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- 04.10.2006
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Der Fluch
Katzen folgen ihrer Natur. Meine Katze folgt ihrer Natur. Meist allerdings nur bis zu jenem Punkt, an dem die Beute erlegt ist. Das Verspeisen der Beute überlässt sie dann mir. Ich verspeise die Beute in der Regel nicht.
Meine Katze jagt Mäuse. Manchmal bringt sie sie mit nach Hause, heult herum, will Anerkennung, will eine Belohnung. Und was soll ich die Katze maßregeln, dass man nicht einfach so Mäuse umbringt. Wer bin ich, der ich ein Mensch bin, einer Katze Vorhaltungen über sinnloses Töten zu machen. Ich belohne die Katze aus der Dose, und dann nehme ich die Maus und hülle sie in ein Leichengewand aus Küchenkrepp. Manchmal lasse ich sie in der offenen Handfläche liegen und spüre die schwindende Körperwärme durch die Zellulose. Die Maus ist tot, aber noch glüht in ihr das Leben.
Einmal hat die Katze ein junges Eichhörnchen mitgebracht. Es war größer als die winzigen Mäuse, und es war nicht tot. Ich habe es der Katze abgenommen, ich habe geschimpft und nicht belohnt. Und ich habe es in eine Dose gelegt, in Küchenkrepp, und die Wunden mit feuchten Tüchern abgetupft. Ich war mit dem Hörnchen beim Arzt, habe Milchpulver bekommen und gute Ratschläge. Am nächsten Tag ist das Hörnchen gestorben. Am schlimmsten waren die Schreie. Ich habe es beerdigt, ich weiß heute noch wo, obwohl ich das Grab nicht markiert habe, wegen der Nachbarn. Ich wohne dort nicht mehr.
Im Spätsommer hat die Katze einen Schmetterling erlegt. Die Flügel der Schmetterlinge sind empfindlich, man darf sie nicht berühren. Die Katze wusste das nicht, es interessierte sie nicht. Insekten sind zäh, sie sterben nicht so schnell wie Mäuse. Aber sie erkennen auch nicht, wann das Ende nah ist. Der Schmetterling versuchte mit seinen zerrissenen Flügeln zu starten, mechanisch, wie ein Automat. Ich habe die Katze verscheucht, habe den Schmetterling aufgenommen und auf die Brüstung meines Balkons gesetzt. Ich konnte ihn nicht zertreten, auch wenn das vielleicht gnädiger gewesen wäre. Er war so schön, auch als zerfetzte Farce dessen, was er gewesen war.
Man muss nicht an Gott glauben, um die Schönheit der Natur anzuerkennen. Gerade, wenn man Gott nicht als Schöpfer bemüht, sind die Dinge in der Natur wunderbar. Dass sie so geworden sind, ohne einen lenkenden Willen, muss man das nicht ein Wunder nennen? Sie folgen einfach ihrer Natur, sie sind Geschöpfe des Jetzt, sie leben jetzt und sie leben fort, bis sie damit aufhören. Schmetterlinge, Mäuse, Eichhörnchen, Katzen. Sie leben.
Wir sind verflucht, weil wir sterben.