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- 01.01.2015
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Der Frauenversteher
Ernst schließt sein Fahrrad neben dem Warnemünder Leuchtturm an und atmet genussvoll ein. Salz, Wärme und der leicht beißende Geruch von Algen – Heimat. Neugierig schaut er den Dünenweg hinunter zum weißen Ostseestrand. Totale Flaute, kein Lüftchen. Nur die Brandung schwappt über den Streifen aus Flintsteinen. Hier scheucht ein Kleinkind seine Eltern herum, dort liegt ein nahtlos gebräuntes Rentnerpaar und mit einem Lächeln entdeckt Ernst einige einzelne Damen. Mühsam streift er seine Sneakers ab, krempelt die Leinenhose gerade so weit auf, dass die Krampfadern nicht zu sehen sind und versucht den Streit mit Marie zu vergessen.
Jedes Mal wenn er zum Strand geht, gibt es Ärger. Er hat ihr noch nichts von seiner Kontaktanzeige 'Gespräche gegen Essen gehen' im Kurhaus erzählt. Sie reagiert ja so schon aufgebracht.
„Du willst doch nur andere Frauen angucken, dich bewundern lassen.“
„Nein, ich will sie nett unterhalten, da sind ganz viele allein unterwegs, die freuen sich über Gesellschaft.“
„Ach, und dann? Wie viel Gesellschaft wird das?“ Sie sah aus, also wolle sie mit den Füßen aufstampfen, aber dafür reichte ihre Kraft nicht.
Marie ist seit der Herz-OP nicht mehr richtig auf die Beine gekommen, sie geht nicht mehr aus dem Haus, schläft viel, gefühlt ist sie eine ganz andere Frau. Wo ist der Schalk geblieben, die Unternehmungsfreude, wo der Spaß an ein bisschen mehr als Kuscheln am Strand. Dabei traut er sich kaum zu streiten, so schnell ermüdet sie, so traurig ist sie oft tagelang. Und sie ist seine Marie. Ein letztes Durchatmen, Marie aus seinen Gedanken verdrängen und los geht es.
Ernst wandert den Strand entlang, gespannt, ob er die Dame erkennen wird. Oder sie ihn. Bisher gab es nur WhatsApp-Nachrichten: der Treffpunkt in Höhe des Volleyballnetzes vorm Neptun, einen Hinweis auf eine rosa Decke mit Flamingos und Ernst hat sich als gut aussehenden, in Ehren ergrauten Herrn mit hellem Leinenanzug beschrieben.
„Huhu.“ Eine Dame mit gleichfalls grauen Haaren winkt ihm zu, da ist auch besagte Badedecke. Ernst, leicht abgelenkt, stolpert über eine gehäkelte Maus. Eigentlich wohl ein Mäuserich, denn die gut zwanzig Zentimeter hohe Figur trägt Schnurrbart und Pfeife zu ihren Fischerstiefeln. „Wie niedlich! Haben Sie die gemacht?“
Die Mittsechsigerin lacht ihm offen entgegen und nickt. „Ja, das ist Bernd! Bernd der Fischer! Jetzt versuche ich mich gerade an Hans, dem Kapitän.“ Sie hält ihm ein buntes Gewirr aus Fäden in Weiß und Blau entgegen.
„Spannend! Ich habe nie verstanden, wie man aus einem langen Faden so etwas formen kann.“
„Soll ich es Ihnen beibringen? Das ist wirklich ganz einfach.“
„Nee, ich bin da echt altmodisch – Handarbeit für Frauen, Handwerk für Männer.“
Die Frau nickt und sagt: „Da gehe ich mit, man traut es sich ja kaum noch zuzugeben, aber ich bin wohl auch altmodisch.“ Ihre Augen wandern über seine schlanke Gestalt, die silbergrauen, aber vollen Haare und den ordentlich gebügelten Leinenanzug. Ihre Hand greift hinauf, richtet ihr Haar. Ein Zupfen am Strandkleid. „Ich bin etwas unsicher, was wir jetzt machen. Möchten Sie vielleicht Platz nehmen?“ Sie greift nach einer Kekspackung und lädt ihn zum Zugreifen ein.
„Oh, wirklich gerne.“ Ernst überlegt kurz und sinkt zu einem perfekten Schneidersitz zusammen, die Schuhe brav außerhalb des Deckenrandes. Noch hat er keine Ahnung, ob er auch nur annähernd so elegant wieder aufstehen wird.
Sein Lächeln stockt, er sieht hin- und hergerissen aus. „Entschuldigung, ich habe mich überhaupt nicht vorgestellt.“ Umständlich versucht er aufzustehen.
„Schon gut, bleiben Sie sitzen, ich bin immer froh, wenn ich erst mal unten oder oben bin.“
Ernst nickt. „Dann halt im Sitzen, mein Name ist Ernst und ich denke, ich bin ein Frauenversteher.“
„Ähm … Nicole! Ein was?“
„Ich glaube, dass ich toll zuhören kann, ich erzähle gerne und ich mag Frauen.“
„Alles klar! Und ich bin die Zahnfee.“
Ernst versucht sich aufzurappeln.
„Nein, nein! Ich meine es nicht bös, ist schon recht.“ Wieder schaut sie Ernst forschend an. „Zuhören hört sich gut an, ich habe heute noch mit niemandem gesprochen.“
Und so entspinnt sich ein Gespräch übers Reisen, die besten Hotels und das leckerste Essen.
„Doch, doch, bei Paul gibt es den besten Räucherfisch, das schwöre ich.“ Ernst hebt zwei Finger. Allmählich wird es ihm zu heikel, Nicole verspricht sich von dem Treffen vielleicht mehr, als ein paar Stunden in Gesellschaft.
Ihre Hand liegt entspannt auf seiner Wade, streicht die Hose glatt, der Blick ist verträumt. Vor Ernsts Augen stehen andere, begehrliche Blicke. Maries Hand fährt seine Beine hinauf, drückt ihn in den Sand. Das waren Zeiten, er spürt das Sehnen seines Körpers. Ob er das noch mal mit Marie erleben wird? Er wippt mit den Füßen, räuspert sich. „Mein Magen knurrt seit einer halben Stunde. Wie wäre es mit Essen gehen?“
Mit Schwung steht Nicole auf, lässt Ernst nicht aus den Augen. „Wie teuer kommt mich das denn jetzt zu stehen? Hotel Neptun?“
„Nein, auf keinen Fall! Pauls Räucherstübchen ist günstig und lecker
Er verbeugt sich charmant, hilft beim Deckezusammenlegen und greift sich die Strandtasche. Höflich lässt er Nicole den Vortritt, verharrt kurz auf dem Spülsaum und blickt sehnsüchtig über die Ostsee. Sanftes Rauschen, das Klackern der zurückrollenden Steinchen und dieses ewig spielende Glitzern. Er atmet tief ein, folgt seiner heutigen Mittagsspenderin. Sie hat einen entschlossenen Gang, beschwingt, weiblich, viel Power. All das, was ihm an Marie jetzt fehlt. Aber es ist Marie, seine Frau. Er schüttelt den Kopf über sich selbst, bisher hat ihn keine der Stranddamen emotional angesprochen.
In Pauls Räucherstübchen finden sie einen kleinen Ecktisch.
„Ich denke, ich nehme den Kapitänsteller, da hat man von allem etwas. Gut für den großen Hunger. Einen Salat dazu?“ Fragend schaut er seine neue Bekanntschaft an.
„Ist aber ganz schön viel … ach egal, das schaffen wir schon.“
Ihre Augen sprechen von etwas anderem, da ist Hunger, Hunger nach einem Menschen, aber auch Angst. So hatte Marie ihn vor fünfzig Jahren angeschaut, unersättlich und gleichzeitig wie ein Versprechen auf ewiges Brot. Und ein bisschen bange.
Mona, die Kellnerin, stößt ihn mit dem Fuß an. „Träum nicht, du hast Gesellschaft!" Ernst schrickt zusammen.
Nachdem sie die Karten zurückgereicht haben, konzentriert sich Nicole ganz auf Ernst. „Erzähl weiter von China.“
„Na, da war dieser Fluss, ein Mann saß in Yogahaltung inmitten all der aufgestauten Äste und verbeugte sich mit jeder übergehenden Welle. Wir haben tatsächlich gestaunt, wie lange der Typ die Luft anhalten konnte. Erst allmählich dämmerte uns, dass etwas nicht stimmte. Dort hatte sich ein Toter verfangen, mit einem wundervollen Blick ins Tal, beinahe freischwebend, aber nicht mehr in unserer Welt. Es war mitten im Nirgendwo, wir waren drei Stunden bis dort gewandert. Diese Situation konnte ich nicht fotografieren, obwohl es eine Fotosafari war.“
Nicole ergreift seine Hand, verschränkt ihrer beider Finger miteinander.
Ernst schaut ihr tief in die grauen Augen, Lachfalten und andere, geheimnisvoll und … faszinierend, reizvoll? Diese Ideen schiebt er schnell beiseite. Nein, auf keinen Fall!
Er löst sich vorsichtig von ihr, rückt den Stuhl zurecht und setzt sich aufrecht hin, verschafft sich etwas Abstand. „Aber nun erzähl von dir, was machst du hier am schönen Ostseestrand?“
„Mich erholen, natürlich.“ Nicole verharrt, überlegt. „Ich mache mir aber auch etwas vor, ich glaube, ich bin einfach ein bisschen vor der Realität weggelaufen. … Ich bin einsam!“
Der Satz fiel ihr sichtbar schwer.
Sie wird ganz still, schaut auf den Tisch. Vorsichtig legt er seine Hände vor sie auf die Tischplatte, offen, die Handflächen nach oben und wartet. „Einsamkeit tut weh und ist gefährlich, aber ich glaube, den wichtigsten Schritt hast du gemacht, wenn du erkennst, dass du einsam bist. Es lässt sich ja ändern.“
„Das sagt sich so leicht.“ Ihre Augen schimmern, sie schluckt mehrmals hart.
Ernst lehnt sich zurück. „Woran scheiterst du denn?“
„Ich, ich bin nicht mehr schön.“ Stockend kommt es raus, Nicole schaut skeptisch auf ihre Hände und den Bauch.
„Na ja, wenn du dein Beuteschema auf Fünfundzwanzigjährige erweitern möchtest, könnte es ein bisschen hakeln, mit Mitte Sechzig haben wir alle Gebrauchsspuren.“
„Mein Mann hat mich gerade wegen einer Mittzwanzigerin sitzen gelassen, so ganz stimmt das also wohl nicht.“
„Ach, komm! Wir wissen beide, dass bei so was alles Mögliche reinspielt, da will ich jetzt gar nicht werten. Offensichtlich war zumindest für deinen Mann eure Zeit vorbei, das tut weh, aber manchmal ist es so. Das Ding mit dem „bis dass der Tod euch scheidet“, klappt halt im wahren Leben nicht immer. Aber das mindert doch deinen Wert als Frau nicht!“
Geschockt schaut ihn Nicole an. „Na, dankeschön!“ Sie setzt sich gerade hin, wirkt auf einmal selbstbewusster.
„So war es nicht gemeint, Entschuldigung!“
Ernst merkt, dass er abgelenkt ist, schiebt schnell den Gedanken an Marie beiseite, lächelt, hebt ihre Hände, die sie vertrauensvoll in seine gelegt hat, an und drückt sie. „Nun, das gilt anscheinend nicht für alle Männer, wir müssen also nur den richtigen für dich finden.“
Seine Ehrlichkeit wird mit einem sinnlichen Lächeln belohnt. „Ja, mit dir würde ich mich trauen.“
Ernst lacht unverbindlich und sagt betont lustig: „Dann lass mal schauen, dass wir etwas Vergleichbares, aber in besserem Zustand und jüngeren Baujahres finden.“
Die Kellnerin tritt an den Tisch und erlöst ihn aus der heiklen Situation. Auf einem Bett aus verschiedensten Salatblättern sind liebevoll die Räucherfischstücke in Form eines Fischkutters arrangiert. Da glänzt ein fetter Heilbutt, der Aal verströmt seinen herben Duft und Garnelen bilden den Anker. Ein Segel aus Alufolie und Wellenkämme aus zarten Sprossen lassen auch die Augen sattwerden.
Sie essen mit Genuss, schweigen. Jeder in seinen Gedanken und doch dankbar für die Gesellschaft des anderen. Ernst spürt die aufsteigende Lust auf mehr, sein Interesse an Nicole. Er muss zu Marie, seiner Marie. Wie sagt sie immer so schön: 'Appetit holen ist erlaubt, gegessen wird zu Hause!'
„Uff, ich kann nicht mehr, wenn ich eigentlich auch den allseits bekannten ‚Mecklenburger Puddingmagen‘ habe. Sorry, die Grütze lasse ich stehen.“ Ernst klopft sich auf den Bauch, lehnt sich zurück. Erschreckt schaut er auf die Uhr. „Oh mein Gott, vielen Dank für das sehr angenehme Mittagessen, ich habe die Zeit mit dir genossen. Aber ich sollte aufbrechen, hab eine Verabredung mit nem alten Freund, sorry, total die Zeit vergessen …“
„Das passt, ich habe eine Stadtführung gebucht und sollte pünktlich nach Rostock reinfahren.“ Sie steht auf, lässt sich in die Jacke helfen. Mehrfach dreht sie sich zu ihm um und tritt von einem Fuß auf den anderen. Ganz leise die Frage: „Sehen wir uns wieder?“
„Ich weiß nicht ...“ Was wird Marie dazu sagen? Muss er es ihr erzählen? Dann spontan: „Ich bin heute Abend frei, wie wäre es mit der Bar im Teepott? Gute Musik, lecker Drinks, interessantes Publikum, lass uns nach einem Mann für dich schauen.“
„Gerne, ich warte dort auf dich, so gegen 21.00 Uhr?“ Nicole steht unsicher vor ihm, als Ernst sich vorbeugt und sie ganz leicht in den Arm nimmt. Sie kichert, winkt und geht.
Ernst atmet mit gespitzten Lippen aus und wendet sich Richtung Küchenklappe.
Die Kellnerin hält ihm die Tüte mit den verpackten Essensresten hin. „Ja, Kapitänsteller war eine gute Wahl, Marie wird dich lieben. Allerdings musst du bei der letzten Dame aufpassen, die himmelt dich ja mächtig an.“ Sie droht ihm mit dem Finger. „Schön brav sein!“
„Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau ‘n!“ Er spürt, dass er errötet, sein Pfeifen kann nicht über das schlechte Gewissen hinwegtäuschen.
Ein Blick auf die Uhr, halb zwei, jetzt schnell, Marie hat sicherlich Hunger. Immerhin gibt es ihr Lieblingsessen, Räucherfisch auf Salat von Paul, das gibt bestimmt ein Extralächeln. Für Marie gibt es nichts Schöneres als Ostseeluft und Fisch. Damit alt werden, das ist ihr Traum, ihr gemeinsamer. Niemand hat bedacht, wie sich die Mieten in dem Badeort entwickeln würden.
„Liebling, ich bin zu Hause.“ Ernst betritt die kleine Mietwohnung direkt am Ufer des Alten Stromes. Es zieht ein wenig, Marie hat alle Fenster geöffnet, damit die Ostseeluft sie umweht.
Ein guter Tag, sie wartet auf dem Sofa. Er bleibt in der Tür stehen, muss sie einen Moment ansehen. Sie hat Rouge benutzt, die Lippen nachgezogen und dieses Lächeln, mit dem sie sich die Haare hinters Ohr streicht. Sofort sieht er sie in Minirock und sexy hohen Stiefeln, bis über die Knie. Und erst ihre Lockenpracht. Er versucht ihre Blässe und das Schwanken beim Aufsetzen zu ignorieren. Sie schnuppert übertrieben und zeigt auf den bereits gedeckten Tisch. „Hast du gejagt oder geangelt?“
Grinsend richtet er erst den Salat und darauf je ein Stückchen Aal, Heilbutt und Makrele an. Für Marie filetiert er den Fisch, ihre Kraft reicht nicht mehr für so figelinsche Arbeiten. Er holt eine Kaffeetasse für den Cappuccino und legt die Kekse dazu. Die Götterspeise bleibt für heute Abend. Harziger Räucherduft, gemischt mit Fisch und Meer lässt die Augen seiner Frau strahlen, sie leckt sich über die Lippen und atmet tief ein. „Nicht schlecht! Da hat es ja gelohnt, den Vormittag einsam und allein zu sein.“ Sie winkt ihn zu sich, spitzt die Lippen.
Zärtlich streicht er über ihr Haar, küsst sie, erst vorsichtig, dann fester. Seine Lippen ziehen weiter, knabbern an den Ohrläppchen, was sie wie immer zum Kichern bringt. Ein letztes Pusten auf die feuchtgeküssten Stellen, von dem er weiß, dass es nicht nur ihm ein Ziehen im Unterleib beschert. Mühsam richtet sich Ernst auf. „Mein Rücken – so ein alter Männerkörper ist nicht fürs Schmusen in gebückter Haltung gemacht. Die nächste Runde bitte im Sitzen.“
„Uih, das sind ja interessante Aussichten.“ Mit jetzt natürlich geröteten Wangen widmet sich Marie dem Essen, knabbert die Gräten mit den Zähnen ab.
Ernst lässt sie nicht aus den Augen. „Sag, wenn es dir zu einsam ist, wenn ich nicht gehen soll.“
„Klar, und was essen wir dann? Unsere Renten reichen für die Miete und die Versicherungen und dann sind noch fünfzig Euro übrig. Ich geh nicht aufs Amt betteln. Aber hast du noch mal über die Idee nachgedacht, im Imbiss auszuhelfen, nur für ein paar Stunden.“ Mit einem tiefen Ausatmen sinkt sie in die Kissen, riecht mit gekrauster Stirn an ihren Händen. „Alles im Leben hat einen Haken, ich muss damit klarkommen.“
„Soll ich sie dir waschen, so wie immer?“
Ernst wärmt einen Waschlappen in der Mikrowelle an und nimmt das Zitronenviertel vom Teller. Er kniet sich vor Marie und umfasst eine der viel zu dünnen Hände. Zart streicht er mit der aufgeschnittenen Zitrone alle Finger entlang, umkreist die Fingerkuppen und schaut Marie tief in die Augen. Sie lächelt, er kann die Erinnerung in ihren Augen lesen. Zum Abschluss wischt er mit dem angewärmten Waschlappen die Hand sauber, genauso, wie er es bei ihrem Kennenlernen vor über fünfzig Jahren getan hat. Der Ring um seine Brust, der versucht Sehnsucht, Begierde und Lust zu bändigen, ist derselbe wie vor fünfzig Jahren. Marie besitzt den Schlüssel dazu. Er will sie, nur sie. Aber, …
Sie überlässt ihm die zweite Hand, ihre Finger gleiten durch sein dichtes Haar. „Ja, das hast du damals wirklich sehr gut gemacht, ich habe mich immer gerne von dir waschen lassen.“
Ernst war erst ihr Kellner in einem sehr vornehmen Fischrestaurant, dass sie mit ihren Eltern besuchte und später ihr Liebhaber in einer lauen Nacht am Ostseestrand.
„Nun, ich musste ja dafür sorgen, dass es keine verräterischen Spuren an dir gab.“
„Auf das Waschen komme ich heute Abend zurück, jetzt brauche ich ein kleines Schläfchen.“
„In Ordnung, ruh dich aus. Ich gehe noch einmal zum Strand vor.“
Marie gähnt, die Augen sind schon geschlossen. „Später will ich etwas zu den heutigen Treffen hören, ich bin gespannt.“ Die letzten Worte vernuscheln, Marie ist eingeschlafen.
Ernst deckt sie zu und überlegt, ob er nicht lieber bleiben soll. Einfach Marie anschauen und sich jedes Detail von ihr einprägen, ein Zeichen für die Rückkehr ihrer alten Stärke entdecken. Oder sie im Arm halten. Er schüttelt den Kopf, er ist der Ernährer der Familien, also muss er versuchen, ob sich eine Möglichkeit bietet. Mittlerweile fällt es ihm gar nicht mehr schwer, jemanden anzusprechen. Ob das Bettlern auch so geht? Mehr auf der Seele liegt ihm der Tanzabend mit Nicole. Aber sie braucht diesen Abend, so wird er es Marie erklären.
Zurück am Strand schaut Ernst sich um. Eine Frau, hochgeschlossene Bluse, strenger Pferdeschwanz und in der Hand ein Handy, fällt ihm auf. Die Knöchel treten weiß hervor. Immer wieder wischt sie übers Display, schüttelt ihren Kopf. Sie sieht unglücklich aus. Eventuell verlassen worden, vielleicht aber auch verheiratet und heute allein? Ernst zieht schnell noch sein eigenes Handy aus der Tasche, nein, keine Nachricht von Marie, es ist hoffentlich alles in Ordnung. Er strafft sich, tritt von der Promenade auf den Strand und spaziert dicht an der Frau vorbei. Oh, sie ist sehr jung, maximal vierzig Jahre alt, das wird schwierig für ihn mit seinen fast achtzig, es sind einfach schon völlig andere Welten. Aber ein bisschen sorgt er sich um sie, vielleicht braucht sie Gesellschaft?
Steine Flitschen lassen und Zopf-Frau beobachten. Sie sieht ihn gar nicht, reagiert auf kein Geräusch oder Kommentar in Hörweite. Er wird sie im Auge behalten. Im letzten Sommer gab es einen Selbstmord. Eine sehr ruhige Frau. Sie hatten sich kurz am Strand unterhalten und das Nächste was er vom Vermieter hörte war, sie habe sich vor die S-Bahn geworfen. Diese Machtlosigkeit hatte ihn sehr traurig gemacht, ihn erschreckt. In seinem Alter ist der Tod nah, der Entschluss eher zu gehen, erscheint ihm falsch. Langsam folgt Ernst dem Spülsaum, Miesmuscheln, Seetang und der Kopf eines toten Dorsches, dazu das einlullende Schwappen der Brandung. Heute ist es windstill, die Ostsee wird nur von ihrer eigenen Masse und den Kräften des Mondes bewegt. Eine schöne Vorstellung, alles läuft von allein, alles passt. Aber ist es nicht dieses sich gegenseitig brauchen, abhängig sein, dass Paare entstehen, sie aufeinander achten und sich umwerben.
Ernst greift einen flachen Stein, wirft ihn geschickt haarscharf übers Wasser und zählt. Früher war dies ein Wettstreit vor dem Liebesspiel am Strand. Mehr Hüpfer oder mehr Höhepunkte beim Sex. Seit ein paar Jahren hat der Blutdrucksenker gewonnen, er wird nicht mehr steif. Und den Doktor um etwas anderes bitten, wie peinlich. Ein letzter Blick zu der jungen Frau, die jetzt telefoniert. Nein, da ist nichts zu machen. Wenn Ernst ehrlich ist, sind seine Füße müde. Ans Tanzen will er lieber nicht denken.
Er holt sein Fahrrad vom Leuchtturm, fährt durch die viel ruhigeren, touristenfreien Gassen zurück.
Zu Hause legt er sich zu Marie aufs Sofa. „Rück mal, mach dich nicht so dick.“ Lächelnd streicht er ihr zart über den Rücken, spürt jeden Wirbel, die Rippen. Sie kuschelt sich an seinen Körper. Ernst schnuppert, da ist ganz viel Marie, ein bisschen Parfüm und ein wenig Muffel.
„Nicht, ich habe geschwitzt.“
„Dann wird halt geduscht, ich helfe dir nachher. Komm, lass uns eine Runde Canasta spielen.“ Er zieht Marie sanft hoch.
„Erzähl mir von heute!“
„Du hast es so gewollt, also lausche dem allabendlichen Bericht des Frauenverstehers von Warnemünde.“ Während sich Ernst um einen betont wichtigen und berichtenden Ton bemüht, überlegt er, ob diese Berichte sie eifersüchtig machen oder gar ein wenig erregen. Er weiß es nicht.
„Ich habe etwas ausprobiert, aber es wird dir nicht gefallen."
„Dann erst recht, raus damit!
„Ich habe im Kurhaus am Schwarzen Brett eine Anzeige platziert: Gespräche gegen Essen gehen"
„Okay." Ganz langgezogen und mit gerunzelter Stirn lässt ihn Marie nicht aus den Augen.
„Und warum sollte sich irgendein Urlauber mit dir unterhalten wollen?"
„He, ich bin ein toller Unterhalter, es reisen ja viele allein."
Ernst versucht aufzustehen. „Soll ich dir noch etwas holen?“
„Hiergeblieben, drücken ist nicht. Erzähl, was dich am Mittag so nervös gemacht hat.“ Marie streicht über seinen Arm, lächelt ihm aufmunternd zu.
Ernst holt tief Luft. „Naja, da war Mittags Nicole. Allein, unsicher, verletzlich. Sie ist enttäuscht worden und schwankt jetzt zwischen Misstrauen und der Suche nach einem Partner.“
„Und findet dich ganz toll!“
Maries Hände liegen behütend auf seinen. Dann gibt sie ihm einen kurzen Klaps.
„Aua!“
„Dann antworte! Wie schaut sie dich an?“
„Naja, schon sehr deutlich. Aber ich habe Abstand gehalten.“ Schnell stößt er den letzten Satz aus, hört selbst seine Unsicherheit.
„Ruhig, Brauner! Ich glaube dir! Aber du musst es mir erzählen.“
„Da war nur Händchenhalten und tief in die Augen schauen, ehrlich. Aber …“ Ernst holt tief Luft. „Ich habe mich heute Abend mit ihr im Teepott verabredet.“
Ernst spürt, dass Marie versucht, ihn anzusehen. Er zieht sie hoch, setzt sich neben sie und umfasst eine ihre Hände. „Ich, ich würde gerne wieder einmal tanzen.“ Hastig schiebt er nach: „Ich würde es natürlich lieber mit dir tun, aber …“ Er verstummt. Lässt den Kopf hängen.
Marie steht auf, sie hat eh wie immer gewonnen. „Ernst, ich weiß, du willst nichts Unrechtes tun. Du tauschst Worte gegen Essen, machst uns satt und ermöglichst uns, hier wohnen zu bleiben. Aber wie sehen das die anderen? Was ist, wenn die Nicole sich in dich verguckt?."
Er nickt. „Ich passe auf, versprochen!" Sein Blick weicht ihrem aus. „Jetzt aber ab unter die Dusche.“
Langsam legt Marie ihre Sachen ab, schaut traurig an sich herab. Ernst zieht die gute Leinenhose und das lange Hemd aus, damit er Marie duschen kann. Ihr Blick sagt alles, sie sehnt sich nach ihm, aber so wie früher wird es nicht mehr. Sie werden einfach alt, aber den Kopf hängen lassen, macht keinen Sinn.
Und auch Marie sieht das anscheinend so. Mit dem Duschkopf in der Hand steht sie in der Duschecke und zielt auf ihn. „Na, Lust auf eine Wasserschlacht?“
„Wollen mal sehen, wer hier wen nass macht.“ Er schiebt ihr den weißen Plastikstuhl hin. „Mach ihn heiß!“
Grinsend wärmt sie den Stuhl mit Wasser auf, Ernst hilft ihr beim Hinsetzen und nimmt ihr den Duschkopf ab.
„Wie hätten sie es denn gerne, gnädige Frau – liebevoll oder ruchlos?“ Sanft zieht er ihren Kopf nach hinten, lässt das laue Wasser durch ihr Haar rinnen, lockert dabei die Strähnen. Sein Daumen streicht zärtlich über ihren Hals, bringt sie zum Schnurren. Als er sich ihrem Mund nährt, schnappt sie spielerisch nach ihm. Sanft massiert er das Shampoo in die Haare, hebt sie an, um alle Locken zu erreichen. Mittlerweile liegt Maries Kopf abgestützt an seinem Bauch, das Wasser rinnt an ihm herab. Er beugt sich nieder und pustet auf ihren Hals, dort, direkt unter dem Ohr. Und genießt ihr Erschauern, aber noch mehr das leichte Ziehen in seinem Unterleib.
„Ernst, erinnerst du dich, dass du mir vor Jahre aus Jux einen Dildo geschenkt hast?“
Mit großen Augen erstarrt Ernst mit Maries Schwamm in der Hand. „Ja! Du warst entsetzt und hast ihn entsorgt?“
„Nein, nur die Batterien entnommen und ihn ganz nach hinten im Schrank gesteckt. Vielleicht sollten wir ich suchen?“
Ernst klappt seinen Mund wieder zu und reibt ihre Lieblingsseife in den Schwamm, reicht ihr den Schaumball, damit sie sich waschen kann.
Lächelnd schiebt sie die Hand zurück. „Ich glaube, heute bist du dran.“
„Von Herzen gern.“ Ernst seift sie liebevoll ab, streichelt sie, erfreut sich an ihrem leisen Stöhnen. Die warme Dusche beendet das Ritual, als Marie fast die Augen zufallen.
Müde schaut sie zu ihm auf, genießt das Abtupfen mit dem Frotteetuch. „Ich erinnere mich an unzählige gemeinsame Duschen und Waschungen, an viel Sand an ungeeigneten Stellen. Und jedes Mal bist du mein Held und richtest es.“
Ernst hilft Marie ins Nachthemd, beim Hinlegen und breitet die Decke über ihr aus. „Soll ich hierbleiben?“ Ganz fest schaut er ihr in die Augen.
„Geh, Ernst, du kannst sie da jetzt nicht stehen lassen. Vielleich bist du ehrlich zu ihr und erzählst von mir? Und ich würde es toll finden, wenn wir uns ab morgen auf ‚immer nur ein erstes Date‘ einigen könnten.“
Das verschmitzte Lächeln erlöst ihn. „Klingt fair.“ Mit einem Abschiedskuss geht er zur Tür.
Leise flüstert Marie, vielleicht nur für sich: „Appetit holen ist erlaubt, gegessen wird zu Hause!“