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Der Garten der Leopardin
Für Che Serafina
Am Ende der steinernen Wüste, wo die kalten Berge beginnen, erhebt sich der Palast der Leoparden. Der Reisende erblickt aus der Ferne nur hohe, ungeschmückte Mauern, hinter denen breite Türme wie riesige Quader in den Himmel ragen. Die Zinnen sind menschenleer, doch kann sich kein Fremder unbemerkt dem Palast nähern. Wachsame Augen überblicken das Land aus kleinen Fenstern, vor der Sonne und fremden Blicken geschützt. Hier lebt sie, im Sitz der Wüstenfürsten, die vor Jahrhunderten das nomadische Leben aufgegeben haben.
Safia springt auf, als sie die Staubwolke am Horizont sieht. Sie kommen. Der Saum ihres Gewandes streift leicht die marmornen Stufen, als die Leopardenprinzessin barfüssig die Treppe hinabsteigt. Ihre Schritte sind anmutig und leicht, kaum zu hören. Sie betritt den Hof der Orangenbäume und überquert die kühlen Steinfliesen, ohne auf die prallen Früchte zu achten, welche vom dunkelgrünen Geäst herunterhängen.
Die Erde bebt unter den Hufen der herannahenden Reiter, junge Männer, die alle um die Hand der Leopardenprinzessin anhalten wollen. Nur die tapfersten haben sich auf die gefahrenvolle Reise gewagt, die nun hier ihr Ende findet.
Wird heute der Richtige kommen? Werde ich endlich von diesem endlosen Warten erlöst? ... Ist alles vorbereitet? Sie betritt die Vorhalle des Bades. Wo sind die Mädchen?
„Jamila! Ilayda! Ayse! Die Karawane kommt! Ist alles für den Empfang bereit?“
„Ja, Prinzessin Safia.“
Sie zieht sich in ihre Gemächer zurück und setzt sich an den Rand des langen Wasserbeckens, in dem sich die Fassade des Nordturms spiegelt. Du wirst ihn nicht finden. Er wird die Prüfung nicht bestehen. Der stete Ruf einer Felsentaube durchbricht die Stille. Zweifel nagen an ihr. Was, wenn sie wieder umsonst gewartet hätte? Du bist für immer verdammt. Du wirst einsam sterben. Diese Worte hallen in ihrem Kopf. Der grosse Säulengang und seine Schatten sind leer. Ihre Gemächer sind verlassen. Nur sie ist hier, allein. Seit dem Tod ihrer Eltern liegt ein Hauch von Bitterkeit in diesen Mauern. Ein seltsamer Schleier schwebt um sie. Ein feiner Riss. Seit diesem schrecklichen Abend, als ihr Vater die Leopardengöttin erzürnt hatte. Schreie ... Blut, überall ... der flüchtige Schemen ... Hör auf.
Die Karawane erreicht das Ende der Wüste. Nazar grinst seinen Kameraden zu. Sie sind endlich am Ziel ihrer Reise. Dann ist es doch wahr, der Palast der Leoparden ist keine Legende. Welch wundersamer Ort! Immer noch umgibt diesen Platz etwas Mystisches, Unergründliches. Der Sage nach hat die Leopardengöttin selbst die herrliche Festung erbaut. „In den Adern der Wüstenfürsten fliesst ihr Blut“, hört Nazar seine Mutter sagen. „Die Leopardengöttin ist mächtig, denn sie beherrscht die steinerne Wüste und die kalten Berge. Deshalb haben die Wüstenfürsten einen Pakt des Friedens mit ihr abgeschlossen, der mit Blut besiegelt wurde. Seither nennen sie sich die Leopardenkönige und haben die Jagd auf die Raubkatzen aufgegeben. Möge die Göttin dir gnädig sein, wenn du durch die Wüste ziehst, mein Sohn.“
Die Abendsonne taucht den Palast in rotes Licht und verwandelt ihn. Der Eingangshof füllt sich, Schatten tanzen an den Wänden und lassen das Gemäuer lebendig werden, Stimmen und wohlriechende Düfte erfüllen die Luft. Fackeln werden angezündet und erhellen die Räume, als die Dunkelheit anbricht. Die von weit her gereisten Krieger erfrischen sich im Bad. Dämpfe steigen auf. Rosenöl. Jasmin. Orangenblüten. Raues Lachen erklingt, derbe Witze werden gerissen, als sich die Männer an den langen Tisch im Orangenhof setzen. Dienerinnen tragen Speisen und Getränke auf, Köstlichkeiten, mit denen sie die Schar verwöhnen. Doch wo ist die Leopardenprinzessin? Die Männer werden ungeduldig, noch hat sie keiner gesehen.
Erschöpft setzt sich Nazar auf das Kissen. Das wohltuende Wasser konnte zwar den Staub aus seinem Gesicht waschen, jedoch nicht die Zeichen der Anstrengung. Orientierungslos inmitten der fremden Klänge und Eindrücke nimmt der junge Recke die Schale an, die ihm eine verschleierte Dienerin anbietet. Die Gewürze sind scharf. Nazar lächelt dankend der Dienerin zu und nimmt benommen von der Hitze, die durch seinen Kopf strömt, einen Schluck aus dem Kelch.
Ihr Körper ist angespannt. Sie steht alleine vor dem Spiegel und betrachtet sich. Was, wenn du die falsche Wahl triffst? Nein, dieses Mal nicht mehr. Nicht heute. Sie tritt aus ihrem Gemach. Er muss Leopardenblut in sich haben. Dein Instinkt wird dir den Weg weisen. Die Kühle des Abends weht ihr entgegen und bringt frischen Mut. Safia macht einen zaghaften Schritt. Sie schliesst ihre Augen und atmet tief durch. Der Tanz beginnt.
Trommeln nähern sich. Nazar dreht seinen Kopf zum Ende des Hofes hin. Da erscheint die Leopardenprinzessin in einem rotgoldenen Kleid und wirbelt auf die Männer zu. Sie scheint über den Boden zu schweben, leichtfüssig und doch leidenschaftlich. Raubkatzengleich umkreist sie den Tisch. Der leichte Stoff weht hinterher. Der Rhythmus wird immer schneller und intensiver. Die Kreise ziehen sich zusammen, sie dreht sich in einer Spirale auf Nazar zu. Die Trommeln pulsieren wild. Die Prinzessin umtänzelt ihn und macht eine Geste. Jetzt erst merkt er, dass sie ihn zum Tanz auffordert. Berauscht steht er auf und lässt seinen Körper in die Musik eintauchen, lässt sich vom Rhythmus mitreissen.
Safia führt ihn mit sich, tanzend verlassen sie das festliche Treiben. Die Trommeln entrücken in die Ferne, verebben langsam, nur noch der Puls beider Körper ist hörbar.
Keuchend lehnt sie sich an eine Säule. Sie hat ein ungutes Gefühl. Es stimmt nicht, es stimmt nicht. Etwas ist falsch daran. Die Erinnerungen überwältigen sie. Safia sieht ihren Vater kommen, stolz und lachend. Mutter starrt ihn ungläubig an.
„Du hast es gewagt?“
Vater ignoriert sie und legt den toten Leoparden auf den Boden. Sein Blick ist voller Stolz. Dann schnaubt er verächtlich.
„Ein Wüstenfürst ist kein richtiger Mann, wenn er keinen Leoparden erlegt hat.“ „Wer sagt das? Bist du wahnsinnig geworden?“
„Die anderen. Merkst du nicht, wie sie über uns spötteln? Siehst du nicht, dass sie uns Fürsten nicht mehr respektieren? Ich muss ihnen beweisen, dass ich ein würdiger König bin!“ Doch seine dunklen Hände beben, die Stärke in seiner Stimme lässt nach.
„Nein!“, haucht Mutter.
Plötzlich überall Schatten, schnelle Schemen, die durch die Gänge jagen. Mutter kreischt auf. Todesschreie. Safia zittert. Sie will diese Bilder aus ihrem Kopf verbannen, aber sie kann es nicht. Dann diese grauenhafte Stimme.
Stille hat sich über den Palast gelegt. Kälte schleicht von den Bergen herab. Ein kühler Hauch streichelt Nazars schweissbedeckte Haut. Er fröstelt und wacht auf. Das Bett neben ihm ist leer, die Wärme entschwunden. Wo ist sie? Die Türe steht offen. Er streift sich sein helles Leinenhemd über und erhebt sich. Wie ein Durstiger macht er sich auf die Suche, läuft durch den nächtlichen Palast, an plätschernden Brunnen und stummen Höfen vorbei. Schliesslich steht er vor einer hohen Mauer mit einer kleinen Pforte, die von zwei Panthern aus dunklem Granit bewacht werden. Sie ist nicht verschlossen. Sanft drückt er die Türflügel auf und betritt den Garten der Leopardin. Sie ist hier. Ich kann ihren Duft riechen. Ein Pfauenschrei in der Ferne schreckt Nazar auf, bevor er Zeit hat, sich umzusehen.
In der Dunkelheit stehen Dattelpalmen, Orangen- und Feigenbäume zwischen dichtem Blattwerk, schweigende Schatten, die Nazar beobachten. Der Garten ist unermesslich gross und erstreckt sich bis an den Fuss der kalten Berge. Er folgt dem mit Steinplatten ausgelegten Weg, der von Rosensträuchern und Zypressen gesäumt ist. Vor ihm taucht ein kleines, rundes Bassin in Form einer Lotusblüte auf. Seerosen treiben traurig auf der Wasseroberfläche. Da sieht er am Beckenrand ein Kleid, das rotgoldene, welches die Prinzessin trug. Er bückt sich und berührt es sanft. Es ist noch warm. Nazar hört ein leises Rascheln und schreckt auf. Hinter dem nächsten Gehölz flattert ein Schwarm Vögel kreischend auf. Etwas stimmt nicht ... Die Prinzessin! Wo ist sie? Panisch springt er auf. Er beschliesst, dem Geräusch zu folgen. Der Weg führt weiter, immer tiefer in den Garten hinein.
Hinter der nächsten Biegung taucht eine weitere Lichtung auf, doch dieses Mal befindet sich kein Wasserbassin in deren Mitte. Ein blitzschneller Schatten taucht aus der Dunkelheit auf, wirft Nazar rücklings zu Boden und setzt über ihn hinweg. Entsetzt schnappt der junge Recke nach Luft. Keuchend richtet er sich auf. Zwei gelbe Augen leuchten ihm entgegen, das bleiche Mondlicht reflektierend. Nazar tastet instinktiv nach seinem Gurt, doch der liegt im Schlafgemach der Prinzessin. Ein herausforderndes Fauchen. Warmer Atem. Die Leopardin nähert sich langsam und setzt zu einem Sprung an. Nazar wirft sich zur Seite und greift blind nach dem Hals des Tiers. Doch er fasst ins Leere. Ein Prankenhieb erwischt ihn und betäubt ihn beinahe. Die Raubkatze umtänzelt ihn auffordernd. Sie hätte mich töten können. Weshalb wartet sie? Für Sekunden hält er den Atem an. Sie will, dass ich angreife. Mit einem verzweifelten Schrei stürzt er sich auf die Leopardin. Beide Körper umschlingen sich und rollen über den Boden, bis Nazar auf dem Rücken liegen bleibt. Schwere Pranken krallen sich in seine Brust. Blut fliesst. Nazar blickt aufrecht der Leopardin in die Augen. Überrascht glaubt er zu sehen, dass etwas Trauriges in ihnen liegt. Kein Triumphgefühl, nur Bedauern und Schmerz. Nazars Augen sind weit aufgerissen, als die Leopardin zubeisst.
Es dämmert. Safia sitzt nackt neben Nazar und weint. Sie hält seinen totenblassen Leichnam, der über und über mit dunklem Blut bedeckt ist, und schluchzt. Wieso bin ich nicht früher darauf gekommen? Ich bin die einzige Überlebende aus dem Geschlecht der Leopardenfürsten. Wieso habe ich ihr nur geglaubt?
Eine geschmeidige, vierbeinige Gestalt tritt aus dem Schatten des Gebüschs. Safia dreht sich um. Ihr Gesicht ist wutverzerrt.
„Es gibt keinen Richtigen!“, schreit sie die Leopardengöttin an. „Du hast mich angelogen!“
Die Leopardengöttin regt sich nicht.
„Es gibt keinen, nicht wahr? Du hast mich umsonst auf die Probe gestellt! Es gibt niemanden ausser mir, in dessen Adern das Blut der Leoparden fliesst! Keiner ausser mir kann sich nachts in ein Raubtier verwandeln! Keiner kann den Fluch brechen!“
Die Leopardin lächelt. „Du bist verdammt, für ewig. Euer Geschlecht ist dennoch dem Untergang geweiht. Es wird aussterben, denn du wirst niemals Kinder zeugen können. Dein Vater trägt die Schuld.
Und nun überlass die restlichen Männer meinem Volk.“
Sie nähert sich der Prinzessin und dem Leichnam des jungen Kriegers. Genüsslich schleckt sie das Blut ab. Safia ist wie betäubt und rührt sich nicht.
„Dein Vater hätte den Pakt nicht brechen sollen. Denn nicht nur das Blut der Leoparden ist geflossen, als er meine Kinder entgegen der Abmachung jagte und tötete, sondern auch sein eigenes.“
Das Lächeln ist aus ihrem Gesicht gewichen, ihre bernsteinfarbenen Augen starren Safia leer an. Und mit den ersten Sonnenstrahlen verschwindet die Leopardengöttin.