen der ständig anwachsende Schmerz meinen Körper zu zerfressen drohte. Zwei Stunden umsonst.
Ich versuchte, die Stämme auseinander zu drücken, doch sie bewegten sich keinen Millimeter. Meine Kräfte waren erschöpft, und so ließ ich mich langsam zu Boden gleiten.
Rechts von mir ersteckte sich ein weiterer Weg. Wahrscheinlich einer, den ich schon mehrmals gegangen war; wahrscheinlich war ich hier jeden Weg schon mehrmals gegangen. In weiter Ferne nahm ich wieder dieses tiefe Raunen wahr. Ich hörte einen Kinderschrei dazwischen, oder waren es mehrere Stimmen? Es war mir egal. Ich würde hier sitzen bleiben und warten. Meine Kehle war so ausgetrocknet, dass ich nicht einmal mehr schlucken konnte. Und Wasser gab es keines mehr. Vielleicht war ich ja verdurstet, bevor der Nebel kam. Ab und an hatte ich ihn schemenhaft zwischen den Halmen gesehen, doch wenn ich genauer hinblickte, war er wieder verschwunden.
Eine scheinbare Ewigkeit später bewegte sich etwas auf dem Weg, von dem ich gekommen war, ließ den Boden flimmern. Ich grinste, als das Raunen lauter wurde. Da war er.
Die wabernde Schicht kroch zwischen den Halmen hervor und verband sich zu einem einheitlichen Ganzen, das sich langsam näherte. Chris Bailon hatte Recht behalten. Es gab keinen Ausweg; genau das war der Fluch. Es gab keinen Ausweg aus diesem blassen, toten Labyrinth.
Und die Wette war ohnehin verloren. Aber wenn er von dem Geld Lisa eingeladen hatte, dann war zumindest ein Zweck erfüllt. Etwas anderes hatte ich ja auch nicht vorgehabt. Wieder wurden meine Augen glasig. War es normal, dass im Angesicht des Todes die Gefühle verrückt spielten? Würde jetzt die Melancholie ihre spitzen Finger in meinem Körper bohren, wie einst die schwarzen Wesen die ihrigen in den Körper meines Freundes?
Der Nebel kam näher, und das Raunen wurde lauter. Waren da wieder Stimmen? Einzelne Wortfetzen drangen zu mir herüber. „... wir ... haben ... dich, Arthur ...“
„Wenn es so sein soll“, krächzte ich dem Nebel entgegen. Ich hoffte nur, dass es schnell gehen würde. Allerdings, wenn ich an Bob dachte …
„Arth, steh auf!“
Ich blickte zur Seite und erneut erkannte ich Lisa. Sie schwebte den anderen Weg entlang, lächelte mir zu, wie sie es immer getan hatte, wenn wir uns trafen. „Komm, Arth, du hast es bald geschafft. Lass mich nicht noch länger warten.“
„... wir ... haben ... dich ... Arthur ...“ Die Stimmen wurden lauter. Es war ein monotoner Singsang, der mich zu locken versuchte. So schön … so lieblich …
„Nein!“, brüllte ich, während ich mich mühsam erhob. Der Nebel zog sich zurück.
Schritt für Schritt schlich ich den Weg entlang, auf dem ich Lisa gesehen hatte. Immer wieder musste ich Halt machen und mich an den dicken Stämmen abstützen. Meine Handflächen waren einen einzige blutende Masse. Es gab keine Stelle, die noch nicht aufgeschnitten war.
Und immer wieder fraß sich diese hohle Stimme in meinen Verstand. „… wir … haben … dich … schon … lange … Arthur …“
Schon lange? Wollten sie mich verhöhnen?
Nach einer Weile wurde der Mais wieder dichter, und kurz darauf stand ich vor einer neuen Mauer. Ich blickte hinab und sah einen langen Stock, und als ich mich schwerfällig bückte, erkannte ich, dass es meiner war. Ich hatte ihn hier liegen lassen, als Bob, Sydney und ich vor zwei Tagen durch diese Mauer gegangen waren. Ich stand tatsächlich wieder vor jener ersten Mauer, an deren anderer Seite Bob den Tod gefunden hatte. Jene Mauer, in der Sydney den Rückzug angetreten und uns im Stich gelassen hatte.
Wenn ich mich jetzt nach rechts wandte, würde ich auf der Seite raus kommen, an der wir rein gegangen waren. Wir! Drei Freunde, die zehn Dollar und eine Flasche Schnaps verdienen wollten. Und das von diesem arroganten Arschloch Chris Bailon, dessen Vater mit Sicherheit Hunderte von den Dingern im Keller hatte. Ich nahm den Stock auf, und meine Handflächen bedankten sich, nicht noch weitere Schnitte zu erhalten.
„… wir … haben … dich … Arthur … so lange …“
Der Nebel tauchte wieder auf. Ich erblickte ihn auf dem Weg, den ich noch vor Minuten gegangen war.
„Ihr habt mich noch lange nicht!“ Ich lachte laut, und das Lachen war so tot, wie die Erde unter meinen Stiefeln.
Als sich nach einer scheinbaren Unendlichkeit die Halme lichteten, blieb ich stehen. Ich blickte auf das Gras, das da in seinem satten Grün vor mir lag. Ich dachte nicht darüber nach, warum dort draußen Gras wuchs, anscheinend war es doch eine andere Seite, ich wusste nur, dass ich es tatsächlich geschafft hatte.
Wieder vernahm ich die raunenden Stimmen weit hinter meinem Rücken. „Niemals!“, schrie ich zurück, und das Lachen, das meiner trockenen Kehle entwich, tat so unendlich gut. Es war ein Lachen, das lebte.
Langsam ging ich weiter, und als ich die letzten Maishalme hinter mir gelassen hatte, als meine Füße den weichen, lebenden Boden berührten, das Licht in meinen Augen brannte, da umgab mich diese Wärme, von der ich wusste, dass sie nicht nur von der Sonne herrührte.
Ich fiel auf die Knie, ließ mich hinabgleiten und drehte mich auf den Rücken. Der gelbe Ball am Firmament stach mir in die Augen und seine warmen Strahlen drangen tief in mein Innerstes ein. Jeglicher Schmerz war vergessen, ja, er würde vergehen, denn ich hatte es geschafft. Ich wollte es hinausschreien, jeden daran teilhaben lassen, doch ich war zu erschöpft, und so genoss ich einfach nur diese Unendlichkeit des Lebens. Ich genoss sogar das stechende Pochen in meinem Knöchel, das Brennen meiner Hände und die schneidende Hitze, die aus jedem meiner Schnitte in der Haut drang. Ich triumphierte.
„Arth?“
Die krächzende Stimme ließ mich aufschrecken. Ich drehte mich zur Seite, sah die Gestalt, die da auf einen Gehstock gestützt neben mir stand.
„Oh, mein Gott, Arth.“ Die Frau begann zu zittern, und ihre faltigen Hände umklammerten den Stock fester.
„Ma’m?“, kam es aus meiner Kehle. Ich hustete.
Die alte Frau ging mühsam in die Knie, streckte eine Hand aus. Die Finger strichen zitternd über meine Wange. „Oh, Arth.“
Etwas Seltsames keimte in meinem Magen auf; da entstand etwas, das ich nicht zuordnen konnte. „Kennen wir uns, Ma’m?“ Mein Hals brannte. Ich blickte in das faltige Gesicht, in die glänzenden, braunen Augen.
„Ich wusste, dass du irgendwann kommen würdest“, sagte sie leise. „Und ich danke Gott, dass ich es noch erleben darf.“ Die Finger berührten meine Lippen.
Diese braunen Augen.
„Hallo, Arth.“ Hinter der Alten tauchte eine weitere Gestalt auf. Wesentlich jünger als die Frau. Vielleicht im Alter meines Dads. Die Person trug kurze Shorts, und die dünnen Beine waren von Staub bedeckt. Der Druck in meinem Magen breitete sich weiter aus.
„Du wirst es verstehen“, sagte die alte Frau. „Sydney ist vor zwanzig Jahren aus dem Feld gekommen.“
„Sydney?“ Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade fragte.
„Ich bin damals sofort zurückgelaufen, Arth. Damals, als du und Bob ...“
„Wieso damals? Was erzählen Sie denn da? Das war vor zwei Tagen!“ Irgendetwas schien in meinem Kopf zu explodieren. Was ging hier vor sich?
Der Mann bückte sich und reichte mir einen Becher mit Wasser. „Ich habe mich auch verlaufen, aber nach ein paar Stunden bin ich hier wieder rausgekommen. Und da ...“
„Da waren fast zwanzig Jahre vergangen, Arth.“ Die alte Frau nahm mir den Becher ab. „Ein Tag in diesem Feld entsprechen etwa zwanzig Jahre hier draußen.“
Ich blickte in ihr Gesicht. „Das kann nicht sein“, sagte ich barsch.
Die Frau sah mich ernst an. Und in diesem Moment wusste ich, dass sie die Wahrheit sagte. Diese Zornesfalte ...
„Lisa?“ Meine Stimme zitterte. Ein dumpfes Dröhnen schwoll in meinem Schädel an. Kam näher.
Die alte Frau lächelte, und ihre Zornesfalte verschwand. „Ich habe jedes Jahr gehofft, Arth.“ Ihre Augen wurden glasig. „Ich habe jedes Jahr gehofft, dass ich dich noch einmal sehen darf. Nur noch einmal, bevor ich sterbe.“
Ich spürte, wie meine Beine zitterten. Lisa. Wie konnte das sein? Das durfte nicht sein. Ich umklammerte meinen Stock, zog mich mühsam daran hoch.
„Was ist mit Bob passiert?“, fragte Sydney.
Bob ist tot, wollte ich ihm entgegen schreien. Er ist tot, weil du die Hosen voll hattest und uns im Stich gelassen hast. Ich wollte den Stock nehmen und ihm seine dämliche Fresse einschlagen. Doch ich gab mich nur zitternd dieser schmerzhaften Lethargie hin, die mich in diesem Moment langsam mit ihren Klauen erdrückte.
„Als Sydney seinerzeit wieder aus dem Feld herauskam“, sagte Lisa, „da habe ich von meinem Mann verlangt, er solle dieses Grundstück kaufen, damit niemand mehr in das Feld konnte. Wir haben hier das Haus gebaut. Und … ich habe auf dich gewartet.“
„Dein Mann?“
Lisa blickte zu Boden. „Chris und ich haben damals geheiratet. Er ist vor vier Jahren gestorben.“
Eine erneute Explosion entstand in meinen Eingeweiden. Mein Kopf kreischte. Ich blickte zu dem Maisfeld, hinüber zu den blassen Halmen.
Wir ... haben ... dich ... Arthur! Wir … haben … dich … schon … lange!
Es klang, als wollten sie mich verhöhnen, doch die Stimmen hatten Recht. Und genau das war der Fluch!
„Warum … warum habt ihr nicht nach mir suchen lassen?“ Meine Stimme brach.
Ich sah Tränen in Lisas Augen entstehen. „Wir haben alles dem Sheriff erzählt, Arth. Als ihr am nächsten Tag immer noch nicht raus ward, da haben wir es erzählt.“
Ich erkannte, dass sie nach Worten suchte.
Jetzt legte Sydney einen Arm um ihre bebenden Schultern. „Sie haben niemanden reingeschickt, Arth“, sagte er sanft. „Redeten von Flüchen, und dass nie einer wieder rausgekommen sei.“
Lisa sah auf. „Arth, sie sagten, sie würden uns einbuchten, wenn wir auch nur noch einmal in die Nähe des Felds kommen würden. Ich glaube, … ich glaube, sie haben alles gewusst. Sie haben es wohl gewusst.“ Sie weinte. „Wir haben gehorcht, ja, das haben wir. Und den Rest kennst du ja, Arth.“
Noch einmal blickte ich zu den beiden Personen, die da im Gras saßen. „Es tut mir leid, Lisa“, sagte ich leise. Ich wollte sie berühren, doch es ging nicht. Das Pochen in meinem Fuß wurde unerträglich. Ich sah zu Sydney, der in seinen Schoß blickte. Beinahe wie damals – vorgestern – als drei Freunde vor einem blassen Maisfeld hockten, um eine banale Wette einzulösen. Damals – vor vierzig Jahren – als ich diese Wette einging, um meine Lisa einmal ausführen zu können.
„Wir … haben … dich … Arthur!“
Ja, das Maisfeld hatte wahrlich Recht. Es hatte mich. Alles, wofür ich in den letzten zwei Tagen gekämpft hatte, war verloren. Meine Welt war verloren.
Ich wandte mich ab und ging zu den blassen Halmen, die mir jetzt gar nicht mehr so farblos erschienen.
„Willkommen zurück, Arthur.“