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Der Garten Eden
„Und du bringst mit dir, was du erschaffen hast.
Denn dein Himmel oder deine Hölle ist in dir.“
Vorwort
Große Umbrüche im Leben bringen manchmal seltsame Ereignisse mit sich. Man sagt ja, so etwas lässt einen wachsen.
1995 hatte ich eine große Erfindung. 1998 fand ich Investoren, Teilhaber und gründete ein Unternehmen. Die technische Realisierbarkeit meines theoretischen Konzeptes konnte bewiesen werden, wir entwickelten erste Prototypen und verkauften schließlich erste Produkte. Das Unternehmen wuchs auf 14 Mitarbeiter an. Die Vollendung der Vision forderte schließlich meinen vollen Einsatz in der Forschung und Entwicklung. Hierzu gab ich meinen Geschäftsführerposten auf und widmete mich vollständig dieser Arbeit, die außer mir niemand bewältigen konnte / wollte. Leider kamen daraufhin Menschen an die Macht, die aus Angst, Überheblichkeit und Profitgier, kurzsichtige und eigennützige Entscheidung auf Kosten des Unternehmens, vieler Mitarbeiter und von mir trafen. Die Freundin meines Mitbegründers benutzte mich, meinen Teilhaber eifersüchtig zu machen. Daraufhin wechselte auch er die Seiten. Kurz vor Vollendung meiner Forschungsarbeit und somit Vollendung meines Lebenswerkes, am Ende des Jahres 2003, stellten sich alle gegen mich und nahmen mir alles, was ich über Jahre mühevoll aufgebaut hatte. Der neue junge Geschäftsführer, den ich selbst eingestellt hatte, entließ mich, nahmen mir meine Arbeit, meine Erfindung, mein Patent, meine Firma, ließ mein Passwort von meinem Rechner knacken, sperrte mir den Zugriff darauf, verschloss meine Privatsachen, sperrte mir meinen E-Mail-Account, las meine privaten Mails, strich mich aus der Firmen-Historie, versuchten mich zu erpressen, bewirkten ein quasi Berufsverbot und beklagten mich des Diebstahls von Firmenunterlagen, um hierüber eine fristlose Kündigung zu begründen und mir meine Gesellschaftsanteile zu entziehen. Gegen den Erpressungsversuch und Diebstahlsvorwurf konnte ich vor Gericht erfolgreich wehren, doch gegen die anderen Geschehnisse hatte ich vor dem Gesetz keine Chance. Die verschworene Gemeinschaft schlachtete schließlich das Unternehmen aus, verkauften es und gründeten daraus ein neues Unternehmen. Nahestehende Menschen verstießen mich, als sie sich durch meine Not und eine androhende Hausdurchsuchung, selbst gefährdet in Mitleidenschaft gezogen fühlten. So wurde ich arbeitslos, obdachlos und war auf der Flucht. Ich floh mit einigen Tüten voller Beweise in den Untergrund. Wie durch ein Wunder begegnete ich freundlichen, fremden Menschen und sie gaben mir Hilfe und Halt in jener schweren Zeit. Ich lernte eine Frau kennen, sie gab mir Unterschlupf und versteckte mich vor meinen Feinden, bis ich meine Unterlagen gesammelt und Rechtsanwälten übergeben konnte. Wir verliebten uns ineinander und sie brachte mich zurück zur fast von mir vergessenen Spiritualität. Mein langer Kampf gegen Unrecht und Bürokratie und ein Kampf für die Chance auf ein neues Leben aus dem Chaos heraus begann. Ich betete zu Gott, er möge mir helfen und mir erklären, was geschehen war und wieso. Ich konnte nicht verstehen, warum mir Gott durch so viele Wunder geholfen hatte, meine Vision soweit zu realisieren, um mir kurz vor der Vollendung wieder alles zu nehmen.
Im Juli 2004 wiederfuhr mir unverhofft ein Tagtraum. Er kündigte sich in kurzen hartnäckigen Bildern an, während ich unterwegs war. Immer wieder sprach eine Stimme in mir und zeigte mir wiederholt die gleichen Bilder, aber ich war vom Alltag abgelenkt und ignorierte die immer aufdringlicher werdenden Bilder. Mein Kopf war wie vollgestopft und es fiel mir immer schwerer, mich auf den Alltag zu konzentrieren. Als ich schließlich Zuhause ankam, setzte ich mich in meinen Sessel und kam endlich zur Ruhe. Ich wehrte mich nicht mehr gegen die innere Stimme und Bilder, sondern ließ es fließen und verlor dabei plötzlich meine Wahrnehmung von der Umwelt. Als ob eine Person zu mir sprechen würde, wurde mir, in meinem Kopf, eine Geschichte mit vielen Bildern erzählt, und ich selbst wurde ein Teil in dieser Geschichte. Dieser ungewöhnliche und intensive Tagtraum, dauerte drei Stunden. Als der Traum vorbei war, gab es schlagartig keine weiteren Bilder und keine inneren Worte mehr. Mein Kopf war wieder klar und meine Gedanken frei. Nur meine Erinnerungen blieben voller Bilder, Bedeutungen, Symbole und Gleichnissen, als hätte ich gerade sehr aufmerksam einen Film gesehen. Noch nie zuvor hatte ich so etwas erlebt und bis heute, blieb es einmalig.
Ich erwachte in diesem Traum in einer mir fremden Welt des Todes, begab mich auf eine spirituelle, wie auch gleichzeitig sehr weltliche Abenteuerreise ins Mittelalter und entdeckte schließlich vielleicht den Sinn des Lebens. Alle Figuren, Symbole, Bilder und Ereignisse auf meiner Reise, haben häufig mehr, als eine Bedeutung. Traumdeuter werden vielleicht die Bedeutung einiger Symbole kennen. Doch darüber hinaus ergeben Objekte, Personen und Ereignisse manchmal weitere Bedeutungen, wenn man sie untereinander im Zusammenhang betrachtete. Diese Geschichte beinhaltet also viele Geschichten in einer, mit Aussagen in Symbolen, kleinen Episoden, der gesamten Geschichte selbst und in ergänzenden Aussagen zu religiösen Zeugnissen. So kann diese philosophische, spirituelle Abenteuerreise, wahrscheinlich als ein Gleichnis verstanden werden, welche auch die Bibel und unsere gewohnte Vorstellung von Gott, in ein völlig neues Licht rücken lässt. Dieser Traum spricht von einer Neuentdeckung der Menschlichkeit, von den wesentlichen Werten des Lebens, von einem neuem Bewusstsein, beschreibt eine alternative Gesellschaftsform und deutet letztendlich vielleicht auf einen baldigen Umbruch der Menschheit hin. Diese Geschichte spricht von Hoffnung.
Wer möchte, kann diese Geschichte also einfach wie ein Märchen lesen. Wer aber aufmerksam liest, dem werden vielleicht noch viele andere Bedeutungen und Zusammenhänge in dieser Geschichte auffallen, die mir vielleicht selbst noch nicht aufgefallen sind. Mir selbst wurden manche Zusammenhänge erst nach meiner Vollendung dieses Buches bewusst.
So möchte ich Euch meine Geschichte erzählen, die mir im Traum wiederfahren ist (Länge der Geschichte etwa 70 Seiten.):
Der Garten Eden
Der erste Morgen
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines hohen weißen Saales, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Langsam erkannte ich drei hohe Flügelfenster vor mir, die vom Boden bis hin zur hohen Decke reichten und erst kurz vor der gewölbten, mit Stuck besetzten Decke, durch einen wunderschönen weißen Rundbogen, in ihrer erhabenden Größe begrenzt wurden. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und füllte den Raum voller Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.
„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Und so glitt ich leichtfüßig hin, zur geöffneten Tür und erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende weiße Marmorterrasse, deren weißes geschwungenes Marmorgeländer, kontrastreich einen Saum zum azurblauen Himmel bildete. Noch kurz bevor ich die Terrasse betrat, blicke ich nach links durch eine geöffnete Tür in einen anderen großen weißen Saal. Einige Menschen standen sich dort gegenüber, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, und ich hörte dumpf ihr angeregtes palavern. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht. Und so schob ich die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die weiße große Terrasse und atmete tief die frische Morgenluft ein. Auf der Terrasse standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.
Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.
„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.
Und da erblickte ich, wie jeden Morgen, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Ich glaube, nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können.
Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.
Der alten Mann
Ich beschloss zu ihm zu gehen und folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, etwas zu sagen, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.
Zugegeben, die Wahl seines Stammplatzes war nicht dumm. Dieser Ort hatte schon etwas praktisches. Wenn man Hunger hatte, brauchte man nur seinen linken Arm zu strecken und konnte problemlos nach einem grünen, saftigen und süßen Apfel greifen. Hatte man Durst, reichte eine kurze Neigung des Oberkörpers nach rechts, um sein Gesicht in das kristallklare Wasser des Zierbrunnens einzutunken. Gesättigt, genoss man dann diesen wundervollen Blick über die Landschaft, während man schläfrig, im angenehmen Halbschatten der Blätter, seiner Verdauungsstarre erlag.
Aber wenn man den besten Platz auf Eden nicht verlässt, weil man davon überzeugt ist, es gäbe keinen besseren, wird dann nicht der vollkommende Platz zum vollkommenden Gefängnis? Niemand sah eine Mauer, die ihn daran hinderte zu gehen, aber ich glaube, es gab eine Mauer, - in ihm. Eine Mauer der Angst.
Der Apfel
Fast demonstrativ, erhob der alte Mann seinen linken Arm, schob seine Hand durch das grüne Blättergewirr des Baumes und griff lässig nach einem der vielen Äpfel. Vor dem Hineinbeißen pflegte er seinen Mund dermaßen übertrieben groß aufzureißen, dass ich mich jedes Mal wunderte, warum er nie an einer Maulsperre litt.
Ich tat es ihm gleich und pflückte ebenfalls einen Apfel.
Er war unglaublich süß und saftig, - perfekt, wie immer. Im Grunde war das aber nichts besonderes für mich. Der Apfel schmeckte natürlich nicht schlecht, aber eben auch nicht erwähnenswert gut. Eigentlich schmeckte der Apfel für mich, wie immer, eher mehlig.
„Verdammt, schon wieder!“, brüllte er plötzlich los, spuckte und beäugte ekelerregt und wütend, die verbliebende Hälfte eines sich krümmenden Wurmes. „Tausend mal habe ich das schon gesagt und Debatten geführt! Und was hat sich verändert? Nichts! Ist es denn zuviel verlangt, Äpfel ohne Würmer zu wollen? Ohne Würmer, ohne Würmer, ohne Würmer, ohne Würmer! Wie oft soll ich das noch sagen?! Was nützt alles Palavern, wenn doch nichts passiert?!“
Ich aß derweilen meinen Apfel auf und bestaunte die folgende Illumination, als er nun seinen weißen Oberkörper nach rechts schwenkte und seinen hoch roten Kopf in das kalte Wasser des Zierbrunnens eintauchte. In meiner Phantasie wartete ich auf das Geräusch eines deutlichen Zischens und eine aufsteigende Dampfwolke, die zu meiner Enttäuschung natürlich ausblieb.
Das Wasser
Ich neigte mich ebenfalls über den Brunnenrand, bildete mit beiden Händen einen Kelch und schöpfte mir Wasser zum Mund.
Das Wasser war kristallklar, kalt und frisch, – perfekt, wie immer. Im Grunde war das aber nichts besonderes für mich. Das Wasser schmeckte natürlich nicht schlecht, aber eben auch nicht erwähnenswert gut. Eigentlich schmeckte das Wasser für mich, wie immer, eher fade.
„Schau dir das an!“, sagte der alte Mann, langsam wieder in Rage kommend. „Siehst du das Mosaik auf dem Grund des Brunnens?“
Ich lehnte mich über den Brunnenrand und schaute so konzentriert ich nur konnte, durch das türkis blaue Wasser, auf ein aus Mosaiksteinen zusammengesetztes Bild, aus tausend herrlichen Mustern.
„Der Mosaikstein in der linken unteren Ecke ist zersprungen!“, rief er, als ob ich schwerhörig wäre.
Ich gab meine Bedauerung zum Ausdruck und bestätigte ihm, dass dieses wohl tatsächlich nicht seine Richtigkeit haben kann.
Der Grashalm
Bald darauf saßen wir auf dem Rasen und debattierten, ob es denn nicht möglich wäre, Grashalme im Garten Eden einzusäen, die nicht gleich umknickten, wenn man sie beträte.
Und so „schaukelten“ wir uns die folgenden Stunden gegenseitig hoch. Was vorher gut war, schien nun unvollkommen, Kleinigkeiten wurden bedeutsam, Unwichtiges wichtig, Unvollkommenes wurde verurteilt und irgend jemand trug die Schuld dafür.
Der zweite Morgen
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Meine Augen waren wieder vom grellen Licht geblendet und ich senkte meinen Blick. Langsam begannen sich meine Augen zu erholen und ich begann meine Umgebung zu erkennen. Ich stand wieder barfuss auf dem angenehm kühlen Marmorboden in Mitten des hohen weißen Saales. Vor mir die drei gläsernen Rundbögen. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und die linke Flügeltür war wieder leicht geöffnet. Die Vögle zwitscherten und eine lauwarme Brise ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.
„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Ich folgte der Einladung und ging erneut zur geöffneten Tür. Mein üblicher Blick nach links durch eine geöffnete Tür, fiel wieder flüchtig in den anderen großen weißen Saal, wo sich gewohnheitsmäßig einige Menschen, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, gegenüber standen und angeregt palaverten. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht. Ich schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die weiße große Terrasse und atmete tief die frische Morgenluft ein. Auf der Terrasse standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.
Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.
„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.
Der alte Mann stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel. Er war, wie immer, alleine.
Ja, nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können.
Dies war sein Platz.
Und mir wurde wieder bewusst, dass jeder, der zum Brummen und Apfelbaum ging, somit auch unvermeintlich den alten Mann besuchen müsste. Und er freute sich immer, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.
Der Alten Mann (Zweifel)
Ich folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich wieder zu mir um und lächelte.
Ja, es war nicht nötig, etwas zu sagen, - vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, wirklich etwas zu sagen, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.
Der Apfel
Ich pflückte einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt, wie immer, süß und saftig.
Doch es war eben nichts besonderes für mich.
Und so schmeckte mir der Apfel, wie immer, eher mehlig.
„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.
Das Wasser
Und so trank ich vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt, wie immer, kristallklar, kalt und frisch.
Doch es war wieder nichts besonderes für mich.
So schmeckte mir das Wasser, wie immer, eher fade.
„Schau dir das an!“, klang es in scheinbar weiter Ferne dumpf.
Der Grashalm
Und mein Blick viel träge zu Boden, wanderte von einem Grashalm zum nächsten, schwebte langsam über die Wiesen, hinüber zu den grünen Hügeln, über die vielen Blumen und zu den vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. Und meine Blicke verharrten am Horizont, wo ein langer, hoher, goldener Zaun die Grenze des Garten Edens bildete.
„Ein abgebrochener Grashalm!“, hörte ich ihn.
Die Frage
Ich schaute dem alten Mann ernst und tief in seine stahl blauen Augen und Stille kehrte ein.
Die tiefen Augen, zwischen den kleinen Falten, unter den weißen Augenbrauen, sprachen von einer langen Erfahrung aus einer traurigen und enttäuschten Vergangenheit:
„Alter Mann“, sagte ich zu ihm und zog eine Augenbraue hoch, „so wie sich deine Welt, zwischen diesem Baum und jenem Brunnen befindet, so ist auch meine Welt begrenzt durch den goldenen Zaun des Garten Edens. Kannst Du mir sagen, was mich hinter dem goldenen Zaun erwartet, dessen Grenzen ich bisher nie zu überschreiten wagte?“
„Mein Junge“, seufzte er und schüttelte lächelnd mit seinem Kopf, „hinter dem goldenen Tor des Garten Edens, ist das Leben.“
„Was ist das Leben?“, fragte ich ihn.
„Nichts, was einen Grünschnabel wie dich interessieren sollte. Dort gibt es nichts, was es zu begehren wert wäre. Ich sehe deine schelmischen Pläne hinter deiner unschuldigen Stirn“, grinste er. „Doch streiche dir deine Flausen aus dem Kopf und denke nicht weiter über diesen Unsinn nach. Hier nimm! Iß diesen Apfel!“, sprach er und versuchte vom Thema abzulenken.
„Was erwartet mich im Leben?!“, so schnell wollte ich mich nicht abspeisen lassen.
Der alte Mann schaute auf mich herab: „Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, gerade du würdest es nicht einmal drei Tage dort aushalten und auf allen vieren kämest Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Es haben schon ganz andere versucht, dass Leben zu leben. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du würdest dir selbst begegnen und glaube mir, es würde dir nicht gefallen.“
Ich überlegte einen Moment, dann trotzte ich der Ruhe:
“Vier Wochen! Nicht ewiglich, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen“, sprach ich und erwartete überzeugendere Argumente, die mir erklären sollten, weshalb ich ihm mehr trauen sollte, als dem Gefühl, welches in mir ausbrechen wollte, um mir zu sagen, ich solle etwas verändern.
Irgendwie unpassend, legte er freundschaftlich einen Arm auf meine Schulter und enthüllte mir in seiner altklugen Art, selbstgefällig, seine Respektlosigkeit:
„Du bist jung und forsch, aber auch blauäugig und dumm. Mach, was du willst, aber nur ein törichter Narr verlässt den Garten Eden, um in das Leben zu gehen. Du wirst es sehen. Ich gebe dir höchstens drei Tage. Du wirst auf Knien zurückkommen und mir recht geben!“
Ich drehte mich um und verließ ich ihn, um die Last seiner Worte beschwert und meiner Gedanken gefangen. Und ich wandelte, mit dem Blick, auf die blendend hell weißen Marmorplatten des Weges, nach unten gerichtet, zurück zur Villa.
Das erste Leben
Der dritte Morgen
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus dem gleißendes Licht und erkannte, wie ich wieder im hohen weißen Saal mit den drei erhabenen Flügelfenstern aufgewacht war. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und füllte den Raum voller Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.
„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Und so glitt ich leichtfüßig hin, zur geöffneten Tür.
Im linken Raum, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, standen wieder einige Menschen und palaverten. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht. Und so schob ich die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die weiße große Terrasse und atmete tief die frische Morgenluft ein. Auf der Terrasse saßen wieder vereinzelnd Menschen an weißen Steintische. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.
Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.
“Dies, ist der Garten Edens“, wusste ich.
Der alte Mann stand, wie immer alleine, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone schaute er über die weiten grünen Hügel und mir wurde wieder bewusst:
„Dies ist sein Platz!“
Der Aufbruch
Ich folgte in alter Gewohnheit den weißen Stufen hinunter in den Garten – doch dieses mal blieb ich plötzlich stehen. Seltsam ergriff mich der weiße vor mir liegende Marmorweg. Vage Sicherheit überkam mich mit leuchtender Klarheit. Und als ob ich es der Welt ins Angesicht schreien wollte, platzte es aus mir heraus und sprach doch nur zu mir selbst, mit abgehakten Worten, jedes sein eigenes Gewicht in der Bedeutung:
„Und dies ist mein Weg!“
Der alte Mann drehte sich aus der Ferne zu mir um. Einen Augenblick verharrten unsere sich begegneten Blicke, dann begann er langsam mit dem Kopf zu schütteln und begann arrogant zu lächeln: „Keine drei Tage!“, rief er.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, etwas zu sagen, denn worüber sollte man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.
Und so folgte ich etwas unsicher dem weißen Marmorweg und spürte auf meinem Rücken die mich lähmen wollende Blicke des alten Mannes. Gleichmäßig kurzgemähtes Gras umsäumte meine gleißend helle Straße und sollte mich bis ans Ende von Eden und den Anfang des Lebens begleiten. Die Bäume begannen mit meinem Fortkommen ihre Silhouette zu verändern. Dünne Nebelschwaden schlichen durch die Täler und suchten Zuflucht vor der aufsteigenden Mittagssonne. Die weißen Fliesen meines Weges zogen, mit jedem meiner Schritte, gleichmäßig unter mir hindurch und ich blickte auf sie herunter, als schaute ich von oben auf eine Welt, die ich verlassen hatte. Monoton begrüßten mich rhythmisch abwechselnd meine nackten Füße, die in mein Sichtfeld eben so schnell kamen, wie sie verschwanden. Meine Augen blickten auf, zum Horizont der vor mir liegenden Bergkuppe. Allmählich kam sie mir näher und legte sich alsbald zu meinen Füßen. Ich schaute herab und dann sah ich es:
Ein hohes, goldenes und prunkvoll verziertes Tor:
Tausende von Ornamenten, Figuren und Fratzen, schienen die goldenen Gitterstäbe zusammenzuhalten und berichteten von Geschichten, die da waren, die da sind und die da möglicherweise kommen werden.
Rechts und links neben der doppeltürigen Pforte, etwas tiefer, schloss ein goldener Gitterzaun an und zog seine Linie über die Landschaft Edens, bis sich der Zaun in weiter Ferne, hinter Hügeln und Wäldern, nahe dem Horizont, meinen Blicken entzog. Ich näherte mich weiter dem Tor. Frauen in weißen Kleidern strebten vor mir nach rechts und links auseinander, verteilten sich am Wegesrand und standen mir Spalier. Sie blickten mich an, aber schwiegen. Langsam begann sich das riesige Tor zu öffnen und schwer schwenkten mir die Flügel entgegen.
„Die Sonne begrüßt dich und die Tore machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Hinter dem Tor und durch die Gitter der Grenze Edens, lugte eine Landschaft hindurch, die mir fremder war, als alles was ich bisher kannte. Ein lehmiger, steiniger Weg zog sich unregelmäßig durch eine sandige flache Steppe. Einige braune, blattlose Büsche spähten mit ihren verdorrten Ästen zwischen den kleineren und größeren grauen Steinen hervor. Der Wind wehte feinen Sand über die Prärie. Dahinter folgte eine flache Tundra, bewachsen von wilden hohen Wiesen und allem braunen Gestrüpp. Schließlich, dem Ziel des Weges zu entsprechen, ein dichter dunkler Wald, der mauergleich, als jähes Ende, jedes weiterkommen zu versperren schien.
„Dies ist das Leben“, wusste ich.
Doch wusste ich auch, was ich da tat?
„Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, du wirst es keine drei Tage dort aushalten und auf allen Vieren kommst Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du wirst dir selbst begegnen und es wird dir nicht gefallen“, erinnerte ich mich an die Worte des alten Mannes.
“Vier Wochen! Nicht ewiglich, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen“, machte ich mir Mut.
Die Jungvögel und die Lumpen
Noch kurz bevor ich das Tor durchschritt und das Leben betrat, blicke ich nach links und rechts, zum Fuße der goldenen Grenze des Garten Edens und bemerkte zweierlei Menschen, die davor und die dahinter saßen.
Die davor saßen, die im Garten Eden, trugen saubere weiße Gewänder und saßen nebeneinander aufgereiht, wie junge Vögel auf einem Ast, denen die Daunen zu lang und die Federn noch zu kurz waren, um flügge zu sein. Und so hockten sie, in ihrer Sehnsucht zu fliegen, doch in ihrer Feigheit verbleibend, palavern nebst ihres vertrauten Nachbarn. Schnatternd und fachsimpelnd, bewertend und beurteilend, tauschten sie einander aus und richteten dabei ihre Blicke durch die Gitter des Zauns. Sie lästerten über die Akteure des Lebens, übertrumpften sich gegenseitig in theoretischem Wissen und hypothetischen Entscheidungen und sie wetteiferten, welcher der ihrigen, im Falle des Falles, wohl am besten abschneiden würde, wenn er denn im Leben wäre.
Die dahinter saßen, die im Leben, waren in kleinen Gruppen an den Zaun gedrängt. Verhüllt und eingekauert in tristlosen, dicken, grauen Stoffen. Ihre Gesichter vermummt. Aus den schützenden Tüchern ihrer Lumpen, dem sandigen Sturm und der heißen Sonne trotzend, funkelten verborgene Augen aus kleinen Sehschlitzen hervor. Sie waren die wohlhabenden des Lebens und Maulhelden des Garten Edens. Oh, wie sie mit ihrem Mut prahlten und die „Jungvögel“ hochmütig zum besser machen anstachelten, wenn sie bald durchs Tor in den sicheren Garten Edens gekrochen kamen und Rechenschaft ablieferten mussten, während sie hier Ihren Durst am Brunnen löschten und Ihren Appetit am Apfelbaum stillten, statt sich ihren Lebensunterhalt im Leben zu erkämpfen.
Und so, wie die da draußen fluchtbereit unweit des errettenden Eingangs saßen, verweilten die da drinnen unweit des Ausgangs der ersehnten Freiheit, feige zwischen dem harten Leben und dem schützenden Garten Edens verharrend. Ängstliche Torwächter zwischen Ungewissheit und Heimat, an der goldenen Grenze zwischen Flucht und Zuflucht.
Ich machte keinen Unterschied zwischen denen die davor und denen, die dahinter saßen. Für mich waren sie allesamt Drückeberger, die weder das Leben erlebt, noch sich einer Ehre verdient gemacht hatten. Selbstgefällige Pantoffelhelden oder vielleicht auch nur bedauernswerte Geschöpfe, die sich mit ihren scheinbaren Heldentaten etwas einredeten und sich mit ihrem vermeintlichen Wissen nur ausredeten.
Ich wollte sie noch fragen, was sie dort eigentlich taten, doch als ich ihre Gesichter sah, wusste ich, sie würden mir ewiglich eine Antwort schulden.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, etwas zu sagen, denn worüber sollte man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.
Dumpf hörte ich ihr angeregtes palavern und wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.
Der erste Schritt
Und so schritt ich durch das mächtige Tor hindurch, betrat mit einigen Schritten mutig den lehmigen Boden jenseits der Grenze - und atmete tief und ahnungslos die kochend heiße staubige Luft des Lebens ein. - Wie Feuer eines Flammenwerfers drang die Hitze viel zu tief durch die Luftröhre in meine Lungen und feiner Sand und Staub reizten mich zum Husten.
Ich hatte plötzlich außerdem das Gefühl, mein Körper wäre um ein vielfaches schwerer geworden. Meine dünnen schwachen Beinchen vermochten kaum mein Gewicht zu tragen. Ich stemmte mich breitbeinig, wie auf Stelzen, wackelig ausbalancierend, gegen die ungeheure Schwerkraft der Erde und wagte es kaum mein Gewicht auf nur ein Bein zu verlegen, um den nächsten Schritt zu riskieren, da ich fürchtete, nicht genügend Kraft zu haben, um auf einem Bein stehen zu können.
„Wie, um Gottes Willen, soll ich die Kraft aufbringen, in dieser Welt vier Wochen zu überleben?“ , fragte ich mich verblüfft und voller Entsetzen und röchelte so flachatmig es ging, um den heißen Atem nicht tiefer in mich eindringen zu lassen, als unbedingt nötig.
Ich neigte mich gegen den heißen Wind und schaute über meine Schulter nach hinten, zu den flatternden Tüchern, unter denen irgendwo Menschen Schutz vor den Naturelementen suchten. Sand peitschte mir ins Gesicht und haftete in meinen tränenden Augen, so dass ich augenblicklich versuchte, mir diesen mit meinen staubigen Händen herauszuwischen, was die Situation noch verschlimmerte. Also blickte ich mit zugekniffenen Augen nach vorne und machte mir Mut, so weit es ging:
„Jede noch so lange Wanderung“, sagte ich mir, “beginnt immer mit einem ersten Schritt!“
Und so verlegte ich mein ganzes Gewicht auf mein linkes Bein und stelzte mit meinem Rechten nach vorne. Ich riss mich zusammen und legte meine gesamte Energie auf nur einen Gedanken:
„Gehe! Schritt für Schritt! Gehe!“
Und meine weichen Füße gehorchten. Sie fielen platt auf den vor mir liegenden Lehmboden und begruben, die darauf liegenden kleinen, scharfkantigen Steinchen, die sich gemeiner weise immer wieder die selben Stellen suchten, um sich durch meine dünnen Fußsolen in das Fleisch zu bohren.
Bald entdeckte ich eine neue Atemtechnik. Ich atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus. So ließ sich die heiße Luft besser ertragen und weniger Sand sammelte sich in meinem Mund. Rhythmisch knirschte ich auf den Sandkörnern zwischen meinen Zähnen, im Takt meiner schweren Schritte.
„Wenigstens habe ich was zu beißen“, sagte ich zu mir mit einem gewissen Galgenhumor.
Bald waren meine Füße von den scharfkantigen Steinen an vielen Stellen aufgerissen. In einiger meiner Fußstapfen erkannte ich, hin und wieder, kleine Blutstropfen.
Die Sonne brannte unbarmherzig und hart auf meine weiße Haut. Immer wieder drehte ich mich um und fragte mich, ob ich wohl noch die Kraft hätte umzukehren, um gegebenenfalls das errettende Tor erreichen zu können. Einen Moment lang war ich dabei wohl etwas unaufmerksam und trat ungeschickt, mit meinem linken Fuß, auf eine scharfe Kante eines fußballgroßen Steines. Wie ein Rasiermesser schnitt sich die raue Kante in meinen Fußballen ein. Ich versuchte noch mein Gleichgewicht zu verlagern, rutsche aber aus, schrappte an einem Dornenbusch vorbei und viel aufschreiend, erst gegen die harte Seitenfläche eines Felsens und endete schließlich, der Länge nach, im Sand. Auf meiner linken Schulter liegend, krümmte ich mich vor Schmerzen. Mit meiner linken Hand hielt ich meinen schmerzenden Fuß und mit der anderen, meinen gestoßenen Hinterkopf. Ich schrie vor Leid und Wut, während ich in Embryonallage eingekrümmt, auf dem heißen sandigen „Bett“ lag.
Es tat gut, als nach einiger Zeit der Schmerz etwas nachließ.
Mein rechter Arm, ich hielt mit ihm noch immer meinen Hinterkopf fest, schenkte mir etwas Schatten im Gesicht. Ich beobachtete unter diesem Arm hindurch, wie unter meiner linken Hand, Blut aus dem Fuß hindurch sickerte und den trockenen Sand langsam dunkelrot einfärbte. Bald begann die Blutung zu stillen. Ich schaute flach über dem Boden in die Ferne, zurück des Weges, den ich kam und sah in aller Pracht den Ort, den ich vielleicht nie hätte verlassen sollen. Den Garten Eden.
So lag ich vielleicht noch eine halbe Stunde lang im Sand. Dann setzte ich mich schließlich auf und lehnte mich mit meinem Rücken gegen eine steile Fläche des hohen Steins, mit der mein Hinterkopf vorhin, „Kontakt“ geschlossen hatte. Ich spuckte ein paar Krümel Sand aus meinem trockenen Mund. Die Zunge klebte förmlich am Gaumen und ich hatte unendlich großen Durst. Mein dünnes Hemdchen war zerrissen, und meine Haut war zerkratzt und von der Sonne verbrannt. Ich zog rote Hautfetzen von meinem Arm. Mein Kopf dröhnte und mir war übel.
Einbruch der Nacht
Es wurde bald auffällig still um mich herum. Der Wind schlief langsam ein. Bald war nichts zu hören, außer ein leises Rascheln einiger langer Gräser, unweit meines Sitzplatzes. Dann sah ich die riesige rote Sonne im Westen. Der leuchtende Ball begann sich langsam zu einem Oval zu verzerren, bis er tief über dem Horizont zu zerfließen schien. Die Schatten der kleinen Hügel und großen Felsbrocken wurden länger, streckten sich über den roten Boden und zogen Richtung Osten dunkle „Barrieren“ über meinen Weg. Als das Himmelsfeuer im Nord-Westen verglimmte und nur noch vereinzelnd kleine Zirruswolken, hoch oben, im rötlichen Schein der untergegangenen Sonne, die Nacht einleiteten, funkelten bereits die ersten silbernen Sterne zwischen ihnen hindurch und das dunkle Blau des Himmels wurde zu tief schwarzer Nacht. Bald strahlten nur noch die Sterne mit ihrem fahlen Licht auf den Boden der Steppe. Die kleinen Quarzkristalle meines Granitsteines, an den ich immer noch gelehnt war, funkelten ganz leicht im Sternenlicht. Der Sand und der Stein gaben noch für kurze Zeit ihre gespeicherte Energie des Tages ab. Dann wurde alles bitter kalt und weder Stein noch Sand spendeten Wärme. Mit einer leichten Briese drang eisige Kälte unter meine dünne, zerrissene Kleidung, kroch über meine verbrannte Gänsehaut und ich fröstelte. Ich kauerte mich zusammen und schlief endlich zitternd ein.
Ein neuer Morgen
Langsam erhob sich der rote, schwere Stern in das Himmelsgewölbe und begann, mit seinen ersten Strahlen, die Kälte der Nacht zu vertreiben. Ich öffnete mein rechtes Auge, mein linkes war noch mit der linken Gesichtshälfte im Sand vergraben und blickte auf einen, im rötlichen Morgenlicht beschienen, kleinen Vogel, der einige Zentimeter vor meinem Gesicht hockte und mich neugierig, mal mit seinem rechten und mal mit seinem linken Auge, begutachtete. Wie gerädert hob ich meinen bleiernen Kopf aus dem Sand und schaute dem davonfliegenden Vogel hinterher. Ich schob mich am Felsen hoch und lehnte mich wieder mit meinem Rücken an ihn. Noch wie gelähmt vor Kälte, erreichten mich die ersten schläfrigen Sonnenstrahlen und verströmten wohlige Wärme. Dort lag der Garten Eden. Ganz klein konnte ich den Brunnen und den Apfelbaum sehen. Irgendwo dazwischen erahnte ich den alten Mann, der über klares Wasser, gegen den Durst und über süße Äpfel, zum Stillen seines Hungers, verfügte. Ich hatte schrecklichen Durst. Sollte ich umkehren? Abschätzend blickte ich in die entgegengesetzte Richtung. Der Wald schien nicht mehr so weit entfernt.
„Vier Wochen“, sagte ich mir. „Nur vier Wochen.“
Die Suche nach dem Weg
Ich stellte mich auf meine schmerzenden Füße und schleppte mich weiter des Weges Richtung Wald.
Bald erreichte ich die Tundra.
„Endlich kein Sand mehr“, dachte ich mir.
Dichte schwarze Wolken zogen herauf und verdunkelten den Himmel. Es Donnerte. Das Rascheln der hohen Gräser wurde lauter. Wind kam auf, änderte seine Richtung und nahm unaufhörlich an Stärke zu. Blitze schlugen in einigen Kilometern in den Boden ein. Es begann mit einigen wenigen Tropfen, doch dann schüttete es wie aus Eimern. Ich hielt meine Hände auf, schlürfte daraus das segenreiche Wasser und spülte den schlammigen Sand in meinem Mund herunter. Mein Durst legte sich und mein Hunger machte sich bemerkbar. Die Regentropfen trafen sich auf Grashalmen, Moosen und auf dem lehmigen Boden zwischen den Steinen. Sie versammelten sich und flossen gemeinsam in kleinen Rinnsälen auf Bahnen des geringsten Widerstandes. Aus Rinnsälen wurden Bäche und aus Pfützen kleine Teiche. Immer größere Wassermassen drängten sich durch das Gestrüpp und überfluteten den Boden. Lehm und Sand wurde zu Schlamm. Mein Weg glich inzwischen einem kleinen Fluss und der Sturm tobte und riss kleine Zweige, Gräser und Blätter mit sich. Immer tiefer versank ich mit jedem Schritt im Schlamm und jeder Schritt wurde zum Kampf. Ich war bis auf die Knochen nass. Der Sturm blies über meinen patschnassen Körper und stahl ihm jegliche Restwärme. Um nicht tiefer in den kalten Matsch einzusinken, kroch ich auf allen Vieren weiter.
Hinter mir leuchtete der Garten Eden. Dort schien am blauen Himmel die Sonne, aber in der entgegengesetzten Richtung, nur etwa hundert Meter vor mir entfernt, lag auch der ersehnte Wald. Mein Ziel. Ich musste es einfach schaffen und schleppte mich weiter. Endlich erreichte ich die Waldkante und suchte nun Verzweifelt eine Möglichkeit, in den Wald hineinzugelangen, um Schutz zu finden, aber seine Grenze war dermaßen verwuchert und mit Dornenbüschen verbarrikadiert, dass ich keinen Weg hineinfinden konnte.
Stürmische Nacht
Es wurde unter den tosenden Gewitterwolken immer dunkler. Inzwischen musste die Sonne wohl schon längst untergegangen sein, aber ich gab nicht auf. Trotz meiner Müdigkeit suchte ich bis tief in die Nacht im tobenden Sturm, unter schüttendem Regen und donnernden Blitzen, einen Weg in den Wald, bis ich irgendwann erschöpft aufgab und mich in den Schlamm fielen ließ.
Der Regen peitschte mir weiterhin unaufhörlich ins Gesicht, aber ich regte mich nicht mehr.
Apathisch hatte ich nur noch einen Blick für den Garten Eden, dessen warmes Leuchten mich in seinen Bann zog. Meine Heimat, ein einziger kleiner Lichtschimmer in weiter Ferne, scheinbar unberührt vom Grollen und Heulen dieses Gewitters und Hagels, weit weg vom peitschendem Sturm, der hier an meinem Körper riss, ihn durchnässte und jeglicher Wärme entzog. Noch einmal drückte ich mich hoch, um in dieser Dunkelheit einen Blick auf die Schönheit des Glanzes werfen zu können. Und ich begann mich von der magischen Anziehungskraft, der leuchtenden Wärme, einfangen zu lassen und strebte dem apokalyptischen Geschehen, in diesem dunklen Tunnel, zu entfliehen, hin zum Licht der Heimat, wie die Motte zum Schein des Feuers.
Und so wühlte ich mich durch die Nacht, durch Schlamm und Wassermassen, zurück auf dem Weg nach Hause. Erst kroch ich, doch bald marschierte ich wieder. Ohne Emotion, ohne Schmerz, taub und mechanisch, wie eine Maschine. Und wenn ich nur noch einen kleinen Finger hätte bewegen können, ich hätte ihn bis zu meinem bitteren Ende bewegt.
Im Morgengrauen erreichte ich die Grenze zur Steppe und schleppte mich wieder über den Sand unter der glühenden Sonne. Als ich dann endlich das goldene Tor des Garten Edens erreichte, krabbelte ich auf blutigen Händen und Knien der Erlösung entgegen. Zwei weiße schemenhafte Gestalten kamen mir durch die Pforte entgegen, stützten mich unter den Schultern und schleiften mich endlich hinein. Sie legten mich sanft, mit dem Gesicht nach unten, auf den weißen Marmorboden. Dann entfernten sie sich wieder ein paar Meter von mir und beobachteten mich mit respektvollem Abstand.
Niemand sprach, - es gab keinen Laut, - absolute Ruhe.
Ich winkelte meine Knie an und hockte mich auf meine Hacken. Nach vorne gebeugt, verweilte ich einen Moment und beobachtete meinen Schatten, dessen Silhouette ein Abbild von mir selbst auf die Fliesen zeichnete. Ich holte, mit mehreren Verzögerungen, tief Luft. Dann gewannen meine Gefühle des tiefen Schmerzes die Oberhand und ich konnte es nicht mehr zurückhalten. Ich weinte.
Schließlich wurde mein Körper wieder leicht wie eine Feder. Trotz der Narben auf meiner roten Haut und den wunden Füßen, Knien und Händen, vergingen meine Schmerzen. Langsam erhob ich mich in meinen zerfetzten Lumpen. Ich blickte um mich herum und erkannte nun, dass die weißen Gestallten, die mich in den Garten Eden brachten, die Frauen in den weißen Gewändern waren, die mir bereits bei meinem Weg ins Leben, am Tor, Spalier gestanden hatten. Die Frauen in ihren weißen Gewändern standen noch immer um mich herum und schauten mich mit entsetzten Blicken an, aber niemand sagte etwas. Auch ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Also drehte ich mich schweigend von ihnen weg und begann langsam der weißen Marmorstraße in Richtung der weißen Villa zu folgen, hin zu jenem mir vertrauten Ort, wo ich einen alten Mann, zwischen einem Zierbrunnen und einem Apfelbaum, wiedersehen würde.
Still schwebte ich zwischen den grünen Hügeln auf dem Weg des Lichts.
Und da erblickte ich ihn abermals, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können. Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.
Der alten Mann (Reue)
Ich verließ den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch das kurze Gras, bis ich neben ihm stand.
Eine Zeitlang verweilte ich still neben ihm und traute mich nicht ein Wort zu sagen. Dann unterbrach ich die erdrückende Stille und sprach leise,
„Du hattest Recht, alter Mann. Ich war ein Narr.“
Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Es war nicht nötig, mehr zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, wirklich etwas zu sagen, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.
Der Apfel
Ich pflückte wieder einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt. Er war wirklich unglaublich perfekt.
Er war süß, saftig und außergewöhnlich lecker.
Noch nie schmeckte mir ein Apfel so gut, wie dieser.
Oh, wie ich ihn genoss und spürte, wie mein Hunger verflog.
„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.
Das Wasser
Alsbald trank ich vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt. Es war wirklich unglaublich perfekt.
Es war kristallklar, kalt und frisch.
Noch nie schmeckte mir Wasser so gut, wie dieses.
Oh, wie ich es genoss und spürte, wie mein Durst verflog.
„Schau Dir das an!“, klang es dumpf in scheinbar weiter Ferne.
Der Grashalm
Gesättigt, legte ich mich auf das weiche kurze Gras, genoss diesen wundervollen Blick über die Landschaft und versank, im angenehmen Halbschatten der Blätter, in meine Gedanken.
„Erst das Saure, machte das Süße, süßer“, durchfuhr mich ein Geistesblitz.
„Ein abgebrochener Grashalm!“, tönte es zu mir herüber.
Ich schaute dem alten Mann in sein fahles Gesicht.
Dann ließ ich meinen Kopf ins Gras fallen und blickte durch die grünen Blätter in den blauen Himmel,
„Ja, so wird es wohl sein“, sagte ich mir erneut. “Erst das Saure, macht das Süße, süßer“. Ein warmer Sonnenstrahl drang durch die Blätter hindurch und blendete mich. Ich genoss mit verschlossenen Augen die Wärme in meinem Gesicht und schlief in der Nachmittagssonne ein.
Das zweite Leben
Der sechste Morgen
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts. Ich war wieder im hohen weißen Saal erwacht und stand entspannt, leicht bekleidet, in meinem weißes Gewand, barfuss auf dem glatten, angenehm kühlen, Marmorboden. Langsam erkannte ich wieder die drei hohe Flügelfenster vor mir. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und füllte den Raum voller Licht und Wärme. Ich hörte Vögelgezwitscher. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und eine lauwarme Brise wehte herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster, leise und sanft nach außen schwingen.
„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Ich schritt wieder an den palavernden Menschen vorbei, schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die weiße große Terrasse und atmete, erst ganz langsam nur durch die Nase, dann doch ganz tief, die frische Morgenluft ein. Auf der Terrasse standen wie immer einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.
Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.
„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.
Der alte Mann stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen.
Dies war sein Platz.
Schon aus dieser Entfernung konnte ich seinen Missmut hören. Er meckerte, wie immer, über die Unvollkommenheit der süßen Äpfel, über den zersprungen Mosaikstein, im Brunnen des klaren Wassers, und über den abgebrochenen Grashalm des weichen Rasens.
Der alten Mann (Erkenntnis)
Ich folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten und streifte bald barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.
„Ich gehe fort“, sprach ich.
„Du gehst fort? Wohin? Du bis doch gerade erst nach Hause gekommen“, antwortete er mir entsetzt.
„Ich gehe zurück ins Leben“, sagte ich und erwartete, dass er mich nun für dumm und vergesslich erklären würde.
„Wie kann man nur so dumm und vergesslich sein!“, erwiderte er. „Hast Du schon vergessen, wie du zurück kamst? Deine Haut ist jetzt noch rot und vernarbt. Ich hatte dich beobachtet, wie du im Leben littest. Wie oft sah ich dein verzweifeltes Gesicht, wenn Du zum Garten Eden zurückblicktest und dir ersehntest, du wärst hier! Du schautest dich um und erstarrtes praktisch zur Salzsäule, verharrtest in deinem Kummer und stecktest in deiner Sehnsucht und deinem Selbstmitleid fest. Und? Hast du vielleicht den Weg in den Wald gefunden?“
Ich versuchte ihm zu erklären, wie ich dachte: „Wie hätte ich den Weg in den Wald finden sollen, wo ich doch keinen Blick nach vorne richtete? All meine Aufmerksamkeit und Gedanken galten alleine dem Garten Eden. Meine Sehnsucht zur Vergangenheit war größer, als meine Konzentration auf die Gegenwart und meine Hoffnung in die Zukunft.
Und ja, Du hast Recht. Bei meinem Blick zurück, erstarrte ich tatsächlich zur Salzsäule und verharrte im Weiterkommen. Denn ich war zu schwach.
Das nächste Mal will ich daher meiner Herkunft keines Blickes und keines Gedankens würdigen, sondern konzentriert nach vorne gerichtet, aufmerksam, dem Weg des Lebens folgen. So werde ich diesen Fehler kein zweites Mal begehen, bis die Zeit gekommen ist, da ich mich erinnern kann, ohne fest zu klammern und ich los lassen kann, obwohl ich Wissen habe, - bis die Zeit gekommen ist, dass meine Hoffnung mehr Macht über mich hat, als mein Wissen.“
Regungslos stand er mir gegenüber und ich wartete auf irgend eine Reaktion.
Nach einer halben Ewigkeit öffnete er leicht den Mund, atmete ein und zog seine rechte Augenbraue hoch. Das war alles.
„In vier Wochen sehen wir uns wieder“, unterbrach ich die Geduldsprobe.
Ich drehte mich um, griff mir meinen kleinen Rucksack und schnallte ihn auf den Rücken. Ich war dieses Mal besser vorbereitet. Ein kurzer Ruck an den Trageriemen und er saß bombenfest.
„Ich wünsche Dir alles Gute“, sagte ich noch.
Dann machte ich mich auf den Weg.
Der zweite Schritt
Ich flog fast über den weißen Marmorweg, denn ich wollte keine Zeit vergeuden und erreichte schnell das goldene Tor zum Leben. Die Frauen in den weißen Gewändern standen wieder Spalier und warfen mir erstaunte Blicke zu. Auch die „Jungvögel“, die davor saßen und die „Lumpen“, die dahinter saßen, schauten gespannt zu mir herüber. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.
Die Tore öffneten sich:
„Die Sonne begrüßt dich und die Tore machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
„Vier Wochen! Nicht ewiglich, aber vier Wochen werde ich durchhalten, denn dies ist das Leben“, wusste ich.
Und so schritt ich durch das mächtige Tor hindurch und atmete, ganz vorsichtig und langsam, durch die Nase, die heiße, staubige Luft des Lebens ein.
Ich erwartet wieder den Kampf mit der Schwerkraft, aber obgleich ich mein schwereres Gewicht spürte, stand ich fest und sicher. Meine Beine hatten durch mein letztes Leben an Muskeln dazu gewonnen und waren nun bereit mich zu tragen, wohin ich wollte.
Und ich schritt noch etwas zaghaft auf die spitzen Steine des Lehmweges, aber obgleich ich den ungleichmäßigen Druck unter meinen nackten Füßen merkte, spürte ich keinen Schmerz. Meine Füße hatte durch mein letztes Leben Hornhaut bekommen und diese schützte sie nun wie ein Panzer.
Und die Sonne glühte erbarmungslos auf meinen Körper, aber obgleich ich die stärke Ihrer Strahlung merkte, verbrannte meine Haut nicht, denn sie war braun geworden.
„Wen interessiert der Garten Eden? Vergiss ihn, bis der Tag gekommen ist“, sagte ich zu mir selbst.
Und so durchquerte ich schnell die Steppe und ich drehte mich nicht um.
Und ohne einen Gedanken an den Garten Eden zu verschwenden, erreichte ich bald die Tundra. Schon am Nachmittag stand ich, dem Ziel des Weges zu entsprechen, vor dem dichten dunklen Wald, der mauergleich, als jähes Ende, jedes weiterkommen zu versperren schien. Aber ich schaute nach vorne, denn ich wusste, dass es ihn gab und fand einen kleinen verschlängelten Pfad, der erst rechts am Waldesrand entlang, dann plötzlich in einem Linksknick, in Mitten des tiefen Waldes führte. Ich hatte ihn tatsächlich gefunden!
„Dies war mein Weg!“, freute ich mich und gab mir Zuversicht.
Und so beschritt ich voller Hoffnung, aber auch mit Befürchtungen vor der Ungewissheit, den langen Weg in den tiefen Wald.
Dichtes, dunkles Grün der hohen Baumkronen umrankte mich, wie das Gewölbe eines Tunnels. Einige helle Sonnenstrahlen durchdrangen vereinzelnd das Blättergewölbe und berührten den Boden des Waldweges. Die Luftfeuchtigkeit war hoch. Feiner Nebel lag auf der Erde und kroch an manchen stellen die Baumstämme hoch. Die trockenen Schleimhäute meiner staubigen Nase begannen, wie ein Schwamm, die kühle Feuchtigkeit des schattigen Waldes aufzunehmen und so konnte ich bald wieder sehr intensiv Gerüche wahrnehmen. Es roch nach jungen Pilzen, vermodertem Holz, verharzten Tannen und nasser Erde. Ich brauchte Nahrung. Und so folgte ich dem Weg, immer tiefer, in den dunklen Wald hinein. Ich schaute konzentriert nach vorne und nach oben, stets auf der Suche nach etwas Essbarem. Und ich suchte nach etwas, was ich kannte. Ich suchte nach Äpfeln.
Der große Baum
Viel höher als erwartet, zwischen den grünen Blättern eines Laubbaumes, erahnte ich schon bald einen blättergrünen Apfel. Ein Apfel in dieser Höhe erschien mir nicht plausibel. Ich traute meinen Augen nicht so recht und wollte diesen scheinbaren Umstand erst einmal prüfen. Skeptisch, näherte ich mich dem dicken Baustamm. Am Fuße angelangt, zwischen seinen mächtigen Wurzeln, die wie große Schlangen im Erdreich versanken, blickte ich nach oben und konnte mich schließlich selbst versichern: Dort oben, in ziemlich großer Höhe, hing tatsächlich ein grüner Apfel. Ich glaube, ich hatte noch nie zuvor einen so hohen Apfelbaum gesehen. Ich musste auch noch nie auf so einen hohen Baum klettern, um einen Apfel zu pflücken! Aber was hätte ich tun sollen. Ich hatte Hunger.
Nur gut, dass mich keiner sehen konnte, als ich versuchte, mit Anlauf, den Baumstamm herauf zu laufen oder, in völlig lächerlichen Köperhaltungen, verkrampft nach Griffen in der Baumrinde suchte. Es sah vielleicht nicht besonders elegant aus, aber irgendwie gelang es mir dann mit einer Grätsche, kopfüber, bei gleichzeitigem kräftigem Wegdrücken meines Körpers mit beiden Armen nach oben, die erste Astgabel des Baumes zu erklimmen. Von unten aus betrachtet, hatte ich somit den schwierigsten Teil des Kletterns geschafft, da oberhalb der Gabel, die Verästelung des Baumes zunahm und somit enger zusammenliegende Tritt- und Haltemöglichkeiten, mein Weiterkommen verbessern dürften. Zwischen den Blättern hindurch, bahnte ich meinen Weg durch die Baumkrone. Ich hatte mich nicht geirrt. Hier oben gab es so viele Äste, dass ich problemlos höher hinauf steigen konnte. Bald wühlte ich mich auf einem horizontal verlaufenden, dicken Ast durch das Grün. Energisch bog ich einen sperrigen Zweig zur Seite, setzte einen großen Schritt nach vorne und erschrak. Ich stand plötzlich, außerhalb der dichten Baumkrone, auf dem schmalen Ast im Freien. Rechts, links, wie auch da runter, nichts als leere! Ich war inzwischen vielleicht 9 Meter über dem Erdboden. Der ausladende, knorrige Ast, auf dem ich stand, streckte sich noch einige Meter aus dem Blätterwerk des Baumes heraus und verjüngte sich zu einer dünn schwankenden Astspitze, in den bodenlosen Himmel. Mit beiden Händen umklammerte ich verkrampft einen, über meinen Kopf befindlichen, Ast. Jener verlief parallel, etwa zwei Meter über dem Ast, auf dem ich stand. Auch dieser wurde zu seinem Ende hin dünner und endete schließlich in einem kleinen, filigranen Astgabelchen. An der Spitze des letzten Zweiges, hing ein kleines grünes Blättchen. Und unter diesem kleinen Blättchen, hing ein saftig grünes Äpfelchen. Es tänzelte fast höhnisch, in ca. vier Meter Entfernung vor mir, im freien Wind.
„OK“, sagte ich mir und schaute an meinen Füßen vorbei in den Abgrund, „nur nicht hinunter sehen!“ Ich zwang mich nach oben zu schauen und erblickte meine zitternden Hände an dem Ast über mir. Weiße Wolken bewegten sich am blauen Himmel, im Hintergrund meiner Hand, und dies gab mir das irreleitende Gefühl, der Baum kippe mit mir nach rechts um: „Auch keine gute Idee.“ Und so stierte ich wieder auf den grünen, wackelnden Apfel vor mir. Im Hintergrund des Ziels meiner Begierde, senkte sich unter mir ein Blätterdach niedriger Bäume. Dahinter schien sich eine Lichtung mit einem See zu befinden.
Ich konzentrierte mich wieder auf den Apfel:
„Ich muss mich nur am oberen Ast festhalten und auf dem unteren Ast balancieren. Wenn ich herunterfalle, werde ich sterben. Wenn ich nichts esse, werde ich auch sterben. Es ist theoretisch nicht unmöglich, an diesen Apfel zu gelangen“, sagte ich mir.
Ich bemerkte die Vorherrschaft meiner mich blockierenden Höhenangst:
„Du Angst! Du hast mir geholfen, nicht voreilig zu handeln und hast mich zu Vorsicht ermahnt. OK. Ich habe es verstanden. Nun hilfst du mir aber nicht weiter, denn ich will nicht als dein Sklave falsche Entscheidungen hinnehmen müssen, sonder mit meinem freiem Willen eine Entscheidung auf Vernunft durchsetzen! Ich lasse jetzt nicht mehr zu, dass Du Macht über mich hast. Ich bin dein Herr. Also verschwinde.“
Ich redete mir ein, es gäbe keine Tiefe, als wäre es eine Illusion und ich befände mich in Wirklichkeit unmittelbar über dem Boden. Meinen Augen bat ich, nicht auf den Hintergrund zu achten, sondern nur den Vordergrund schön scharf zu stellen. Es sollte nur noch den Ast geben, auf dem ich stand, den Ast, an dem ich mich festhielt und den Apfel, den ich bekommen musste. Für die nächsten Minuten sollte es keine andere Welt für mich geben.
„Dem Mutigen gehört die Welt!“, sagte ich und versuchte hiermit meine Angst zu verdrängen.
Und so ging ich, Schritt für Schritt, Handgriff für Handgriff, auf meinem schwankenden Weg im Wind, und näherte mich dem grünen, runden Ziel.
Ich erreichte den Apfel. Eigentlich wollte ich dem Apfel noch einen Spruch für seine Dreistigkeit an den Kopf werfen, sich einen so frechen Platz ausgesucht zu haben, doch bei dem Gewackel auf den dünnen Zweigen in dieser Höhe, dem böigen Wind und meinem unsichern Halt über dem Abgrund, verschlug mir meine Panik die Sprache. So pflückte ich ihn nur schnell und steckte ihn in meine Tasche, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von meinem Halt abzuwenden. Konzentriert balancierte ich ebenso vorsichtig zurück, wie ich mich aus dem Blätterhaus herausgewagt hatte, bis ich mich endlich wieder innerhalb der Baumkrone befand, wo die Äste wieder dicker und stabiler waren und mir die grünen Blätter um mich herum, ein Gefühl von Halt, Sicherheit und Geborgenheit vermittelten.
„Ha, geschafft! ha ha! Soll das etwa schon alles gewesen sein? War ja ein Kinderspiel!“, und mein aufgeregtes Gackern klang bald eher wie blödes Grunzen.
Ich beruhigte mich jedoch langsam und genoss in diesem kleinen grünen Nest die Schönheit des hohen, stillen Versteckes. Die Sonnenstrahlen, welche durch eine kleine Öffnung im Blätterdach von oben zu mir herunter gelangten, verliehen den feuchten, grünen Blättern, um mich herum, einen seidigen Glanz. Rechts oben von mir bemerkte ich, wie ein einzelner Wassertropfen, von einem Blatt, auf das nächst tiefere viel und dabei jedes mal eine kleine Wasserspur auf seinem grünen „Landeplatz“ hinterließ. Irgendwie glich das kriechen der mickrigen Silbermurmel, einer kleinen Schnecke, die manchmal in ihrer Eile, auf das nächste Blatt hüpfte. Sozusagen eine Springschnecke. Dann verschwand der Tropfen im unteren Dickicht und ich besann mich wieder auf mich selbst:
„Du hast gerade etwas getan, was Du noch nie tatest“, wurde mir bewusst.
„Du warst dir nicht sicher, ob du es schaffen würdest und nun hast Du eine Aufgabe gelöst, die du dir erst kaum zutrautest.
Als du die lähmenden Mauern in dir niederrissest und sich sodann dein Horizont erweiterte, als du deine Angst besiegtest und den Mut aufbrachtest, dich auf neue Möglichkeiten einzulassen, als du an deine Fähigkeiten glaubtest und dir begannst mehr zuzutrauen, wurdest du vom Sklaven deiner Angst, zum Herren deiner selbst.
Mit jeder Angst, die du überwindest, wirst du also ein Stück freier. Jede Aufgabe lässt dich wachsen. Ich fühle mich nun stärker, größer und freier, als jemals zuvor. Ich fühle mich gut.“
Mit meiner rechten Hand holte ich den Apfel aus meiner Tasche und betrachtete ihn mit einem großen Glücksgefühl. Ich nahm einen kräftigen Bissen. Und obwohl er schrumpelig war, schmeckte er besser als jeder Apfel, den ich je gegessen hatte. Es tat gut, wieder etwas im Magen zu haben, aber ich glaube, dies war nicht der einzige Grund für seinen köstlichen Geschmack:
„Nichts ist so süß, wie der Erfolg der eigenen Bemühung“, dachte ich mir.
„Geschenkt, hätte mir der Apfel vielleicht nicht so gut geschmeckt.“
Und so verwandelte sich meine Unsicherheit auf Grund von Unwissenheit, in Sicherheit aufgrund meines neuen Wissens. Ich hatte Selbstvertrauen und ich stieg weiter hinauf. Ich pflückte so viele Äpfel, wie ich in meinen kleinen Rucksack unterbringen konnte. Schließlich kletterte ich hinab und fand, am Fuße des mächtigen Stammes, endlich wieder sichern Halt auf breitem Boden. Ich blickte noch einmal nach oben, schaute in die Tiefe der Baumkrone und lächelte, wie zu einem guten Freund. Dann betrachtete ich mich selbst:
„So, wie dieser lebendige Baum zum Lichte strebt, so bist auch du endlich mal über dich hinausgewachsen. Und so, wie der in die Höhe wachsende Baum nur deshalb an Stärke hinzugewinnen kann, weil er seinen in die tiefe wachsenden Wurzeln vertraut, kannst also auch du nur Stärke mit deinem Mut zum Selbstvertrauen gewinnen.“
Ich schaute voller Stolz auf die Äpfel in meinem kleinen Rucksack. Dies waren meine Trophäen, meinen Schatz, ein Beweis für mögliche Erfolgschancen und praktisch gesehen, erst einmal Nahrung für ein paar sorglose Tage. Ich hatte nun ein bisschen Zeit zum Suchen nach Essbarem gewonnen. Der Erfolg gab mir Hoffnung. Zwar eine Hoffnung auf eine Zukunft ohne Sicherheit, aber immerhin eine Zukunft mit Grund zur Zuversicht. Vielleicht wird es nicht immer so sein und dann hoffe ich auf eine zweite Chance, aber diesen Erfolg wird mir nie einer nehmen können. Vielleicht werde ich von meinem Erfolg länger zehren können, als von den Äpfeln selbst, denn nun gab es in meinem Wissen eine beruhigende Gewissheit: Was einmal möglich war, kann ein zweites mal nicht grundsätzlich unmöglich sein. Ich hatte Gesiegt! War dies vielleicht das Geheimnis der Hoffnung?
Ich beschloss, ab jetzt, jede meiner Erfahrung im Nachhinein zu überdenken, um mir immer wieder bewusst zu machen, wo ich im Leben stehe, was ich aus meiner letzten Erfahrung lernen könnte und ob das Leben mehr aus guten oder schlechten Erfahrungen besteht.
Vielleicht braucht man ausschließlich schöne Erfahrungen, um Hoffnung zu haben.
„Nun“, sagte ich mir, „dies war eine schöne Erfahrung:
„Durch meinen Mut, besiegte ich die Angst und hatte Erfolg.
Durch meinen Erfolg, erkannte ich meine Macht und gewann an Mut.
Glücklich über meine erfolgreiche Tat und, durch das Erkennen meiner Macht, mutiger, bin ich nun zuversichtlicher in meiner Hoffnung.“
Dann schwang ich meinen Rucksack auf den Rücken, zog mit einem festen Ruck die Trageriemen fest, ging zurück auf den Weg und setzte meine Reise in die Tiefen des Waldes und der Ungewissheit fort.
„Die Sonne begrüßt dich und die Träume machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Die Glöckchen
Ich folgte dem sich schlängelnden Weg durch das Gehölz. Mit jedem zügigen Schritt, den ich ging, wippte mein kleiner Rucksack auf meinen schmalen Schultern leicht hin und her. Meine Trageriemen passten sich, in einem leisen Knartschen, den Bewegungen an. Die vereinzelten Sonnenstrahlen, die letztens noch meinen Weg beschienen, blieben nun aus. Es Dämmerte. Links von mir funkelte ein zaghaftes Glitzern durch die Bäume.
„Dies könnte der See der Lichtung sein, den ich von meinem Baum aus gesehen hatte“, dachte ich mir.
Das Gezwitscher der Vögel veränderte sich, denn so die einen sich schlafen legten, wachten andere auf. Und seltsame Rufe hallten nun durch den Wald.
Ich kam an eine Gabelung. Der Hauptweg schien geradeaus zu gehen. Zu meiner Rechten, verschwand im Dunkeln ein Weg, unter einem dichten, niedrigen Blätterdach, mehrerer ausladender Bäume. Irgendetwas bewegte sich dort. Aus selbiger Richtung hörte ich leise Glöckchen läuten. Ich stellte mich an die linke Seite des Weges und versuchte, so gut ich konnte, zu erspähen, was sich dort aus dem dunklen Tunnel auf mich zu bewegen würde. Die Glöckchen wurden lauter. Schwarze Schatten kamen aus der Dunkelheit hervor. Es waren menschenähnliche Gestalten, eingehüllt in langen dunklen Kutten. Ihre Gesichter waren unter Kapuzen versteckt. Der Vorderste trennte sich aus seiner Formation und kam direkt auf mich zu. Er hob seinen Kopf und ein großer Schnabel schaute mich an.
„Gehet aus dem Weg Fremder und fliehet! Die Pest geht um!“
Er griff zu seinem Schnabel und schob mit ihm eine Maske nach oben. Dunkle Augen, so schwarz wie Löcher, starrten mich ernst aus einem grauen Gesicht an.
„Gehet Fremder und verweilet nicht, sonst seid auch ihr des Todes geweiht!“
Hinter ihm strömten weitere Menschen aus dem Dunkeln hervor. Mit aufgerissenen Augen, tippelte ich unbeholfen rückwärts eine kleine Böschung hinunter, bis ich mit meinem Rücken gegen einen Baumstamm stieß. Der Mann mit der Maske klappte seinen Schnabel wieder herunter, setzte sich erneut an die Spitze der armen Geschöpfe und lotste sie auf den Weg in die Richtung, aus der ich kam. Sie zogen sehr langsam an mir vorbei. Außer ein vereinzelndes leises Wimmern, war von ihnen nichts zu hören. Sie stützten sich gegenseitig, wenn sie alleine nicht mehr gehen konnten. Einige hielten Kinder in ihren Armen. Viele dieser Kinder schienen tot zu sein, denn sie ließen ihre kleinen, grauen Ärmchen nach unten hängen, und sie baumelten unbeteiligt hin und her, selbst wenn sie irgendwo anstießen. Aber selbst die kleinen Kinder, die noch lebten und mich manchmal mit ihren großen Augen ansahen, gaben keinen Mucks von sich. Zuletzt zogen sie einen, mit Leichen beladenen, Handkarren an mir vorbei und hinterließen einen süßlichen Geruch der Verwesung. Langsam verschwand die Menge wieder im Dunkeln. Das Poltern der Holzräder wurde immer leiser und der Klang der Glöckchen verstummte. Stille kehrte ein. Plötzlich schreckte mich ein lautes Knackten im Wald auf. Irgendwo im Gehölz ortete ich das Flattern aufsteigender Vögel. Ich schaute mich um. Es war nun beinahe Nacht.
Ich entschied mich, links meines Weges, querfeldein, durch den Wald zur Lichtung zu gehen. Langsam tastete ich mich an den dunklen Baumstämmen vorbei und trat, möglichst behutsam, auf den unsichtbaren Waldboden auf. Hin und wieder zerstörte ich trotzdem die Stille der Nacht und zerbrach unverhofft, laut krachend, einen großen Zweig unter meinen Füßen. Immer deutlicher glitzerten, zwischen den Bäumen, die kleinen Wellen des Sees hindurch, der sich hinter der Waldkante, in einer Lichtung, befinden sollte. Bald erreichte ich den Waldrand und hatte freien Ausblick auf den See. Vorsichtig stieg ich den dahinterliegenden Hang hinab und erreichte schließlich, in einer kleinen Bucht, den Strand. Dicht vor dem Wasser kniete ich mich in den Sand, löschte meinen Durst und setzte mich auf den Boden. Ich lehnte mich nach hinten, stützte mich auf meine Ellenbogen auf und streckte meine Beine. Einige hundert Meter von mir entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Sees, toste ein silberner Wasserfall im fahlen Schein des inzwischen aufgegangenen Vollmondes. Ich blickte zum Mond auf und bewunderte die kalte Schönheit dieses weißen Himmelskörpers, der sich einsam im glitzernden See widerspiegelte und zwischen den dunklen Wäldern der Nacht, die funkelnde Kontur der Wasseroberfläche, hervorhob. Seine tröstenden Strahlen fielen sanft auf meinen Strand und tauchten ihn in weiches Licht. Müde öffnete ich meinen Rucksack, nahm einen meiner Äpfel heraus und aß ihn sehr langsam.
„Nein“, sagte ich mir, „dies war keine schöne Erfahrung:
Eben erkannte ich meine Ohnmacht und verlor dadurch an Mut.
Durch meinen verloren gegangenen Mut, fühlte ich mich meiner Angst wehrlos ausgeliefert. Nun fürchte ich mich vor einer Bedrohung, vor der ich keine Sicherheit weiß.
Traurig, über meine erfolglose Tatenlosigkeit, vom Mitleid langsam ins Selbstmitleid verfallend und, durch das Erkennen meiner Ohnmacht, feiger, bin ich nun wieder skeptischer in meiner Hoffnung.“
Ermattet und Müde des Hoffens, legte ich mich in den Sand, ließ die seltsamen Eindrücke des Tages, wie ein Echo, verklingen und schlief schließlich in einem Strom der Bilder ein.
Ein Leben am Wasserfall
Die Sonne ging auf. Es war klarer blauer Himmel. Leise rauschten die Wellen, wenn sie sich beim Erreichen des Strandes ein letztes Mal aufblähten, um letztendlich doch nur aufzulaufen. Doch sie brachten feine Sedimente aus den Tiefen der Wasserwelt ans Tageslicht. Und kleine Schätze, angespült aus einer Welt, der Strömungen, flogen nun, in einer Welt der Winde umher. Der gegenüberliegende weiß glitzernde Wasserfall zeigte sich, in der aufgehenden Morgensonne, in erhabendem Stolz. Die spritzende Gischt, an seinem Fuße, läutete im lauten Getöse, kraftvoll und selbstsicher, ohne Scham und Muße, die lebendige Freude des Lebens an diesem Tage ein und sprudelte die Luft des Morgens und die Strahlen der Sonne, zwischen die verschlafenen Wogen des Sees.
„Die Sonne begrüßt dich und die Wassern machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Und ich entledigte mich meiner Kleider. Nackt schwamm ich durch die erfrischende Kühle des Sees und näherte mich mit wachsender Vorfreude dem glitzernden Wasserfall. Ich erreichte das andere Ufer und erklomm einen warmen, glatten Felsbrocken, der mir mit seiner sanften Neigung aus dem kalten Nass, einladend, zum einfachen Aufstieg verhalf. Um den Wasserfall bildeten aneinandergereihte Felsbrocken eine kleine Bucht. Wie auseinandergezogene Vorhänge, teilten sich die herunterstürzenden Wassermassen in einen großen Hauptwasserfall und einen kleineren Nebenwasserfall. Dieser verfehlte den direkten Weg in den See und erschüttete sich statt dessen, wie eine große Dusche, auf einem glatten Felsplateau. Ich näherte mich dieser von Gott erschaffende Brause, stellte mich schließlich unter sie und genoss das prickelnde Gefühl der lauwarmen Massage. Langsam schritt ich näher zur Felswand und ließ den Wasserfall, über mich, seinen großen Bogen ziehen. Ich drehte mich um und beobachtete, wie die Sonne, durch die Kristalle der gläsernen Wasserfäden, ihre bunt glitzernden Strahlen brach, während sich die Konturen und Farben, der dahinterliegenden Landschaft, wabbernd verzerrten. Ein ungewöhnlicher Schatten unterbrach das Farbenspiel. Ich trat durch den Wasserfall hindurch und sah am Ufer des Sees, einige Meter vor mir entfernt, einen kaum bekleideten Mann auf einem Felsen stehend. Er stand mit dem Rücken zu mir und trug nichts, außer einen Lendenschurz und einen alten Strohhut. In seinem rechten ausgestreckten Arm hielt er einen bedrohlichen Speer, an dessen hinteren Ende, eine Schnur hing. Plötzlich warf er ihn blitzschnell vor sich ins Wasser. Ich ging langsam auf ihn zu und sah, wie der Mann seinen Speer, mit einem Fisch an der Spitze, wieder herausholte. Er drehte sich zu mir um, musterte mich einen Augenblick und wendete seinen Blick dann wieder von mir ab, um sich seinem Fang zu widmen. Ich stellte mich neben ihn auf den Felsen.
„Was tust Ihr dort?“, fragte ich ihn.
„Ich fische. Sind besonders köstlich“, antwortete er spartanisch, lege den getöteten Fisch neben sich auf den Felsen und beobachtete, ohne mich weiter zu beachten, wieder die Wasseroberfläche. Der Fisch zuckte noch ein paar Mal. Dann lag sein schuppiger Körper, silbern glänzend, in der Sonne und ein großes, totes Auge starrte mich an.
„Um selbst zu leben, musste der Mann also Fleisch essen und dafür einen Fisch töten“, dachte ich: „Und das nennt man dann also Fischen.“
Ich folgte dem Ziel seiner Blicke und sah, wie sich viele Fische am Rand des Wasserfalls im sprudelnden Wasser tummelten. Wir standen beide auf diesem Felsen und beobachteten schweigend das Geschehen.
„Die Fische töteten sich nicht gegenseitig“, dachte ich weiter. „Sie fischten nicht. Vielleicht würden sie „menschen“, wenn sie stärker wären als der Mensch, um sich von seinem Fleisch zu ernähren, um selbst zu leben.“
Ich blickte auf meinen eigenen Körper:
„Bot mein Körper, dem Fischer, nicht viel mehr Fleisch, als ein Fisch? Dennoch menschte er nicht, sondern fischte. Warum? Vielleicht lag es ja daran, dass wir uns beide mehr glichen, als ein Mensch dem Fisch. Ist es dann richtig, zu töten, was andersartig ist, aber falsch, zu töten, was gleich ist? Es scheint auf jeden Fall ein Vorteil zu sein, dem stärkeren und nicht dem schwächeren zu gleichen.“
Mir fiel auf, wie sich ebenso die sich gleichenden Fische gefunden hatten, um ihr Leben innerhalb eines Schwarmes gemeinsam zu verbringen.
„Vielleicht ist es ein Vorteil, überhaupt jemandem zu gleichen.“
Ich schaute den Fischer an, musterte seinen muskulösen Körper und seine scharfe Waffe.
„Wir sind uns nicht gleich“, überlegte ich weiter, „nur ähnlich. Ich sehe nicht genauso aus wie er und vermag nicht mit den gleichen Fähigkeiten aufzuweisen. Was würde er wohl tun, wenn er bemerkte, dass wir uns nicht glichen, sondern nur ähnlich waren? Wann würde er beginnen in mir einen Fisch zu sehen?“
Der Fischer drehte sich zu mir um und seine grün leuchtenden Augen, in seinem versteinerten Gesicht, schienen mich zu durchbohren. Dann lege sich zögernd ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht und er fragte mich freundlich, mit tiefer und ruhiger Stimme:
„Möchtet Ihr es auch einmal versuchen, Fremder?“
„Ihr fragt mich?“, reagierte ich etwas überrascht und zögerte einen Moment.
Dann begann ich allmählich zu verstehen: Er hatte wohl durchaus unsere Ungleichheit gesehen, aber auch unsere Ähnlichkeit erkannt. Es bestand also scheinbar aus seiner Sicht, zwischen uns, die Chance des Aufbaus von Gemeinsamkeiten und nun verhalf er mir, mich ihm anzugleichen. Vielleicht um zu testen, wie sehr ich für ihn Mensch oder Fisch war?
Trotz meines Bewusstseins, mit meinen Fähigkeiten und seinen Erwartungen konfrontiert worden zu sein, wagte ich, die Herausforderung anzunehmen.
Ich versuchte mich locker zu geben.
„Ja, warum eigentlich nicht“, antwortete ich.
Der Fischer überreichte mir seinen Speer und ließ mich amüsiert meine Versuche machen.
Zu dieser Zeit war ich für ihn wohl nur ein männlicher Backfisch.
Ich suchte mir einen besonders dicken Fisch aus und warf den Speer, mit aller Kraft, auf mein Ziel und voll daneben. Ich hätte schwören können, dass ich ihn hätte getroffen haben müssen.
Der Fischer bat mich um die Rückgabe des Speeres und hielt ihn dann zur Hälfte ins Wasser.
Der lange Stiel des Speeres schien unter der Wasseroberfläche einen Knick nach oben zu bekommen.
„Seht Ihr das?“, fragte er mich schmunzelnd, „die Welt unter Wasser bekommt ihr eigenes Licht. Die Oberfläche bricht die Strahlen der Sonne. Ihr müsst unter den Fisch zielen, um ihn zu treffen!“
Er drückte mir energisch seinen Speer in die Hand und forderte mich mit einem Nicken zu einem neuen Versuch auf. Und ich zielte dieses Mal unterhalb eines Fisches und traf.
Wir lachten beide und freuten uns über den Erfolg. Ein Erfolg im Lehren und Lernen und ein Erfolg im finden einer neuen Zusammengehörigkeit.
Wir wechselten uns ab und holten noch einige Fische heraus. Und wenn der eine Müde wurde, machte der andere weiter.
Bald war ich nicht mehr nur sein Schüler und er nicht mehr nur mein Lehrer, sondern wir wurden Partner, die für ein gemeinsames Ziel kämpften. Das Ziel, uns beim Fang von unserer Nahrung, gegenseitig zu unterstützen. Das Ziel, gemeinsam zu überleben.
So gut wie er, war ich natürlich nicht. Wir hatten schließlich 10 Fische gefangen. Ich konnte dabei mit einer Beteiligung von drei Fischen „glänzen“. Aber dies schien nicht wichtig zu sein, auch nicht für ihn. Vielleicht war dem Fischer bewusst, dass es auch für ihn schlechter hätte ausgehen können. Vielleicht wusste er, dass es um mehr, als den kurzfristigen eigenen Erfolg ging, denn was nützt er einem, wenn man sich dadurch eventuell zukünftigen Chancen beraubt. Vielleicht hatte er aber auch einfach eine weitsichtigere Lebenseinstellung, eine Einstellung für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen würden. Nun war ihm meine Gnade sicherer, falls er meine Hilfe brauchen würde, so wie ich seine Gnade erfuhr, als er mir half.
Bald holte er ein paar trockene Äste und feines Gestrüpp aus dem Wald, entzündete ein kleines Feuer und zeigte mir, wie man Fische ausnimmt. Als der Abend einbrach, saßen wir am Feuer und hielten an langen Stöcken unseren Fang in die züngelnden Flammen. Die Sonne ging unter und nahm alle Farben mit sich. Nur das Feuer glühte noch rot und ließ flackernde Schatten über die Felsen huschen. Wir aßen voller Genus den heißen Fisch und redeten bis tief in die Nacht. Er erzählte mir von seiner Frau und seinen Kindern, vom Jagen und Fischen, Überfluss und Hunger, von guten und schlechten Zeiten, Glück und Trauer, von Zeiten der Anerkennung und der Einsamkeit, untermalt vom Prasseln des Feuers und aufsteigenden Funken aus der Glut. Wie viele Dinge er in seinem Leben erlebt hatte, dachte ich mir. Manche seiner Ereignisse waren so komisch, dass ich vom vielen Lachen schon Bauchschmerzen bekommen hatte. Er gestand mir seine eigene Unvollkommenheit und war für mich damit so himmlisch menschlich. Wie hilflos er manchmal war, wenn er schwere Zeiten durchstand. Und wie wundervoll und spannend manche seiner vielen Entdeckungen über die Zusammenhänge des Lebens waren. Dann kehrte Müdigkeit ein. Die Flammen verloren an Kraft und wir rückten näher ans Feuer zusammen, um uns liegend, trotz kleiner werdenden Gezüngels, wenigstens an der ausstrahlenden Wärme der roten Glut, gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Genüsslich gesättigt, angenehm gewärmt und nicht allein, war dies eine besonders beruhigende und schöne Nacht für mich.
„Ja“, sagte ich mir, „dies war eine schöne Erfahrung:
Durch meinen Tatendrang und meiner Neugierde, Offenheit und Vertrauen, wurde meine Neugierde befriedigt und mir Offenheit und Vertrauen geschenkt.
Durch Offenheit und gegenseitigem Vertrauen, legte sich eine Sicherheit der Zweisamkeit, über die Unsicherheit meiner Einsamkeit.
Glücklich, über die Belohnung des erfolgreichen Sieges über meine Trägheit, glücklich, ein Geschenk einer neu gefundener Sicherheit in der Zweisamkeit empfangen zu haben und, durch das Erkennen meiner Macht, sogar unerwartete Chancen finden zu können, mutiger, bin ich nun wieder zuversichtlicher in meiner Hoffnung.“
Ich drehte mich auf den Rücken, betrachtete den silbernen Mond, wie er still über uns wachte und schlief zufrieden ein.
Die Weiterreise
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren der Fischer und jegliche Spur von ihm, verschwunden. Die Welt war in diesen frühen Morgenstunden noch grau. Ein dünner Rauchfaden schlängelte sich zwischen der grauen Asche aus der verliebenden Glut in den Himmel. Vor mir spielten kleine Wellen ihr Spiel, mit den Rändern der Felsen. Der Wasserfall rauschte in befremdlicher Eintönigkeit. Eine Zeitlang hoffte ich noch, er käme zurück, aber ich wartete vergeblich. Die einzigen Stimmen, die ich manchmal unter dem Rauschen des Wasserfalles zu hören glaubte, entsprangen nur meiner Phantasie. Und so saß ich alleine, einsam und still, auf einem kleinen Felsen, in Mitten der weiten unbekannten Landschaft. Ich wartete an einem verlassenen Ort und mir wurde allmählich bewusst, dass ich wieder alleine war.
Eine kühle Brise frischte unter der grauen Wolkendecke auf und ich bekam Gänsehaut.
Nach einiger Zeit raffte ich mich dann schließlich schwermütig auf, sprang fröstelnd in das kalte Wasser und kraulte durch die grünen Luftblasen, unter den langsam schwingenden Wogen der langen großen Wellen, zurück zu jener Bucht, wo ich meinen kleinen Rucksack und meine Kleider zurück gelassen hatte. Ich erreichte nass und unterkühlt den Strand und sah meinen Rucksack neben meinen verstreuten Kleidern im Sand liegen. Erst jetzt viel mir auf, wie lieblos ich meine Sachen zurückgelassen hatte. Ich zog sie aus dem Sand und kleidete mich im kühlen Wind an. Der Himmel blieb von dünnen, grauen Wolken bedeckt und überließ die schläfrige Sonne ihrer Träume. Als ob ich Angst hätte jemanden wecken zu können, setzte ich mir leise meinen Rucksack auf, zog meinen Kragen hoch und machte mich dann still auf den Weg in Richtung des Waldes, hinter dessen Baumstämme mir der Wind nicht folgen würde und ein Blätterdach mein Schutz vor Regen war. Und so verließ ich schließlich den Hang, am höchsten Punkt der Bucht, entfloh meiner Fernsicht über die hellegraue Weite und tauchte in das dunkelgrüne Dickicht des Waldes ein, an dessen Dunkelheit sich meine Augen erst noch gewöhnen mussten.
Langsam kroch ich durch das Unterholz und ließ den See immer weiter hinter mir. Ich drehte mich nicht um. Bald erreichte ich wieder den Weg an der Stelle, an der ich ihn verließ und warf an der Wegesgabelung einen kurzen Blick in Richtung des noch immer dunklen Blättertunnels, aus der, vor noch gar nicht langer Zeit, die Pestkranken herauskamen. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich die Glöckchen hörte und dunkle Schatten aus dem schwarzen Loch zu mir ins Licht traten. Doch das Loch wartete still und ereignislos und drohte nur mit meinen Erinnerungen. Es war, als ob es auf eine kurze Unaufmerksamkeit von mir warten würde, um mich dann plötzlich wieder mit einem schrecklichen Ereignis überraschend überrumpeln zu können.
Ich entschloss dem größeren, helleren Hauptweg zu folgen und marschierte los. Immer dichter werdender Nebel legte sich über meinen Weg. Ich hörte kein Vogelgezwitscher. Außer meinen eigenen Schritten, meinem Atmen und dem typischen Knartschen der Lederriemen meines kleinen Rucksacks, hörte ich nichts. Zwischen den Baumwipfeln drang ein dunkles gleichmäßiges Licht aus dem grauen Himmel über mir und erreichte nur schwach den Boden zu meinen Füßen.
Der Bettler
Ich bewegte mich tiefer in den Nebel hinein und erahnte langsam eine Gestallt, die rechts am Wegesrand sitzend, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt war. Dieser Mensch saß dort ganz alleine. Sein Körper war in lange dunkle Tücher gehüllt und sein Gesicht unter einer Kapuze versteckt. Als ich mich ihm näherte, hob er seinen rechten Arm und streckte mir seine nach oben geöffnete Hand wie eine Schale entgegen. Seine Kapuze war so weit nach vorne gezogen, dass es mir unmöglich war, im Schatten seiner Kopfverschleierung, sein Gesicht zu erkennen. Unnachgiebig hielt er mir seinen Arm entgegen, ohne etwas zu sagen.
Ich wusste, dass er mich um eine Spende bat, doch ich wusste nicht, was ich ihm hätte geben könnte. Wenn ich ihm meinen letzten Apfel geschenkt hätte, wäre er um diesen Apfel reicher als ich und ich um diesen Apfel ärmer als er geworden. Hätte ich mit ihm meinen Platz tauschen sollen? War mein kleiner Apfel nicht die einzige Sicherheit für diesen Tag, die ich noch hatte? Ich wendete mich von ihm ab und ließ ihn, an seinen Baum sitzend, im Nebel alleine. Ich schämte mich. Die Last meines Rucksackes erschien mir schwerer zu werden, meine Schritte wurden schleppender und mir wurde leicht schwindelig.
Unbekannte Früchte
Bald erschien auf der linken Seite meines Weges ein kleiner Gemüsestand. Hinter einem niedrigen Holztisch saß eine Frau und schaute mich auffordernd an. Vor ihr lagen, in kleinen Flechtkörben sortiert, Auberginen zum Verkauf bereit. Noch nie hatte ich Auberginen gesehen. Wie schön sie waren. Gerne hätte ich sie probiert, aber ich hatte nichts zum Bezahlen. Und so schlurfte ich schweren Schrittes weiter meines Weges und ließ auch sie zurück.
Dann kam ich an einen zweiten kleinen Gemüsestand, ebenfalls zur Linken meines Weges. Auch hier saß jemand hinter einem kleinen Holztisch. Vor ihm stapelten sich in flachen Holzkisten, leuchtend rote und fast runde Tomaten. Wie schön sie waren. Gerne hätte ich sie probiert, aber ich hatte nichts zum Bezahlen.
„Welch Vielfalt es doch gibt“, dachte ich mir und ging einerseits erfreut über die schöne Erfahrung der Vielfalt, doch anderseits traurig über meinen Ausschluss an der Teilnahme dieses Lebensspiels, langsam weiter.
„Hey,“ rief mich jemand von hinten, „fang auf!“
Ich drehte mich um. Der Mann hinter dem Tomatenstand war aufgestanden und warf mir augenblicklich eine seiner Tomaten zu. Ich fing sie auf und hielt diese kostbare rote Murmel in meinen Händen. Ich lächelte ihm zu und versuchte, so deutlich es ging, ihm meine Freude über sein Geschenk, dankend, mit einer Armbewegung, zu zeigen. Ich biss erwartungsvoll in das rote Fleisch der Tomate und versuchte, so intensiv wie möglich, alle Geschmacksreize wahrzunehmen, um den herrlichen Saft in seiner Vollkommenheit zu kosten.
Gnadenlos
Schließlich ging ich weiter. Aber es fiel mir immer schwerer. Bald war mir so schwindelig und ich fühlte mich so schwach, dass ich mich an einen Baum setzen musste, um zu pausieren. Mir wurde abwechselnd warm und kalt. Meine Füße schienen nach oben schweben zu wollen.
„Was ist nur los mit mir?“, fragte ich mich. „Bin ich etwa krank geworden?“
Wie vom Blitz getroffen, durchfuhr mich eine schreckliche Ahnung:
„Hatte ich mich bei den Aussätzigen angesteckt? Hatte ich die Pest?“
Ich versuchte meinen Körper nach irgendwelchen ungewöhnlichen Merkmalen zu untersuchen, aber meine Sinne waren inzwischen zu sehr getrübt, um mir einen klaren Eindruck über mich verschaffen zu können und meine, bei jeder Bewegung schmerzenden Glieder, ließen mich bald meine Selbstanalyseversuche aufgeben.
„Du musst weitergehen!“, ermahnte ich mich und zog mich am Baumstamm hoch.
Ich fühlte mich elendig. Langsam schlurfte ich weiter und hustete immer wieder irgend etwas Schleimiges aus. Alles begann sich um mich zu drehen. Ich verlor mein Gleichgewicht und viel der Länge nach auf den Boden in den Matsch. Erneut kroch ich zum nächsten Baumstamm und versuchte mich auf einen Punkt, in der sich um mich drehenden Welt, zu konzentrieren. Wieder saß ich, mit meinem Rücken gegen einen Baum gelehnt, am Wegesrand.
„Du musst etwas essen“, sagte ich mir.
Ich griff in meinen Rucksack und holte meinen letzten Apfel heraus. Es fiel mir schwer, das scheinbar hohe Gewicht des Apfels zu heben. Ich setzte ihn an meinen Mund an, doch es fehlte mir die Kraft, in ihn hineinbeißen zu können. Dann fiel er mir aus der Hand und rollte davon. Mir wurde bitter kalt. Ich versuchte, so gut es ging, mich in meinem Hemd zu verstecken und kauerte mich zusammen.
Plötzlich kam eine kleine Gruppe von drei fröhlichen Menschen an mir vorbei. Sie schienen gut gekleidet zu sein und wurden durch meinen Anblick in ihrem lauten Lachen kurz unterbrochen. Ich streckte meinen rechten Arm und hielt ihnen meine nach oben geöffnete Hand, fast wie eine Schale, entgegen, auf dass sie meine Hand ergreifen würden, um mir zu helfen. Ich versuchte sie anzusprechen, doch mein Hals war so zugeschnürt, dass ich es nicht vermochte, auch nur einen Ton herauszubringen. Einen kurzen Moment lang sahen sie mich überrascht an. Dann begann einer von ihnen die Stille durch einen Spruch zu unterbrechen und regte die anderen hierdurch zum Lachen an. Sie gingen fort und verließen meine Welt ebenso laut, wie sie gekommen waren.
Ich ließ meinen Arm fallen.
Ruhig hörte ich der Stille zu und lauschte meinem schweren Atem. Ab und zu verlangsamte sich die Drehung meiner Welt und kam zum Stillstand. Mein Arm lag erschlafft neben meinen Beinen auf dem feuchten, kalten Boden. Meine Kleidung war dreckig und bedeckt von Matsch. Ich schaute auf meine noch immer geöffnete, zitternde Hand.
„Natürlich!“, leuchtete es mir ein, „ich musste für sie nicht anders ausgesehen haben, als der Bettler, den ich vorhin am Wegesrand seinem Schicksal überließ.“
Und mir wurde plötzlich bitterlich bewusst, dass ich wohlmöglich keinen Bettler, sondern einen um Hilfe bittenden Kranken zurückgelassen hatte. Was ich möglicherweise ihm angetan hatte, passierte nun mir. Nun ging es mir richtig dreckig.
Bald kam ein Wandersmann des Weges. Auch er hielt bei meinem Anblick für kurze Zeit inne. Ich ließ mich nach vorne fallen und versuchte ihm entgegen zu kriechen, blieb aber kraftlos liegen. Der Wandersmann wich zurück und wechselte schnell die Wegesseite. Dann ging auch er fort und ließ mich zurück.
„Soll dies nun das Ende meines Lebens sein?“, fragte ich mich. „So weit bin ich gekommen und nun, noch kurz bevor ich meine vier Wochen des Lebens erreicht habe, bin ich gezwungen zu verlieren. Hatte der alte Mann in Eden doch recht und Gewinnen ist letztendlich unmöglich?“
„Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, du wirst es keine drei Tage dort aushalten und auf allen Vieren kommst Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du würdest dir selbst begegnen und glaube mir, es würde dir nicht gefallen“, erinnerte ich mich an seine Worte.
„Nein“, sagte ich mir, „diese letzte Erfahrung meines Lebens, war keine Schöne:
Durch meine Unfähigkeit mir selbst helfen zu können, erkannte ich meine Ohnmacht.
Ich fand nichts, was mir Sicherheit gab. Weder eine Sicherheit für mein Leben, noch eine Sicherheit in meinen Entscheidungen.
Was nützten mir die kurzfristigen Erfolge, die mir keine zukünftigen Chancen boten? Wo hatte ich Gnade gezeigt und wo blieb die der anderen, - für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade, letztendlich, in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen würden?
Ich fürchtete in meiner Vergangenheit zu Recht einer Bedrohung, vor der ich keine Sicherheit gefunden hatte und erlag nun meiner vorauszusehenden Aussichtslosigkeit.
Traurig, über mein erfolgloses Leben, ins Selbstmitleid verfallen und, durch das Erkennen meiner Ohnmacht, stagniert, bin ich nun ohne jede Hoffnung.“
Meine Sinne schwanden und langsam begannen sich die Konturen meiner Umgebung aufzulösen. Die Schatten begannen sich um mich zu drehen. Schatten wurden zur Dunkelheit und ich stürzte in einen Strudel der Schwärze, durch einen Tunnel zum Licht.
Das Dorf
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines kleinen dunklen Raumes, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt lag ich barfuss und so leicht bekleidet in einem Bett, dass ich mein weiches Gewand, auf meiner Haut, kaum fühlen konnte. Ich empfand die weiße Bettdecke, über meinem sauberen Körper, als angenehm wärmend. Langsam erkannte ich vor mir ein kleines Flügelfenster, an dessen Seiten weiße Vorhänge bis zum Boden reichten. Links davon befand sich eine kleine Tür.
Die morgendliche Sonne floss sanft durch das kleine Fenster und gab dem Raum Licht und Wärme. Das kleine Fenster war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinter liegenden Veranda, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die weißen Vorhänge leise und sanft nach außen schwingen.
Eine Frau in einem langen weißen Gewand beugte sich über mich und tupfte, mit einem kühlen, nassen Tuch, meine Stirn ab.
„Bin ich wieder im Garten Eden?“, fragte ich sie leise.
Sie setzte sich rechts von mir auf einen kleinen Hocker.
„Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht“, antwortete sie mit lieblicher Stimme und schenkte mir ein gütiges Lächeln.
„Wo bin ich dann? Wie komme ich hierher?“, stutzte ich.
„Ein Mann aus unserem Dorf hat euch unweit unseres Hauses auf dem Boden liegend gefunden. Ihr ward sehr krank und hattet Fieber. Vielleicht eine Infektion. Der Rat der drei Weisen entschied sich, euch vorübergehend bei uns aufzunehmen und gab mir die Ehre, die Verantwortung übernehmen zu dürfen, euch gesund zu pflegen.“
Sie griff zum Nachttisch neben dem Bett und reichte mir eine kleine Schale mit köstlich duftender Suppe. Ein großer Silberlöffel lag darin zum zugreifen bereit.
„Diese Kartoffelsuppe wird euch wieder Kraft geben“, untermauerte sie ihre Handlung. „Esst, aber seid vorsichtig, sie ist heiß!“
Sie unterstützte mich leicht mit ihrem freien linken Arm unter meinem Nacken. Ich setzte mich aufrecht hin und blickte in die klare Brühe der Schale. Mir vielen darin die kleinen gelben Stückchen auf.
„Kartoffeln?“, fragte ich sie und zeigte ihr ungehemmt meine Unwissenheit.
„Kartoffeln! – von unseren Feldern!“, antwortete sie etwas verwundert über meine Frage.
Kleinlaut äußerte ich die nächste Frage: „Felder?“
Sie schaute mich einfach nur an.
Wahrscheinlich war sie sich nicht sicher, ob ich die Frage ernst meinte.
Ich nahm den Löffel in die Hand und schlürfte vorsichtig die heiße Suppe. Noch nie hatte ich etwas so köstliches gegessen. In meinen Gedanken wiederholte ich ihre Erklärung und bemühte meine Phantasie, mir irgendein Bild von ihrer Erklärung zu machen: „Kartoffeln! - von unseren Feldern! Soso.“
Ich merkte, wie sich mein Hunger langsam legte.
„Wieso hatte mich dieser Mann gerettet?“, schmatzte ich, bevor ich meine Suppe im Mund ausreichend heruntergeschluckt hatte. „Alle anderen gingen an mir vorbei.“
„Ja, es ist verständlich, dass ihr euch dieses fragt“, antwortete sie. „Der Mann, der euch fand, ist sich selbst und der Gemeinschaft natürlich wichtiger als ihr. Er war jedoch der Meinung, dass ihr dringender Hilfe brauchtet, als er selbst. Zu helfen, ist bei uns etwas Ehrenvolles. Er wusste, sich um euch zu bemühen, würde ihm zu mehr Ehre in der Gemeinschaft verhelfen.“
„Ist Ehre denn so wichtig?“, hakte ich nach.
Sie versuchte es mir zu erklären: „Um so ehrenvoller jemand ist, desto wichtiger ist er für die Gemeinschaft und um so wichtiger jemand in der Gemeinschaft ist, desto mehr Hilfe kann er aus dieser erwarten, denn die drei Weisen beschließen für die Gemeinschaft vorrangig zuerst das zu tun, was am wichtigsten ist. So wird auch von der Gemeinschaft erst dem geholfen, der am wichtigsten ist. Wichtiger als das wichtigste ist nur, was dringender ist, solange das ansonsten wichtigste nicht durch seine zurückgesetzte Priorität gefährdet ist.“
Sie schaute mich prüfend an und versuchte aus meinen Augen abzulesen, ob ich sie richtig verstanden hätte. Dann suchte sie nach einfacheren Worten:
„Die Gemeinschaft konnte es sich eben leisten, sich um euren dringen Fall zu kümmern, ohne wichtiges für uns zu gefährden. Da ich zur Zeit von allen am wenigsten Hilfe benötige, wurde mir die Ehre erteilt, euch pflegen zu dürfen. So verdanke ich euch meinen Zuwachs an Ehre. Die Hilfe der Gemeinschaft wird mir gewisser.“
„Wer ist denn der wichtigste?“, frage ich sie nach einer längeren Denkpause.
„Der Einzelne ist sich selbst wichtiger als ein Anderer, denn der Einzelne kann dem anderen nicht helfen, wenn er selbst mehr Hilfe braucht, als dieser. Wichtiger als man selbst, ist für den Einzelnen jedoch die Gemeinschaft. Jeder Einzelne würde sich für die Gemeinschaft opfern, wenn dieses Opfer der Gemeinschaft helfen würde.
Aus Sicht der Gemeinschaft, ist es genau umgekehrt. Das wichtigste für die Gemeinschaft ist, der Einzelne. Die Gemeinschaft würde sich für den einzelnen opfern, wenn dieses Opfer dem Einzelnen hilft. So ist für die Gemeinschaft die Minderheit wichtiger, als die Mehrheit und der Einzelne wichtiger als die Minderheit, denn jede noch so große Gemeinschaft ist nur das Ergebnis der Verhaltenweisen aller Einzelner. Wir glauben, eine Gemeinschaft muss sich an seinem Umgang mit seiner Minderheit messen lassen“, erklärte sie.
„Und wer sind die drei Weisen?“, hakte ich weiter nach.
„Die drei Weisen sind die Einzelnen, die in der Gemeinschaft die höchste Ehre erreichten und die Anlaufstelle aller Informationen sind. Sie können daher am besten übersehen, wer und was das wichtigste für die Gemeinschaft ist, was entsprechend vorrangig getan werden sollte, welches das wichtigste Ziel ist und nicht gefährdet werden darf, wem vorrangig geholfen werden sollte und wer gerade am besten seine Hilfe zur Verfügung stellen könnte. Letztendlich stimmen wir dann ab. Da die Weisen durch ihr Amt nicht mehr selbst helfen können, behalten sie ihr Amt nicht auf Dauer, sondern geben früher oder später ihr Amt jeweils an einen nächsten ab, der mehr Ehre erlangt hat, als sie selbst. Sie sind nicht völlig frei in ihren Entscheidungen, denn auch sie haben sich an Leitlinien zu halten, wie jeder andere. Leitlinien entstehen durch die Gemeinschaft und durch sie werden sie auch verändert.“
„Leitlinien? Ihr meint die Regeln des Dorfes, nach denen ihr lebt?“
„Es gibt keine Regeln mehr, denn Regeln neigen dazu, irgendwann nur noch ihrer selbst zu existieren, ohne einen Sinn für das Leben zu haben. Wenn eine grundsätzliche Regel, gedacht für das Wohl der Gemeinschaft, sich in den meisten Einzelfällen als sinnlos herausstellt, wird die Regel automatisch wieder gestrichen. Die Bedeutung von Einzelfällen wird höher erachtet, als Grundsätzlichkeiten. Damit es überhaupt möglich ist, herauszufinden, ob Regeln sinnvoll sind, darf man sie jederzeit brechen. So darf jeder ungestraft eine Regel brechen, wenn er in einem Einzelfall eine Regel für sinnlos hält. Allerdings trägt man dann auch die Verantwortung dafür, falls man, durch einen Bruch einer grundsätzlichen Regel, der Gemeinschaft oder einem anderen, einen Schaden zugefügt hat, der, bei Beachtung der Regel, nicht eingetreten wäre. Auch in guter Absicht kann man sich demnach der Fehleinschätzung strafbar machen. Es ist also wichtig, alle Regeln mit Bedacht zu verwenden. Regeln wurden zu Leitlinien, denn neue Erfahrungen und jeweilige Lebenssituationen verändern sie und es gibt keinen Zwang ihrer Befolgung.
Leitlinien sind nun unser roter Faden. Sie geben uns Hilfe für Entscheidungen zum Wohle aller. Schließlich kommt es nicht auf die Einhaltung einer Regel an, sondern auf die dahinterliegende Absicht jeder Regelidee. Es ist eben nicht möglich, eine Verhaltensregel für einen Grundgedanken so zu formulieren, dass diese, in allen möglichen Lebenssituationen auch sinnvoll ist. Manchmal dient es einem Grundgedanken nicht, sich an eine Regel zu halten. Manchmal würde ein Halten an Regeln dem Grundgedanke sogar widersprechen. Sich an eine Regel zu halten kann zuweilen mehr Schaden anrichten, als eine Regel zu brechen. Wichtig ist der dahinterliegende Grundgedanke, also die Absicht hinter einer Regel. Regeln zwingen einen häufig zu unsinnigem Handeln, Leitlinien helfen uns zu überlegtem, verantwortungsbewusstem und sinnvollem Handeln.“
„Ist es dann nicht für den Einzelnen möglich, die Gemeinschaft für seinen eigenen Vorteil auszunutzen?“, äußerte ich kritisch.
„Falls jemand in böser Absicht, zu seinem Vorteil, einem anderen Einzelnen oder der Gemeinschaft, Schaden zufügt, riskiert er entehrt zu werden.“
Ich löffelte meine Suppe aus und leerte die Schale bis zum letzten Tropfen. Die Suppe war wirklich sehr lecker gewesen. Schließlich stellte ich die Schale auf den Nachttisch neben mich.
„Sag mir bitte, gibt es in eurer Gemeinschaft, wo die Gemeinschaft für den einzelnen das wichtigste sein soll, überhaupt noch einen Spielraum für Individualismus?“, provozierte ich sie absichtlich.
Ich wollte verstehen, wo sich ihre Lebensweise von anderen abgrenzt und welche Nachteile es aus diesen Vorteilen zu tolerieren gilt. Denn nur, wenn ich die Grenzen zu alternativen „Puzzleteilen“ zu sehen vermag, wenn ich die Silhouetten im Gefüge der Ganzheit erkenne, kann ich das Einzelne durch Differenzierung zum anderen vergleichen und verstehen. Nur so bin ich in der Lage etwas für mich zu beurteilen und gegebenenfalls eine Entscheidung zu treffen. Alles wird eben durch seine Grenze zum anderen definiert. So kritisierte ich absichtlich provokativ ihre Lebensweise und wartete auf eine erklärende Rechtfertigung, die mir hilft zu verstehen. Gemeinschaft und Individualismus ist doch ein Widerspruch in sich selbst, nicht war? Die „Nuss“ muss sie erst einmal knacken. Wie würde sie mit diesem Widerspruch umgehen? Ich wartete gespannt auf die Reaktion meiner Kritik.
Sie grinste mich an. Offenbar hatte sie mich durchschaut und mit dieser typischen Kritik gerechnet. Es gefiel mir, dass sie grinste, zeigte es mir doch, dass sie sich über viele Dinge Gedanken gemacht hatte und ich warte gespannt auf ihre Lösung dieses Konfliktes.
„Für uns ist Vielfalt wichtiger als Gleichheit“, antwortete sie verblüffend einfach. „Wir gehen davon aus, das jeder Mensch und jedes Wesen, über besondere einmalige Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, die mindestens einer, früher oder später, benötigt. Niemand ist nutzlos und niemand auf Dauer unabhängig von anderen. So ist die Natur. Das ist das Prinzip der Symbiose. Wir Menschen können uns darüber weitsichtige Gedanken machen. Sie funktioniert um so besser, desto vielfältiger das Ganze durch seine Einzelteile ist.
Stellt euch vor, ihr hättet ein Puzzle in einer festgelegten Größe. Wenn dieses Puzzle nur zehn Teile hätte und ihr würdet ein Teil herausnehmen, so gäbe es ein sehr großes Loch. Bestände das Puzzle jedoch aus Tausend Teilen, würde die Herausnahme eines Teiles nur ein sehr kleines Loch zur Folge haben. Da es niemanden gibt, der alles kann und auch niemand so sein kann, wie ein anderer, ist es also sinnvoll und am besten, möglichst unterschiedliche Personen zu haben.
Niemand weiß, was kommt und was man brauchen wird. Nicht selten gibt oder bekommt man etwas, ohne das es einem bewusst wird. Oft kann man erst nicht erkennen, wofür etwas gut ist. Keiner kann letztendlich mit Sicherheit sagen, weshalb sich das eine oder andere gerade in eine bestimmte Richtung entwickelt. Zu komplex sind die sich gegenseitig beeinflussenden Zusammenhänge der Kleinigkeiten, die in ihrem Zusammenspiel manchmal so große Wirkungen haben. Sicher kann man nur sagen, dass alles, früher oder später, eine Rolle spielen wird. Also kommt man zum Schluss, um so individueller der Einzelne in einer Gemeinschaft ist, desto besser.
So ist es im Interesse der Gemeinschaft, jedem Einzelnen bei der Suche zu helfen, sich selbst, seine Stärken und Schwächen, eben seine ganz eigenen Begabungen und Schwierigkeiten, zu finden. In dieser Zeit braucht der Einzelne natürlich Zeit für sich und manchmal die Hilfe der anderen. Früher oder später wird dieser jedoch seine Begabungen gefunden und entwickelt haben. Eines Tages wird er vielleicht sogar der einzige sein, der ausschließlich mit seinen Eigenschaften jemand anderem helfen kann.“
„Moment mal, manchmal muss es doch besonders dringende Fälle geben! Da kann sich der Individualist doch nicht einfach der Gemeinschaft entziehen!“, warf ich ein.
Sie nickte mit dem Kopf: „Der lernende Individualist, wie jedes Kind, ist vielleicht mehr auf Hilfe angewiesen, als er zu Helfen vermag, daher wird er meistens auch als letztes behelligt, die Ehre zu erhalten, anderen zu helfen. In dringenden Fällen erhält er jedoch die Chance, im Rahmen seiner Möglichkeiten, durch sein Helfen, mehr Ehre zu erlangen, um sich somit für die Zukunft der Hilfe anderer wertvoller zu erweisen. Möglicherweise geht es ja sogar um den existentiellen Erhalt der Gemeinschaft, von der er profitiert. Es ist zwar klug, sich zurück zu ziehen, um sich auf sich selbst zu besinnen und zu finden, aber es wäre dumm, tatenlos zu bleiben und andere in Ihrer Not alleine zu lassen, um den Verfall und das Ende desjenigen oder derjenigen zu sehen, dessen Hilfe man später direkt oder indirekt benötigt. Schließlich solltet ihr nie vergessen: Selbst, wenn ihr glaubt, für euch wäre jemand überflüssig, ein anderer braucht ihn vielleicht, um euch eines Tages helfen zu können. Oder wollt ihr vielleicht behaupten, ihr wüsstest immer, wer euch eines Tages helfen wird und wen dieser für sein Leben benötigte? Wer kann schon für sich selbst sagen, welcher Hilfe er eines Tages bedarf?
Was würde euch ein kurzfristiger Erfolg nützen, wenn ihr euch letztendlich, durch diesen Erfolg, eurer zukünftigen Chancen beraubtet? Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen sollen, ist Gnade wichtiger als Vorrecht.“
Ich erschrak, denn diese letzte Aussage kam mir sehr bekannt vor.
So zögerte ich einen Moment, doch eine letzte Frage musste ich noch stellen:
„Welche Hilfe bietet denn schon ein Musiker, Schauspieler oder Künstler? Nicht jeder findet seine Begabung als Arzt, kann andere gesund pflegen, ist vielleicht in der Lage, so eine leckere Suppe für jemanden zu kochen, ist ein guter Verkäufer oder kann so ein prachtvolles Bett bauen, wie dieses, in dem ich liege. Ist man nicht mit einer falschen Begabung dazu verdammt, ehrenlos zu bleiben?“
„Aber nein!“, warf sie ein. „Was glaubst ihr, von wem sich der Tischler die Inspirationen für die wunderschönen Drechselarbeiten an diesem Bett geholt hat? Er hat sicherlich so manches Bild und viele unserer Staturen der Künstler bewundert und trillerte während seiner Arbeit fröhlich ein Lied von unseren Musikern. Die Theaterspieler und Philosophen regen uns zum nachdenken an und verhelfen uns zu besseren Entscheidungen. Ohne Freude und Inspiration kann niemand schöpferisch sein oder hätte die Kraft, anderen zu nutzen. Kunst ist nicht weniger wichtig als Wirtschaft, im Gegenteil, denn ohne Gedanken, Produktion und Dienstleistung, gäbe es nicht den Indikator Tausch. Alles ist letztendlich notwendig, wie verrückt es anfangs auch erscheinen mag. Das ist eben das Gesetzt der Symbiose, die es ohne die Vielfalt nicht gäbe.
Was würde euch ein schneller Erfolg beim Bau eines Hauses nützen, wenn ihr hierfür auf ein solides Fundament verzichtet hättet?
Was nützt euch der Gewinn einer Schlacht, wenn ihr den Krieg verliert?
Man muss das Kalb eben erst groß ziehen, bevor man es melken kann.
Vergesst nicht, Erfolg liegt in der Weitsicht und Geduld, denn kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn ihr euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt, - für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen können.“
Sie schaute mich immer noch freundlich an, lächelte und wirkte ehrlich glücklich.
Dann nahm sie meinen Teller vom Nachtschrank und verließ den Raum durch eine kleine, mit Schnitzereien geschmückte, Holztür und ging in einen anderen mir unbekannten Raum.
Eine Zeitlang starrte ich noch auf diese Tür, dann ließ ich meine Blicke im Raum umherschweifen, bis ich meine Aufmerksamkeit auf mich selbst lenkte. Ich analysierte mit einigen Bewegungen meinen Körper und kam schließlich zu dem Entschluss, dass es mir gesundheitlich eigentlich wieder recht gut ging. Plötzlich sprang die verzierte Tür auf, meine Pflegerin kam heraus und huschte, mir ein kurzes Lächeln zuwerfend, aus der Eingangstür neben dem Fenster ins Freie hinaus. Sie hatte die Tür hinter sich nicht richtig verschlossen und so öffnete sie sich wieder und ich erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende Holzveranda, deren geschwungenes Geländer eine Linie vor dem Hintergrund des grünen Waldes bildete. Der Himmel darüber war strahlend blau und die morgendliche Sonne schien mir plötzlich alle schweren Gedanken zu vertreiben.
Wie friedlich es hier war.
„Die Sonne begrüßt dich und die Türe macht für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Und so stand ich auf. Ich entdeckte neben meinem Bett frische Kleidung, die mir die Frau neben dem Bett bereit gelegt hatte. Als ich sie anzog, entdeckte ich einen kleinen Spiegel hinter dem Bett. Ich ging auf ihn zu, betrachtete mein Spiegelbild und musste erst einmal lachen. Ich sah aus, wie ein eingelaufener Cowboy in zu großen Kleidern. Ansonsten aber sehr schick. Einzig der braune Wildlederhut passte wie angegossen. Noch etwas wackelig auf den Beinen, ging ich zur geöffneten Tür.
Noch kurz bevor ich die Veranda betrat, blicke ich nach links auf ein Schriftstück, das neben der Tür angeschlagen war. Eigentlich waren es drei Schriftstücke, doch sie schienen, wenn auch in etwas unterschiedlicher Interpretation, selbiges zu zitieren und auf das gleiche Wesentliche hinzuweisen:
1) „Ich bin jetzt auf dem Weg zu dir. Ich bleibe nicht länger in der Welt, aber sie bleiben in der Welt. Heiliger Vater, bewahre sie in deiner göttlichen Gegenwart, die ich ihnen vermitteln durfte, damit sie eins sind, so wie du und ich eins sind.
Solange ich bei ihnen war, habe ich sie in deiner göttlichen Gegenwart beschützt und bewahrt. Keiner von ihnen ist verloren gegangen, nur der eine, der verloren gehen musste, damit die Voraussage der Heiligen Schriften in Erfüllung ging.
Und jetzt bin ich auf dem Weg zu dir. Ich sage dies alles, solange ich noch bei ihnen in der Welt bin, damit meine Freude ihnen in ganzer Fülle zuteil wird.
Ich habe ihnen dein Wort weitergesagt. Deshalb hasst sie die Welt, denn sie gehören nicht zu ihr, ebenso wie ich nicht zu ihr gehöre.
Ich bitte dich nicht, sie aus der Welt wegzunehmen, aber sie vor dem Bösen in Schutz zu nehmen.
Sie gehören nicht zu dieser Welt, so wie ich nicht zu ihr gehöre.
Lass sie in deiner göttlichen Wirklichkeit leben und weihe sie dadurch zum Dienst. Dein Wort erschließt diese Wirklichkeit.
Ich sende sie in die Welt, wie du mich in die Welt gesandt hast.
Ich weihe mein Leben für sie zum Opfer, damit sie in deiner göttlichen Wirklichkeit leben und zum Dienst geweiht sind.
Ich bete nicht nur für sie, sondern auch für alle, die durch ihr Wort von mir hören und zum Glauben an mich kommen werden.
Ich bete darum, dass sie alle eins seien, so wie du in mir bist, Vater, und ich in dir. So wie wir sollen auch sie in uns eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Ich habe ihnen die gleiche Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, so wie du und ich.
Ich leben in ihnen und du lebst in mir; so sollen auch sie vollkommen eins sein, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und dass du sie, die zu mir gehören, ebenso liebst wie mich.“
2) „Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.
Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkennen, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.“
3) „Ich bete für sie alle, dass sie eins sind, so wie du und ich eins sind, Vater - damit sie in uns eins sind, so wie du in mir bist und ich in dir bin und die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Ich habe ihnen die Herrlichkeit geschenkt, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, wie wir eins sind –
ich in ihnen und du in mir, damit sie alle zur Einheit vollendet werden. Dann wird die Welt wissen, dass du mich gesandt hast, und wird begreifen, dass du sie liebst, wie du mich liebst.“
Hier wurde offensichtlich ein Mann zitiert, der in dieser Welt ein Fremder war und eine Erkenntnis mitbrachte. Eine Erkenntnis, die aus seiner Sicht jeden betreffen würde. Eine Erkenntnis über eine tatsächliche Wirklichkeit, in der alles Eins wäre, in der also alles untrennbare Teile einer einzigen Einheit wären. Vielleicht waren wir zu unvollkommen in unserer Wahrnehmung, um diesen Zusammenhang zu erblicken. Wer dieses jedoch sehen konnte, der müsste zum logischen Schluss kommen, das die Einheit seine eigenen Teile eigentlich nur lieben konnte und es entsprechen sinnvoll wäre, wenn sich auch die Teile gegenseitig und diese natürlich die gesamte Einheit, lieben würden, damit die Einheit, die wir ja dann alle zusammen wären, überhaupt sinnvoll und als Ganzes funktionieren kann. Alles andere wäre logischer weise absurd. Würden zum Beispiel meine eigenen Zellen gegeneinander und gegen meinen Körper rebellieren, so würde ich krank werden und davon hätten meine Zellen schließlich auch keinen Vorteil.
Doch warum fehlte uns die Wahrnehmung für das Ganze? Warum sahen wir dann nicht, dass alles nur eins ist? Welchen Vorteil gibt es für eine Einheit, durch uns mit einer scheinbaren Vielfalt zu spielen? Wofür existiert die scheinbare Vielfalt? Dient sie, vielleicht wie Bauklötze, dem Akt der Schöpfung? Ist die Komplexität der vielfältigen Bedeutungen zwischen den Teile der Einheit so groß, dass hierin, für Teile wie uns, die Unfähigkeit begründet liegt, die Wahrheit über das Gesamte zu erkennen, was wir gemeinsam bilden?
Da ich hier drei Zitate sah, ging ich davon aus, dass diese möglicherweise als Grundlage für eine Diskussion gedacht waren.
Mir gefiel, dass sich diese Menschen mit solchen Grundgedanken auseinander setzten, denn wenn unsere Realität tatsächlich auf dieser oder einer ähnlichen Wahrheit beruhen würden, sollte dies einen bedeutenden Einfluss auf eine Überdenkung unserer Handlungsziele zur Folge haben.
Ich drehte mich wieder zur Tür, schob sie weit auf, betrat die große Veranda und atmete, erst vorsichtig und dann ganz tief, die wundervolle frische Morgenluft ein. Auf der Veranda standen ein Holztisch mit Stühlen und ein Schaukelstuhl. Außer mir, war niemand dort.
Ich stützte meine Hände auf das hölzerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die Wiese bis hin zum Wald schweifen.
„Dies, ist das Leben“, wusste ich.
Dann vielen mir laute Rufe und Gesänge auf. Irgendwoher kam Musik. Ich beschloss den Klängen nach zu gehen und stieg eine kleine Treppe von der Veranda hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den kleinen Hausweg und streifte barfuss durch den Morgentau des Grases, bis ich neben dem Haus auf einen großen Marktplatz einsehen konnte. Dieser Platz war umringt von vielen kleinen Fachwerkhäusern mit reetgedeckten Dächern. Ihre Fassaden waren mit bunten Bildern und Schnitzereien geschmückt. In der Mitte des Platzes stand ein hoher grüner Baum nebst einem großen Steinbrunnen. Auf dem Platz standen verschiedene Staturen und wunderschöne bunte Plastiken. Hinter dem Baum spielte eine Kapelle und Menschen tanzten und lachten. Einige Kinder tobten um den Baum oder Brunnen herum und spielten fangen oder saßen auf dem Baum und sangen die Lieder der Musiker mit. Andere saßen auf dem Boden und malten oder schrieben etwas in den Sand.
Ich näherte mich den Zeichnungen im Sand. Einige Kinder waren vielleicht erst vier Jahre alt, konnten aber schon schreiben und rechnen. Sie machten es ihren Eltern nach. Es war für sie eine Ehre, anderen helfen zu können und so halfen sich auch schon die kleinen Kinder gegenseitig und brachten sich alles gegenseitig bei. So wuchs bereits die Ehre der Kinder. An dem Baumstamm hing eine kleine Tafel. Ich ging hin und las, was dort geschrieben stand:
- Wichtig ist das Wohl.
- Wichtiges hat Vorrang vor Unwichtigem.
- Dringenderes hat Vorrang vor Wichtigem, solange das Wichtige nicht gefährdet wird.
- Das Wohl der Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen, sowie das Wohl des Einzelnen auch das Wohl der Gemeinschaft ist.
- Für den Einzelnen ist das Wohl der Gemeinschaft das wichtigste.
- Für die Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen das wichtigste.
- Für die Gemeinschaft ist der Einzelne wichtiger als Minderheiten und Minderheiten wichtiger als die Mehrheit.
- Ihr könnt dem anderen nur so weit ein ehrenwerter Helfer sein, wie Ihr Euch selbst Ehrenwert seid. So erlangt Eure Ehre.
- Ehre sei dem, der Gnade hat, denn Gnade ist wichtiger als Recht.
- Ehre sei dem, der anderen hilft seine einzigartigen Begabungen zu finden, welche sie auch sei, für wen sie auch sei, zum Wohle aller. Denn die Vielfalt ist das Vollkommene Ganze der unvollkommenden Einzigartigkeiten. So suchet nach der einzigartigen Begabungen jedes Einzelnen, derer jeder gebraucht wird.
- Suchet und ihr werdet finden,
- sähet und es wird wachsen,
- habet Geduld und es wird vollendet,
- bittet und es wird Euch gegeben,
- bedenket der letztendlichen Schöpfungskraft in der Symbiose.
- Vielfalt ist wichtiger als Gleichheit, denn die Symbiose der Vielfalt ist Leben.
- Vielfalt ist wichtiger als Gleichheit, denn die Symbiose der Vielfalt ist Schöpfung.
- Schöpfung ist Leben, wie Leben Schöpfung ist.
- Ehre sei dem, der die Vielfalt unterstützt, denn er unterstützt die Schöpfung.
- Ehre sei dem, der zum Wohle erschafft, denn er erschafft Leben.
- Ehre sei dem, wer von dem gibt, was er erschaffen hat, zum Wohle aller, die da Eins sind, um den Prozess der Schöpfung fortzusetzen, mehr aus uns heraus zu werden, als wir sind, im Sinne Genesis.
- Vielseitigkeit ist wichtiger als Einseitigkeit, denn sie schützt die Symbiose bei fehlender Vielfalt.
- Ehre sei dem, der die Vielseitigkeit unterstützt, denn er unterstützt die Symbiose.
- Kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn Ihr Euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt.
- Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.
- Wohl dem, der Ehre hat, denn er ist wichtig für alle.
Irgend etwas berührte mich am Bein. Ich drehte mich nach links unten und sah, wie mich ein kleines Mädchen mit sehr großen Augen neugierig ansah. Ich nutzte die Gelegenheit für ein Gespräch:
„Sind das Eure Leitlinien?“, fragte ich.
„Nein, diese sind nur unsere grundsätzlichen Absichten. Unsere Leitlinien findet ihr in der Bibliothek. Ihr könnt jedoch auch schon einige unserer Leitlinien auf der Hand eines unserer Künstler lesen.“
Sie zeigte hinter mich und ich erkannte auf dem Marktplatz einige Meter von mir entfernt eine hohe Plastik, die wie eine Hand geformt war, vielleicht, um visuell zu unterstützen, was dem Künstler bei den Leitlinien wichtig erschien. Ich ging hin, stellte mich vor sie und betrachtete die vor mir geöffnete, mehrere meterhohe, weiße Hand, deren Finger fast senkrecht in den Himmel ragten. In die Handfläche verewigte er in wunderschöner Schrift so klein, dass es fast wie eine Oberflächenstruktur der Haut wirkte, einen Teil der Leitlinien:
- Jeder von Euch ist wie je ein Finger derselben Hand, desselben Armes und des einen Körpers, der alles ist, was war, jetzt ist und immer sein wird. Er ist das einzig wahre Eine, in denen Ihr, in scheinbar getrennten Teilen, gemeinsam das Eine bildet. Dieses Eine, ist Euer Herr, Euer Gott. Ihr sollt nicht andere Götter verehren. Betet sie nicht an. Dienet ihnen nicht und lasset sie nicht gegeneinander antreten, denn es gibt nur den Einen, dessen Teil Ihr seid. So liebet ihn, wie er Euch liebt und liebet Euch selbst, wie Euren Nächsten, auf das Ihr Euch einander begegnet, wie die Finger derselben Hand, die gemeinsam (be)greifen, im Sinne des allwissenden Einen. Schadet nicht Eurem Nächsten, denn Ihr schadet einen Teil des Einen und somit Euch selbst, weil auch Ihr Teil des Einen seid. Wer aber zum Wohle anderer lebt und im Sinne des Einen handelt, der handelt zum Wohle aller, des Einen und seines eigenen Wohls. Ihm soll Wohl widerfahren.
- Das Eine ist Euer Herr, der ist, wer er ist und keines Namen bedarf. Missbrauche nicht unnützlich ihn, in seinem Namen, zu Euerm Eigennutz und behaupte nicht seine Absicht zu wissen, denn nur er weiß. So betet für Euer Wohl und um Gnade, solange es nicht zum Schaden eines anderen oder allem führe. Vertraut auf seine Weitsicht, Gerechtigkeit und Gnade, denn sie ist zum Wohl des Einen, was da alles ist und zudem Ihr selbst dazugehört, in Ewigkeit.
- Ihr sollt den Feiertag ehren, auf dass Ihr zu Euch selbst findet.
- Ihr sollt Eure Eltern ehren und ihnen Gehör schenken, so wie Ihr Eure Kinder in Ehren halten sollt und Gehör schenkt.
- Ihr sollt nicht einander töten. Ehrt alles, was für Euch starb, damit Ihr leben konntet.
- Ihr sollt nicht Eure Beziehung Verraten oder andere dazu verführen, sondern bewahrt Eure Loyalität und die Eures Nächsten.
- Ihr sollt nicht einander bestehlen. Ehrt all die, für das, was Euch gegeben wurde, damit ihr leben konntet.
- Ihr sollt nichts Falsches bezeugen, so dies zum Schaden eines Nächsten führt, sondern strebt nach Wahrheit und Klarheit, so es zum Besten ist.
- Ihr sollt nicht begehren Eures Nächsten Daseins, sein Ansehen, Position oder Leistung. Vergleicht nicht und setzt Euch nicht in Vergleich, sondern besinnt Euch auf Euer selbst, um zu werden. Denn Ihr selbst habt Großes in Euch, wie kein anderer.
- Ihr sollt nicht begehren Eures Nächsten Habens, seine Frau, Mann, Kind, Freund oder alles was sein ist. Vergleicht nicht und setzt nicht das Eurige in Vergleich, sondern besinnt Euch auf Euer Eigenes. Denn Ihr selbst könnt Großes haben, wie kein anderer.
- Ihr sollt Böses nicht mit Bösem vergelten, denn Böses gebärt nur wieder böse Kinder.
- Ihr sollt Euren Feinden vergeben, wie Euch vergeben wird, denn sie sind Kinder, wie ihr, die nicht wissen was sie tun.
- Ihr sollt die Wunder und Herrlichkeit des Lebens mit Respekt und Ehrfurcht behandeln. Zerstört nicht, was Ihr nicht begreift, denn es ist ein bedeutsamer Teil von allem, dessen Bedeutung Ihr nicht erkennt. So behandelt alles im Zweifelsfall mit Liebe, denn Ihr wisst nicht, welchen Sinn es für Euch macht. Zerstörtes, kann Eurem Nächsten und letztlich auch Euch keine Gnade bringen, wenn Ihr Gnade sucht.
- Konzentriert Euer Handeln nicht auf einen Kampf gegen das Böse, sondern konzentriert Euer Handeln auf einen Kampf für etwas Gutes.
- Denkt an die Kinder. Fahrt Eure Kutschen im Dorf langsam.
„Die letzte Aussage war sicherlich ein besonders, persönliches Interesse des Künstlers“, dachte ich mir und musste schmunzeln.
„Wisst Ihr, warum es immer heißt, Ihr sollt nicht und nicht, Ihr dürft nicht?“, fragte mich das kleine Mädchen von eben, das mir offensichtlich unbemerkt gefolgt war und mich noch immer neugierig beobachtete.
„Ähm, eigentlich nicht. Es ist mir noch gar nicht aufgefallen“, antwortete ich etwas überrascht.“
„Wenn jemand sagt, Ihr sollt etwas nicht tun, so muss es doch jemanden geben, der nicht will, dass Ihr etwas tut, nicht war?“ Ihr Augen waren wirklich groß.
Ich dachte einen Moment nach: „Klingt eigentlich logisch, ja.“
Sie setzte mit ihrer Erklärung fort und hielt dabei irgendwie niedlich ihre kleinen Hände auf ihren Hüften: „Es ist uns also nicht verboten worden, all dieses zu tun, sonder jemand wünscht sich, dass wir dieses nicht tun. Wir müssen nicht, sondern wir sollen, weil jemand es möchte. Wir sind also nicht gezwungen, sondern haben die freie Entscheidung bekommen. Wenn uns jemand etwas empfiehlt ohne uns zu zwingen und zu drängen, kann es dann böse sein?“
„Eigentlich nicht“, schlussfolgerte ich, „klingt eher fürsorglich.“
„Das denke ich auch.“, sagte sie und hatte scheinbar ihre Selbstbestätigung bekommen.
Dann drehte sie sich unerwartet um und hüpfte, wie ein kleines Pony, in Richtung des Baumes zurück. Ein kleiner Junge stürmte plötzlich hinter dem Baum hervor, schubste sie leicht und rief lachend: „Ihr seid!“ Alle Kinder strebten auseinander und das kleine Mädchen lief auch schon den anderen hinterher, um sie zu fangen.
Ich konnte mir mein breites Grinsen nicht verkneifen, während ich den tobenden Kinder hinterher schaute.
Langsam schlenderte ich vom Geschehen des Marktes weg und bewunderte im Vorbeigehen die vielen mehr oder weniger schönen Plastiken und ausgestellten Bilder. Überall gab es kleine Tafeln, Zettel und kleine Verewigungen; und wenn es auch nur ein kleines Liebesgeständnis war. Viele schien hier ihre Meinung auf unterschiedlichste Weise an die Öffentlichkeit bringen zu wollen und mit ihren eigenen Vorstellung, Stoff für Diskussionen zu liefern. Wer nicht selbst Künstler, Poet oder Philosoph war, bediente sich derer, um seine Ansichten möglichst auffällig und schön ins rechte Licht rücken zu lassen, wie ich später erfuhr. Auf einem Bild erinnerte jemand an die sieben Todsünden, während jemand anderes eine Tafel aufgestellt hatte, um Tugenden zu sammeln. An anderer Stelle stand schlicht weg, dass jemand doof sei. Letztendlich diente dies alles als Basis für die Bildung, Streichung und Veränderung der Leitlinien dieser Gemeinschaft, in der jeder äußerte, was er für das Beste hielt oder überhaupt nicht mochte und insbesondere von den drei Weisen studiert wurde.
„Hey, Fremder!“, rief mich jemand, der mir aus einer kleinen Gasse entgegenkam, „Wir brauchen Eure Hilfe. Würdet Ihr uns die Ehre erweisen?“
Es war ein großer starker Mann mit einem Strohhut auf, einem weißen Trägershirt und einer dunklen Hose, die mit einem Gürtel, weit über der Hüfte, mir viel zu hoch geschnürt erschien und deren Hosenbeine entsprechend kaum tiefer als bis zu den Knien reichte. Er lachte mich an und kam mir mit offenen Armen entgegen. Nun war es so weit, dachte ich mir und war erstaunlich freudig überrascht. Man gab mir erstmalig die Chance, die erste Ehre zu erlangen, doch ich fühlte mich nicht recht qualifiziert, was immer auch meine Aufgabe sein würde.
„Was kann ich für Euch tun?“, fragte ich zurück, „glaubt Ihr, ich kann Euch eine Hilfe sein?“
„Ich werde Euch lehren, was Ihr wissen wollt. Wir brauchen Eure Hilfe auf unseren Kartoffelfeldern.“
Uns so folgte ich ihm durch eine Gasse auf einen Feldweg und sah schließlich das erste Mal ein Kartoffelfeld. Ein großes braunes Quadrat mit kleinen grünen Pflanzen, sorgfältig in Linien aufgereiht, lag, wie hineingeschnitten, in mitten des grünen Waldes. Nur am Rand des Feldes, in südlicher Richtung, standen kaum Bäume. In dieser Richtung schien eine schwarze Sandwüste anzuschließen. Ein warmer, leicht feuchter Wind, quoll aus dem Wald heraus, kroch über den heißen Acker, strömte dann bis tief hinein in die Wüste und verlor sich schließlich in bizarrem Flimmern in weiter Ferne. Auf dem Feld waren bereits viele Menschen, die mit nacktem Oberkörper, zwischen der heißen Sonne und grünen Pflanzen, auf dem warmen Ackerboden wühlten. Dennoch schien meine Ankunft aufzufallen, so dass sie sich zwischen ihren Arbeitsschritten aufrichteten und mich fast übertrieben aufmerksam begrüßten. Schon nach kurzer Zeit stiefelte einer nach dem anderen zu mir herüber und bald erklärten mir alle, wie ich ihnen helfen könnte und sie wussten auch meine Neugier zu befriedigen. Sie ließen mich unter ihrem Gelächter erst einmal eine rohe Kartoffel essen.
Bald stand ich zwischen ihnen im Feld und packte so gut an, wie ich konnte. Alle waren sehr nett zu mir. Bis auf einige kleine Auseinandersetzungen, schien es zwischen allen sehr kameradschaftlich zuzugehen. Wie ich bald erfuhr, war der Mann mit dem Strohhut, der mich zur Kartoffelernte geholt hatte, derselbe Mann, der mich im Wald auffand und ins Dorf trug und so hatte ich die Gelegenheit, mich bei ihm zu bedanken. Alle um uns herumstehenden Menschen ehrten seine Tat mit voller Anerkennung und lobten darüber hinaus meine Offenheit, mit der ich meinem Retter öffentlich zu Ehre und Anerkennung verhalf.
Diese Ernte war für alle ein großes Ereignis. Alle freuten sich schon auf das für danach geplante große Fest, wenn das riesige Essgelage aufgefahren und reichlich Wein floss, wenn Musiker und Geschichtenerzähler, Akrobaten und Gaukler, ihr Bestes gaben und durch die Nacht, bis in die frühen Morgenstunden, getanzt und gesungen wurde. Und wer noch ohne Braut war, dem war dies vielleicht eine neue Chance, seiner Angebeteten ein bisschen oder gar entscheidend, näher zu kommen. So arbeiteten alle schwitzend und fast nackt, doch sahen sich in ihren Gedanken bereits duftend in ihren schönsten Festkleidern.
Tage und Wochen vergingen. Allmählich wurde ich mehr und mehr in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Sie teilten ihre Erkenntnisse mit mir und schließlich entwickelten sich für mich erste Freundschaften. Nein, nicht alles war schön, doch letztendlich führte ich mit ihnen ein glückliches und erfülltes Leben, voller Mysterien und Wunder, Erkenntnisse und Selbsterkenntnissen.
Ich lernte viel über ihre Lebensart, ihre Leitlinien und nicht zu Letzt, auch ein bisschen über mich selbst. Die Menschen schienen mit ihrem Leben recht glücklich zu sein. Ich weiß nicht, ob sie die beste Form des Zusammenlebens gefunden hatten. Sicherlich gab es auch andere gute Alternativen. Vielleicht konnte ihre Lebensweise auch nur funktionieren, weil hierzu die richtigen Menschen zusammenkamen, die ihren speziellen Weg gefunden hatten, in Frieden miteinander auszukommen, füreinander da zu sein und jedem eine Chance zu geben, sich so zu entfalten, wie es seiner persönlichen Art entsprach. Ich wünschte nur, dass sie sich ihre weise Lebensart erhalten könnten und hoffte, dass niemand kommen würde, ihren Frieden zu stören. Doch wer weiß, vielleicht steckte in ihnen mehr, als man vermuten würde. Ich wusste nur, dass ich von ihnen noch viel lernen konnte und dass es da noch ein Geheimnis gab, welches sie mir vielleicht eines Tages offenbaren würden.
Eines Morgens stand ich wieder neben dem Haus und blickte über die Wiese auf den Marktplatz, um mich am dortigen regen Geschehen zu erfreuen, als ich in mir eine Stimme hörte:
„Vier Wochen! Nicht ewiglich, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen.“
Meine Erinnerung hatte mich eingeholt und ich wusste, warum.
„Es ist so weit. Deine Zeit ist nun gekommen. Deine vier Wochen sind um. Komme zurück nach Hause. Kehre Heim, in den Garten Eden. Die Frist, die du dir selbst gestellt hast, ist abgelaufen. Wir erwarten dich nun voller Freude und Sehnsucht, warten gespannt auf deine Heimkehr und sind neugierig auf deine Geschichten und Erfahrungen, die du im Leben gesammelt hast. Auf das wir alle, an deinem Leben, aus deinem Munde und deiner Art, teilhaben dürfen, um durch dich und aus uns heraus, mehr zu werden, als wir sind, im Streben nach dem Paradies.“
Nun war es also so weit. Ich wusste von Anfang an, dass meine Zeit begrenzt war, doch nun, da der Moment gekommen war, viel es mir schwer loszulassen und meinen Weg wieder alleine fortzusetzen.
Und so ging ich zu denen, die mir nahe standen und die ich inzwischen so lieb gewonnen hatte. Und ich sagte ihnen, dass für mich die Zeit gekommen wäre, da ich sie verlassen müsse. Ich wollte ihnen eine Erklärung geben, doch ich wusste nicht wie, aber sie fragten auch nicht nach, denn sie spürten, dass es nicht ihretwegen war, sondern dass ich ging, weil es so sein sollte. Und sie wischten sich ihre Tränen aus dem Gesicht und gaben mir meinen kleinen Rucksack zurück. Sie füllten ihn bis oben hin mit ihrem besten Speisen, Getränken und ihren liebsten Gaben.
Eine immer größer werdende Menschenmenge versammelte sich um mich herum, um mich zu verabschieden. Dann trat für einen Augenblick Stille ein. Die Menge strebte auseinander und bildete eine Gasse. Die drei Weisen kamen höchst persönlich zu mir, um mich mit letzten Worten auf meine Reise zu schicken:
„Ihr ward ein guter Mensch“, sprach einer von den dreien, der sich nun an die Spitze der drei Weisen gesetzt hatte. „Ihr habt viel gelernt und in Euch das Gute bewahr. Eines Tages werdet Ihr verstehen, wieso Gott das Universum erschuf, was Leben ist, weshalb Ihr lebtet und wer Ihr in Wirklichkeit seid.“
Er richtete sich auf und verkündete laut mit ehrfurchtsvoller Stimme, so dass ihn jeder hören konnte:
„Wohl dem, der Ehre hat, denn er ist wichtig für alle. Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.“
Schließlich umarmten mich alle zum Abschied und wünschten mir alles Glück für meine Reise.
So ging ich meines Weges und schaute noch einige Male zurück, um den winkenden Händen und traurigen Gesichtern ein zuversichtliches Lächeln zu zuschicken. Ich beschloss nicht den selben Weg zurück zu gehen, den ich gekommen war, sondern bog nach rechts in Richtung Osten ab, so dass ich auf der anderen Seite des großen Sees meinen Heimatweg antreten würde. So trieb mich wenigstens meine Neugierde vor neuen Überraschung voran und erleichterte mir ein wenig den Abschied, während meine Gedanken doch nur schwer von ihnen zu lösen war:
„Kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn Ihr Euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt“, erinnerte ich mich.
Ich schaute auf den Boden und sah wieder, wie sich meine Füße abwechselnd in meinem Sichtfeld begrüßten und wieder verabschiedeten.
„So wie dieses wohl wahr ist, so gilt es aber auch im umgekehrten Sinne“, dachte ich mir. „Alle Misserfolge sind bedeutungslos, wenn du letztendlich Erfolg hast.“
„Ja“, sagte ich mir, „diese Letzte Erfahrung in meinem Leben, war eine schöne Erfahrung:
Ich habe es verdient, mit ruhigem und stolzem Gewissen, den süßen Geschmack der erfolgreichen Vollendung des Ganzen zu genießen und mich feiern zu lassen. Was können mich alle schlechten Erfahrungen und kurzfristigen Misserfolge der Vergangenheit noch kümmern, wenn mir doch letztendlich die gute Erfahrung, eines über alles übertrumpfenden Schlusserfolges, zuteil wurde. Ich hatte ein erfülltes Leben, fand und gab Liebe, Anerkennung und Freude. Letztendlich hatte ich Erfolg und alle meine Ängste vor der Ungewissheit waren unbegründet. Die Party soll man verlassen, wenn sie am besten ist und ich habe vieles dazu beigetragen, dass diese Party so gut gelungen war. Sie werden sich an mich erinnern und sie werden immer meine Freunde sein.
Nun habe ich sogar wieder ein neues Ziel vor Augen.
Außer meiner Angst, gibt es auch dieses Mal keinen Grund, dass jenes Ziel mein Letztes sein sollte. So will ich auch jetzt zuversichtlich meiner Hoffnung sein, so schwer es mir vielleicht auch fallen mag, denn ich habe allen Grund auf das zu vertrauen, was da kommen mag, mutiger, den je. Ich habe das Spiel des Lebens gewonnen! Und wo mancher von euch vielleicht noch unsicher und schwach ist, bin ich schon sicher und stark, wie nie zuvor, so dass ich euch eine Hilfe sein kann. Dies ist nicht das Ende! Dies ist mein Weg zur Siegerehrung, ein Zwischenstop nach einer erfolgreich abgeschlossenen Etappe, vor einem nächsten Anfang! Und ich gehe jetzt, um meine bestandene Prüfung zu feiern. Nun seid ihr dran, es mir gleich zu tun und meine Hilfe an euch, wird meine Ehre wachsen lassen.
Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen. Wohl dem, der Ehre hat, denn er ist wichtig für alle.“
„Die Sonne begrüßt dich und Deine Hoffnung macht für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Und so genoss ich meine Heim- und Siegesreise durch den Wald des Lebens, auf dem Weg zu dem goldenen Tor des Garten Edens, um mich wie ein Held, feierlich empfangen zu lassen.
Veränderung in Eden
Die Heimkehr
Ich sah auf meinem Heimatweg durch den Wald noch viele weitere Dörfer. Die Menschen in ihnen hatten jeweils andere Lebensarten und Überzeugungen. Manche Menschen waren von ihrer überzeugt und glücklich, andere wussten jedoch noch nicht einmal, was Glück überhaupt ist. Vielleicht konnten sie es nicht wissen, vielleicht wollten sie es aber auch nicht wissen.
Ich erreichte bald die nördliche Waldgrenze und betrat die Tundra. Die Sonne schien hoch und leichter warmer Wind strich über die Wiesen. Vor mir lag nun wieder die weite Ebene. Nichts würde mich jetzt noch von meinem Ziel ablenken können und so marschierte ich alleine durch diese weite Stille dem goldenen Tor des Garten Edens entgegen. Ich durchquerte die Wüste. Als ich schließlich in die Nähe des Tores kam, öffnete sich dieses und vier Frauen traten heraus, um mir zu Hilfe zu eilen. Aber ich brauchte ihre Hilfe nicht, denn ich war stark geworden.
Die „Lumpen“, die wie immer vor dem goldenen Zaun kauerten, weiteten ihre Sehschlitze um mich besser zu erkennen. Die „Jungvögel“ hinter dem Zaun schauten zu mir herüber, schnatterten immer lauter und wurden bald so hektisch, als hätten sie einen Geist gesehen. Ich durchschritt das goldene Tor und war plötzlich von unglaublich vielen weißen Frauen umringt und es wurden immer mehr. Eine machte den Anfang und dann waren sie nicht mehr zu bremsen. Sie stellten schneller ihre Fragen, als ich sie beantworten konnte: Wie das Leben sei, was ich erlebt habe, warum ich so aussah, wo ich überall war. Bald wurde es so laut, dass ich mein eigenes Wort nicht verstehen konnte und musste nach einigen vergeblichen Versuchen, allen eine Antwort geben zu wollen, einfach nur noch laut lachen. Es fiel mir nun das erste mal auf, wie schön diese schlanken Damen waren. Sie hatten alle weiche, freundlich, offene, ja geradezu kindlich niedliche Gesichtszüge. Einige waren hochgewachsen und andere possierlich klein. Ihre weißen Gewänder waren so fein und dünn, dass man die Silhouette und ihre weiche weiße Haut ihres Körpers leicht durchschimmern sehen konnte. Sie wirkten auf mich zugleich niedlich, wie auch sexy. Diesen Eindruck bestärkten auch noch ihr Verhalten: Jede von ihnen versuchte, möglichst als erstes, ihre vielen Fragen von mir beantwortet zu bekommen. Dabei drängelten sie sich abwechseln nach vorne und schoben dabei die anderen nach hinten. Was für ein Kampf. Für einen unbeteiligten hatte das natürlich eine gewisse Komik, aber ich fühlte mich sehr geehrt und war glücklich, wieder zu Hause zu sein. Und dieses sah jemand anderes scheinbar genauso:
Zwischen dem Gewimmel sah ich etwas, dass unerwartet meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Beim Anblick meines verwunderten Gesichtes verschlug es den Kronen der Schöpfung wenigstens für einen kurzen Augenblick die Sprache. Auf dem Boden sitzend, mit dem Rücken an das geöffnete goldene Tor gelehnt, saß ein junger, gebräunter Mann in Cowboykleidung. Er schaute mich mit seinen stahl blauen Augen, aus seinem zerfurchten Gesicht, an und grinste frech aus dem Dreitagebart. Dann hob er seine Hand und tippte mit zwei Fingern lässig an die Krempe seines Hutes, wie sich nur Cowboys untereinander begrüßten. Ich grüßte ihn symbolisch auf gleiche art und weise zurück. Als ich mir flüchtig die schweigenden und fragenden Gesichter um mich herum ansah, wurde mir schnell klar, dass außer uns niemand verstand, was dieses Zeichen bedeutete. Nur wir wussten die Bedeutung, denn er war wie ich, einer aus dem Leben.
Die Meute hatte sich beruhigt.
Ich ergriff sogleich meine Chance und begann meine Geschichten und Erfahrungen aus dem Leben zu erzählen. Ich bemühte mich alles zu erklären, so gut ich konnte. Doch alles was ich erklärte, entpuppte sich augenblicklich für sie als ein neues Rätsel. Schon häuften sich die Fragen binnen kurzer Zeit schneller, als ich mit Antworten aufklären konnte. Es fiel mir zunehmend schwerer Gleichnisse zu finden, an derer sie mich noch verstehen konnten. Manchmal verstand ich ebenso wenig ihre Fragen, wie sie meine Antworten. Es war, als ob man einem von Geburt aus Blinden, Farben erklären wollte. Es war wie ein Gespräch zwischen einem Tauben und einem Blinden.
Wir debattierten bald nur noch über Begrifflichkeiten. Das Thema, worüber wir eigentlich sprechen wollten, verlief sich im Sande. Worüber wir sprachen, hatte nichts mehr mit dem Leben zu tun. Allmählich wurde mir klar, dass wir inzwischen zu verschieden waren und sich zwischen unser Andersartigkeit ein großer Graben zog. Wir drehten uns „im Kreis“.
Es war nicht mehr nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, etwas zu sagen, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.
Entmutigt löste sich die Gruppe um mich herum auf. Mit gesenkten Köpfen streuten die weißen Gestalten in alle Richtungen auseinander. Es gab für sie nun mehr Fragen, als Antworten und mehr Verständnislosigkeit als Verständnis. Sie waren in ihrer Hoffnung wieder einmal enttäuscht, weil sie die Hoffnung nicht erkannten.
Der Cowboy war schon vor langer Zeit gegangen. Wahrscheinlich wurde er vor meiner Ankunft, bei seiner Rückkehr in den Garten Eden, genauso umringt und mit Fragen konfrontiert, wie ich. Und wahrscheinlich gelang es ihm ebenfalls nicht, den Menschen im Garten Eden, dass Leben verständlich zu beschreiben. So erhofften sich die Edenbewohner von mir die Antworten, die der Cowboy ihnen nicht begreiflich machen konnte – doch vergebens. Manche Dinge muss man wohl einfach erleben, um sie zu verstehen, damit Worte Bedeutung erhalten.
So stand ich nun wieder alleine auf dem weißen Marmorweg, zwischen dem grünen kurz geschorenen Gras und der hügeligen weiten Landschaft. Hinter mir fielen die goldenen Pforten ins Schloss. Die „Jungvögel“ saßen noch immer aufgereiht am Zaun und starrten mit herabgefallenen Kinnläden zu mir herüber. Die „Lumpen“ hatten sich von außen an das Gatter gepresst und gafften durch die Gitter, wie Affen aus einem Käfig.
Es war so still, dass man ihre im Wüstenwind flatternden Umhänge und Tücher hören konnte. Erst jetzt merkte ich, wie meine kleinen körperlichen Gebrechen verschwanden und sich meine leichten Dauerschmerzen, an die ich mich mittlerweile gewöhnt hatte, allmählich auflösten. Ich spürte wieder meine körperliche Leichtigkeit und begann über den weißen Marmorweg in Richtung Villa, gen Norden, zu schweben. Wie im Traum zog die grüne Landschaft an mir vorbei und ich folgte dem Schatten zu meinen Füßen, hin zu jenem mir vertrauten Ort, wo ich einen alten Mann zwischen einem Zierbrunnen und einem Apfelbaum wiedersehen würde.
Still schwebte ich zwischen den grünen Hügeln auf dem Weg des Lichts.
Und da erblickte ich ihn wieder, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können. Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.
Ich beschloss zu ihm zu gehen, verließ den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch das kurze Gras, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Eine Zeitlang verweilte ich still neben ihm. Dann unterbrach er die erdrückende Stille und sprach leise:
„Du hast also den Weg in den Wald gefunden?“
„Ja, das habe ich“, gab ich spartanisch zurück.
Der alte Mann schaute mich mit einem stechenden Blick tief in die Augen:
„Ist es etwa anders, als ich sagte: Dort erwartet dich Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden.“
„Ja, das ist die eine wahre Seite des Lebens“, bestätigte ich.
„Am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung? Bleibst du nun hier und hältst fest, was du hast?“, setzte er fort.
Ich schaute ihn fragend an:
„Habe ich es denn nur drei Tage ausgehalten, kam auf allen Vieren zurückgekrochen, am Ende meiner Kraft, gebrochen mein Herz und müde der Hoffnung?
Du und ich, wir sind uns jeweils selbst begegnet. Dir hat es nicht gefallen.“
Der Apfel
Wir pflückten wieder beide einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt. Er war süß, saftig und außergewöhnlich lecker.
Oh, wie ich den Apfel genoss.
„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.
Das Wasser
Alsbald trank wir beide vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt. Es war kristallklar, kalt und frisch.
Oh, wie ich das Wasser genoss.
„Schau dir das an!“, klang es dumpf in scheinbar weiter Ferne.
Der Grashalm
Ich legte mich auf das weiche kurze Gras, genoss diesen wundervollen Blick über die Landschaft, und versank im angenehmen Halbschatten der Blätter in meine Gedanken.
„Ein abgebrochener Grashalm!“, tönte es zu mir herüber.
„Ja“, dachte ich mir, „es gab Dinge, die wir unterschiedlich sahen. Ich hatte mich verändert.“
Schöpfung in Eden
Ich stand auf und verließ wortlos den alten Mann. Nach etwa 200 Metern kam ich wieder auf den Marmorweg. Dieses Mal überquerte ich ihn jedoch und betrat den dahinterliegenden Rasen, auf der Ostseite des Weges, dort, wo die Sonne jeden Morgen den Tag einleitet.
Vielleicht tat ich es nur, weil ich der Vergangenheit nachtrauerte. Vielleicht wollte ich aber auch etwas verändern, etwas erschaffen. Ich erinnerte mich an mein Leben, wünschte mir eine Harke und begann mit dieser kleinen Harke, mitten auf der weiten Rasenfläche, einige hundert Meter vom Weg entfernt, einen kleinen Acker zu pflügen.
Natürlich hätte ich mir, statt einer Harke, auch gleich einen Acker wünschen können, darum ging es mir aber gerade eben nicht. Es ging mir um das eigene Erschaffen und nicht um das Haben, denn das wahre Sein steckt im Werden, so wie das wahre Werden im Tun steckt.
Ich spürte die Lust am Tun und die Vorfreude auf etwas Neues. Ich wusste, was es bedeutet, den Geschmack des eigenen Erfolges genießen zu können. Ich mühte mich redlich, ohne effektiv zu sein, aber dieses war mir in diesem Moment nicht wichtig. Ich war nahe bei mir selbst und versank, im Versuch der Einsamkeit zu entfliehen, in meiner Arbeit. Mit nacktem Oberkörper, wie damals im Dorf, wühlte ich kontinuierlich, Zentimeter um Zentimeter, im Boden. Ich genoss das mir vertraute warme Gefühl, wenn die Sonne den Rücken erwärmt und man über seinem eigenen Schatten gebückt, einer schier endlosen Tätigkeit nachgeht, bei der es nicht auf Schnelligkeit, sondern auf Durchhaltevermögen ankam und man seine Kräfte für eine lange Zeit einteilen musste. Mir lief der Schweiß von Rücken, Achseln und Stirn. Leichte Windbriesen ließen manchmal die Schweißtropfen auf meinem Körper verdunsten und spendeten mir somit etwas Kühle. In der Monotonie meiner Bewegungen, in Gedanken vertieft, verfolgten mich die alten Lieder des Dorfes und ich begann zu singen, erst zaghaft leise und dann immer lauter. Es interessierte mich nicht, was irgend welche Passanten über mich denken könnten, die mich vom weit entfernten Weg, mitten auf einer grünen Wiese, einsam arbeiten sahen und vielleicht über mein absurd erscheinendes Verhalten den Kopf schüttelten. Sie waren weit entfernt. Niemand war in meiner Nähe. Ich war ganz für mich alleine.
„Brauchst du Hilfe?“, sprach mich jemand an, der unmittelbar hinter mir stand und schreckte mich damit unerwartet aus meinen Gedanken auf.
Ich drehte mich um. Es war der Cowboy, den ich am Tor gesehen hatte. Ich musste in meinen Gedanken so vertieft gewesen sein, dass ich seine Ankunft nicht bemerkt hatte. Wir blickten einander in unsere Augen und begannen beide zu grinsen.
„Du machst das ganz falsch!“, mischte er sich ein, „Lass mich mal ran.“
Er nahm einen Spaten und wendete erst einmal den Rasen: „Wie groß soll’s denn werden?“
„Meinst du, Fußballfeldgröße würde für den Anfang ausreichen?“, witzelte ich und fuchtelte energisch mit meine kleine Harke in der Hand.
„Na dann mal los. Jeder an einer Seite!“, lachte er zurück und zeigte in eine virtuelle Ecke des geplanten Ackers.“
Und so gruben, pflügten und säten wir unseren ersten Acker. Einige Passanten gingen kopfschüttelnd an uns vorbei und belächelten unser Tun. Nach einigen Tagen war unser Werk jedoch vollbracht. Wir erfreuten uns an unserem Schaffen und warteten nun gespannt auf die ersten Triebe. Und was soll ich sagen, es war natürlich ein Kartoffelfeld!
Ich saß mit dem Cowboy am Rand unseres Feldes und tranken ein Bier, als ein Teenager auf uns zukam.
„Kann ich mitmachen?“, sagte er etwas scheu und äußerst neugierig.
Der Cowboy und ich schauten uns an.
„Klar, warum nicht?“, schmunzelte ich den Jungen an und nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche.
„Können meine Freunde auch mitmachen? Wir wissen, wie man Tomaten anpflanzt.“
Ich war so verblüfft, dass ich mich fast am Bier verschluckte. Unsere kleine Aktion, die von den Edenbewohnern nicht verstanden wurden, fand plötzlich Anhänger, die unsere Ziele sogar übertrafen. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Bald kamen dann auch ihre Eltern. Die brachten dann wiederum ihre Freunde mit und weiter ging es dann mit Bekannten bis schließlich auch Fremde neugierig unserem Treiben beiwohnten und letztendlich mit anpackten. Es wurden immer mehr. Sie alle hatten das Leben erlebt, so wie der Cowboy und ich. Jeder hatte etwas aus dem Leben mitgebracht und wusste etwas, was ein anderer nicht wusste. Und obwohl jeder so unterschiedliche Erfahrungen gemacht hatte, sprachen wir dennoch die selbe Sprache. Wir verstanden uns und wussten, warum wir dies alles taten. Wir ergänzten uns. Seltsam, dass mir die Menschen aus dem Leben früher nie aufgefallen waren. Ohne es zu ahnen, hatte ich scheinbar einen Stein ins rollen gebracht.
Bald hatten wir ein Tomatenfeld, Kartoffeln, Auberginen, Erdbeeren, Bohnen, aber auch Sonnenblumen, Rosen und viele andere wunderschöne Zierpflanzen, welche die Ostseite des Garten Edens schmückten und unsere Heimat erblühen ließ.
- Suchet und ihr werdet finden,
- sähet und es wird wachsen,
- habet Geduld und es wird vollendet,
- bittet und es wird Euch gegeben,
- bedenket der letztendlichen Schöpfungskraft in der Symbiose.
Wir arbeiteten und feierten, redeten und erschufen, immer voller Ideen und unbändigem Tatendrang. Und wenn einmal nicht ein großes Fest geplant war, um irgend einen kleinen Erfolg des Tages oder des Monates zu würdigen, saßen wir Abends am Feuer und erzählten uns die vielen Geschichten aus unserem Leben.
Zwiespalt in Eden
Eines Tages, ich arbeitete gerade einmal wieder auf meinem Kartoffelfeld und grub, am Rande des Feldes, dicht am Marmorweg, Kartoffeln aus, stand ein hagerer, weißer, Mann neben mir und beäugte kritisch mein Tun. Erst schenkte ich ihm nur einen flüchtigen Blick, doch dann bemerkte ich überrascht, wer da neben mir stand und konnte es kaum glauben.
Es war der alte Mann!
Er hatte sich tatsächlich das erste Mal von seinem Platz zwischen dem Zierbrunnen und dem Apfelbaum entfernt und stand nun neben mir.
„Das sind also Kartoffeln?“, fragte er mich, nahm sich eine von den ausgebuddelten Großen und hielt sie vorsichtig jonglierend zwischen seinen Fingerspitzen.
„Ja, die kann man essen und schmecken köstlich“, sagte ich, als mir plötzlich bewusst wurde, was ich damit angerichtet hatte.
Und schon packte er die Kartoffel und biss in diese ebenso kräftig hinein, wie er es ansonsten mit Äpfeln zu tun pflegte. Das Gesicht hättest du sehen müssen. Ich wusste gar nicht, dass er zu solchen Grimassen fähig sein würde. Eigentlich wollte ich ja nicht lachen, aber um so mehr ich versuchte, mein Lachen zu verkeifen, des so weniger gelang es mir.
„Ich verstehe einfach nicht, was das alles soll!“, sprach er erbost. „Was ihr hier macht ist doch lächerlich!“
Der alte Mann bluffte mal wieder mit einer arroganten Maskerade und ging zeternd zurück in den Westen, zurück zu seinem Platz, zu seinem Baum und seinem Brunnen.
Ich wollte ihn noch zurückhalten, ihm alles erklären und zu einem anderen Male einladen, aber er lehnte ab und ließ mich stehen.
„Vielleicht kam er gar nicht zu uns, um sich ein Bild zu verschaffen, sondern nur, um eine Bestätigung seines eigenen Bildes zu erhalten“, dachte ich mir.
Ich schaute ihm hinterher und konnte in der Entfernung erkennen, wie er seinen Platz erreichte. An seinem Brunnen wurde er bereits von anderen Edenbewohnern so interessiert empfangen, dass er augenblicklich in der Mitte eines ihn umrandenden Pulks verschwand.
Sie standen im Halbschatten der Baumkrone, im Schutze des Blätterdaches vor der hochstehenden Mittagssonne, und ich vernahm dumpf ihr angeregtes palavern. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.
So hatte der alte Mann nun also einen weiteren Grund gefunden, worüber er sich ärgern würde. Waren bis dato nur die für ihn schlechten Äpfel, der kaputte Brunnen und die zerbrochenen Grashalme ein Grund des Ärgernisses, kamen nun die Menschen, die mit „idiotischen“ Einstellungen aus dem Leben zurückgekommen waren, hinzu.
Und so, wie sich die Lebensmenschen gefunden hatten, um etwas gemeinsam aufzubauen, fanden sich nun auch die Edenmenschen, um gemeinsam Gutes zu ignorieren und sich über alles zu ärgern.
Aber wenn man den vermeintlich besten Platz nicht verlässt, ja, wenn man Eden nicht verlässt, weil man davon überzeugt ist, es gäbe keinen besseren, wird dann nicht der vollkommende Platz zum vollkommenden Gefängnis? Niemand sah eine Mauer, die sie daran hinderte zu gehen, aber ich glaube, es gab eine Mauer, - in ihnen. Eine Mauer der Angst.
„Angst führt zu Wut, Wut führt zu Hass und Hass zu unsäglichem Leid.“
Der Marmorweg entwickelte sich zunehmend zu einer Grenze zwischen denen im Osten, die das Leben kennen gelernt hatten und sich mit großer Hoffnung der Schöpfung widmen wollten und denen im Westen, die sich gegen das Leben sträubten und eine Existenz zwischen Angst und Erbitterung führten. Der Marmorweg wurde somit zur Grenze zwischen Lebemenschen und Edenmenschen, zwischen Lebewesen und Edenwesen.
Immer seltener kam einer von ihnen zu uns und immer seltener ging einer von uns zu ihnen.
Dennoch, einen Rest von Neugierde und Zweifel, konnte sich beiden Seiten erhalten. Und solange sich der dunkle Mantel der Ignoranz nicht vollständig über die Wahrheit gelegt hatte und Existenz zur Stagnation verdammen würde, gab es Hoffnung für alle:
Die vier Burschen
Eines Tages standen vier Edenwesen vor mir. Es waren junge Burschen mit bleichen Gesichtern, wie es für die Edenwesen typisch war. Sie trugen kleine Rucksäcke auf dem Rücken und grinsten mich fragend an.
„Würdest Du uns in Leben begleiten?“, sprach mich einer der Vier an.
Ich schaute auf das Feld und sah die reifen Früchte, die darauf wartete, von mir geerntet zu werden. Es drängte mich meine Arbeit zu Ende zu führen. Nein, ich wollte nicht gehen. Doch ich erinnerte mich plötzlich an meine eigenen Worte, die wie eine Stimme eines anderen Diskussionspartners in meinem Kopf zu mir sprach:
„Wenn man den vermeintlich besten Platz nicht verlässt, ja, wenn man Eden nicht verlässt, weil man davon überzeugt ist, es gäbe keinen besseren, wird dann nicht der vollkommende Platz zum vollkommenden Gefängnis?“
Und ich fragte mich, ob es in mir vielleicht tatsächlich eine Mauer der Angst geben würde.
„Bin ich letztendlich selbst träge geworden, gefangen wie der alte Mann, der an dem festhielt, was er hatte? Aber warum sollte ich gehen? Schon bald könnte ich die Ernte einfahren und könnte in kürzester Zeit wieder meinen Erfolg genießen,“ argumentierte ich dagegen.
„Kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn Ihr Euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt“, schoss es mir dann durch den Kopf und mein innerer Diskussionspartner konterte weiter: „Wichtiges hat Vorrang vor Unwichtigem. Dringenderes aber hat Vorrang vor Wichtigem, solange das Wichtige nicht gefährdet wird. Wichtig ist das Wohl. Das Wohl der Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen, sowie das Wohl des Einzelnen auch das Wohl der Gemeinschaft ist.“
„Natürlich konnten andere meine Arbeit fortführen“, gestand ich mir ein, „aber hier standen Edenwesen, die mein Tun und meine Art immer arrogant verspottet hatten und offensichtlich sind sie immer noch zu feige, es uns gleich zu tun, mutig den Weg zur Selbsterkenntnis alleine zu beschreiten.
Sie halten sich wohl für sehr pfiffig“, dachte ich mir. „Statt sich der Gefahr auszusetzen, unwissend die unvorhersehbaren Konsequenzen ihrer Entscheidungen glücklich akzeptieren zu können oder tapfer tolerieren zu müssen, halten sie es für bequemer und sicherer, sich meines Lebens zu bedienen.
Es kommt doch nicht alleine darauf an, alles richtig zu machen, um Erfolg zu haben. Verstehen sie nicht, dass es wesentlich ist, über sich selbst hinauszuwachsen?
Ist hiefür nicht die Auseinandersetzung mit unsere eigenen Angst, unserem Mut, Tapferkeit, Ideen und Entscheidungen das Wesentliche? Es geht um die Auseinandersetzung mit sich selbst, noch bevor man durch sein Handeln das Tor in die Welt der Ungewissheit durchschreitet, um letzten Endes, mit der Konsequenz seiner Selbstrefflektion, konfrontiert zu werden.
Wenn ich für sie mutig wäre, blieben sie feige, ohne es jemals für sich zu erkennen.
Wenn ich es ihnen leicht machte, würden sie nie lernen, was schwierig ist.
Solange ihnen ausnahmslos nur Gnade widerführe, könnten sie den Wert der Gnade nicht begreifen. Für sie wäre Leichtigkeit normal und selbstverständlich und somit ohne jeden Wert. Sie würden selbst in meiner Hilfe, die ich ihnen gebe, keinen Wert erkennen können, denn wenn ihnen alles leicht erschiene, verständen sie nicht, dass sie es leicht hatten, weil es ihnen leicht gemacht wurde. Anstatt zu verstehen, welchen Vorzug sie genossen, würden sie weiterhin auf mich, und alle die es schwer hatten, herabsehen. So könnten sie weder den Geschmack des eigenen Erfolges erfahren, noch Gnade zu schätzen wissen.
Wie sollen sie erfolgreich sein, wenn sie ihren Erfolg, von den der anderen, nicht unterscheiden können?
Wie sollen sie jemals Gnadenvoll sein, wenn sie den Wert von Gnade nicht zu schätzen wissen?
Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.“
Doch mein zweites Ich ließ nicht locker:
„Ehre sei dem, der anderen hilft seine einzigartigen Begabungen zu finden, welche sie auch sei, für wen sie auch sei, zum Wohle aller. Denn die Vielfalt ist das Vollkommene Ganze der unvollkommenden Einzigartigkeiten. So suchet nach der einzigartigen Begabungen jedes Einzelnen, derer jeder gebraucht wird.“
„Sie haben es den anderen schwer gemacht. Sie sind feige, wie die Lumpen, die im nachhinein Dinge behaupten, die sie nicht verstanden haben. Und wieder gäbe ich ihnen nur einen Grund mehr, genau die zu verachten, von deren Mut sie profitieren. Soll ich das vielleicht auch noch unterstützen?“, wiedersprach ich mir selbst.
„Konzentriert Euer Handeln nicht auf den Kampf gegen das Böse, sondern konzentriert Euer Handeln auf den Kampf für etwas Gutes. Ehre sei dem, der Gnade hat, denn Gnade ist wichtiger als Recht.“
Die vier Burschen schauten mich sehr hoffnungsvoll an und warteten immer noch geduldig auf eine Antwort von mir. Einer der Jungen lächelte mich auffordernd mit so großen treuen Augen an, dass es mir fast unmöglich war, ihnen ihre Bitte abschlagen zu können. Scheinbar war es wirklich ihre Absicht, das Leben unbedingt kennenlernen zu wollen. Sie wirkten neugierig und entschlossen, nur etwas ängstlich. Vielleicht fehlte ihnen nur ein kleiner Schubs für einen gelungenen Start ins Leben.
Und verweilte ich nicht schon lange genug in Garten Eden? Hatte ich den Sinn des Lebens vielleicht vergessen? Glaubte ich etwa schon genug zu wissen? Ich rang mit mir selbst. Schweren Herzens fühlte ich jedoch tief in meinem Inneren, dass es kein Zufall war, dass ausgerechnet ich aufgefordert wurde, erneut ins Leben zu gehen. Seltsam auch, dass es ausgerechnet Edenwesen und keine Lebewesen waren, die mich ins Leben drängten. Damit hatte ich am allerwenigsten gerechnet.
Ja, es geht um die Auseinandersetzung mit sich selbst, noch bevor man durch sein Handeln das Tor in die Welt der Ungewissheit durchschreitet. Es ist unwichtig, alles richtig zu machen. Es ist wesentlich, über sich selbst hinauszuwachsen. Und dieses gilt besonders für mich. Es ist also mal wieder Zeit für mich, zu gehen. Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.“
Und so wandte ich mich zu den jungen Burschen und willigte ein:
„Ihr habt recht“, sprach ich zu ihnen. „Es ist wieder Zeit für mich, den sicheren Garten Edens zu verlassen und euch ein Stück des Weges ins Leben zu begleiten. Aber ich sage euch, es wird der Zeitpunkt kommen, an dem wir uns trennen werden und jeder von uns, auf sich alleingestellt, seinen eigenen Weg gehen muss. Vier Wochen, nicht ewiglich, aber vier Wochen wollen wir durchhalten. Wenn ihr den Mut habt, treffen wir uns morgen Früh auf der Terrasse und beschreiten dann gemeinsam den Weg ins Leben.“
Die Jungs strahlten mich an, bedankten sich, drehten sich um und gingen gemeinsam über die grünen Hügel hinweg, bis sie schließlich hinter einer Bergkuppe verschwanden. Mir war klar, dass ich dieses Mal im Leben weiter gehen müsste, als je zuvor und mir niemand folgen könnte. Nur so ergab es Sinn. So sollte es sein.
Und so, wie ich mit meiner Entscheidung das Eine beendete, um etwas Neues zu beginnen, endete auch dieser Tag für einen neuen Morgen. Und die rote Abendsonne versank im Westen der Edenwesen und löschte, am Ende ihrer Reise, ihr warmes Licht.
Das dritte Leben
Der Morgen
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Wie immer, wachte ich, geblendet vom gleißend hellen Licht, der durch die großen Fenster kommenden Sonnenstrahlen, in der Villa auf. Ruhig und entspannt stand ich barfuss auf dem angenehm kühlen weißen Marmorboden in meinem weißen, leichten Gewandt. Ich senkte meinen Blick aus dem Helligkeit und meine Augen gewöhnten sich an die Lichtverhältnisse. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und füllte den Raum voller Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet. Die Vögel zwitscherten. Eine Flügeltür war leicht geöffnet und eine lauwarme Windbriese ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.
„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Wie immer, ging ich an dem Raum der palavernden Menschen vorbei, betrat durch die geöffnete Tür die weiße Marmorterrasse und atmete tief die frische Morgenluft ein. An einigen Tischen auf der Terrasse saßen wieder vereinzelt Menschen und frühstückten oder genossen einfach nur den weiten Blick über den grünen Garten.
Aufbruch der Gemeinschaft
Die Jungs waren tatsächlich alle gekommen. Sie saßen gemeinsam an einem der Tische und schauten über die Landschaft von Eden. Ich ging auf sie zu und begrüßte sie:
„Nun ist es so weit. Lasst uns ins Leben gehen.“
Fast heimlich, zogen sie ihre kleinen Rucksäcke unter ihrem Tisch hervor und schnallten sie sich auf ihren Rücken, während sie hastig ihren Platz verließen und mir die Treppen in den Garten folgten. Der alte Mann stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem Zierbrunnen. Er schaute zu uns herüber und schüttelte wieder mit dem Kopf. Die Jungs schlichen mir in geduckter Haltung hinterher und hofften somit wohl unbewusst, sich den strengen Blicken der Edenwesen entziehen zu können, die uns grimmig von ihren Wiesen im Westen fixierten. Die Lebewesen der Ostseite winkten uns jedoch aufmunternd zu und wünschten uns alles Glück für unsere Reise. Die Burschen und ich schwebten weiter über die weißen Marmorfliesen in Richtung des goldenen Tores. Wir waren dieses Mal nicht ganz alleine auf unserem Weg. Vereinzelnd begegneten wir anderen Wanderern, die uns braun gebrannt, wahrscheinlich aus dem Leben, entgegenkamen. Einige einzelne Gestalten bewegten sich in kontinuierlicher Distanz vor uns, verschwanden und erschienen immer wieder hinter Hügeln und Bäumen und marschierten, vermutlich wie wir, zu den Pforten von Eden. Je weiter wir kamen, desto aufrechter gingen nun die vier Burschen, bis sich einer von ihnen sogar traute, ein kleines Lied zu pfeifen.
Wir überquerten den Pass und näherten uns den goldenen Pforten von Eden. Die Jungen waren sichtlich beeindruckt, als sich die prunkvollen Tore öffneten, die weißen Frauen Spalier standen und sie die schnatternden „Jungvögel“ vor dem Gitter, wie auch die flatternden „Lumpen“ dahinter erspähten.
„Die Sonne begrüßt euch und die Tore machen für euch den Weg nach draußen frei. So folgt der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Meine Begleiter zögerten einen Moment, als sie die wüste Welt hinter den goldenen Gattern des Garten Edens erblickten und schauten mich verunsichert an.
Ich blickte in ihre fragenden Gesichter und gab mein Bestes, sie auf das Leben vorzubereiten:
„Wenn wir das Leben betreten, werdet ihr das erste Mal euer wahres Gewicht spüren. Erschreckt euch nicht. Die Luft ist heiß und staubig. Atmet durch die Nase ein. Der Wind droht euch umzukippen. Geht vorsichtig, Schritt für Schritt und achtet, worauf ihr eure verletzlichen Füße setzt. Aber das wichtigste: Was auch passiert, dreht euch nicht um. Niemals! Oder ihr erstarrt gleich wohl einer Salzsäule. Schaut immer nach vorne! Wenn ihr durch dieses Tor geht, vergesst den Garten Eden oder ihr verlasst ihn nie! Seid ihr bereit?“
Die Burschen nickten und holten noch einmal tief Luft, als wollten sie tauchen gehen. Dann schritten wir über die Schwelle des Tores und betraten die schwere Wirklichkeit, unter sandigem Wind und brennender Sonne, in der Wüste.
Wir kamen nur langsam vorwärts. Ich wartete auf sie und hoffte nur, sie würden den ersten Tag tapfer überstehen. Aber sie kämpften gut und taten alles, um zu leben. Ich wusste, es würde ihnen eines Tages leichter fallen, sich mit den Naturgesetzen des Lebens zu arrangieren und die Neugierde in ihren Augen versprach Hoffnung auf ein erfülltes Leben.
Unsere erste Nacht verbrachten wir in der Tundra und ich sammelte etwas Gras und kleine Stöckchen für unser erstes kleines Lagerfeuer. Am Nächsten Morgen fanden wir Wasser und gelangten schließlich in den Wald. Sie kletterten auf Bäume, um Äpfel zu pflücken und ich sammelte für uns Pilze. Ich führte sie zum See und brachte ihnen das Fischen bei. Sie lernten nicht nur von mir, sondern auch ich lernte von ihnen, denn ihre Sicht, die Dinge zu betrachten, veränderte auch meine Wahrnehmung und so erschien mir Vertrautes, in neuem Licht. Wir zogen durch den Wald, begegneten der Freude und der Trauer, dem Angenehmen und Unangenehmen und wurden immer mehr zu einer Gemeinschaft. Meine anfänglichen Befürchtungen, die ich gegenüber den Jungen hatte, waren völlig unbegründet. Sie machten durchaus ihre eigenen Erfahrungen und sie würden auf ihre Art verstehen, was wichtig ist. Ich glaube, es war weniger wichtig für sie, was ich wusste und sagte, wohl aber, dass ich einfach nur da war. Ich hatte sie in mein Herz geschlossen und genoss ihre Gegenwart, obgleich ich wusste, dass der Zeitpunkt unserer Trennung nahte. Wir durchquerten schließlich das Dorf meines letzten Lebens. Obwohl mir klar war, dass in Eden und dem Leben, die Zeit anders verlief, hoffte ich, in diesem Dorf, dennoch alte Freunde wieder zu treffen, aber niemand, den ich kannte, war noch da. Wir erfrischten uns auf dem Marktplatz am klaren Wasser des Brunnens. Dann war es so weit: Ich führte die Jungen ans Ende des Dorfes, durchquerte mit ihnen das dahinterliegende kleine Gehölz und wir erreichten schließlich die südlichste Grenze des Waldes.
Die Vulkanlandschaft
Die Trennung
Vor uns lag nun eine schwarze Sandwüste aus Vulkanasche. Kein Grün, so weit das Auge reichte. Vereinzelnd ragten schwarz verbrannte Baumskelette aus dem Erdreich. Ein riesiges schwarzes Gebirge durchzog im Hintergrund die öde Vulkanlandschaft. Einige Berge spieen Lava, Asche und Gesteinsbrocken aus den Höllenschlünden ihrer Gipfel. Tiefes Grollen ließ den Boden erzittern. Rot leuchtende Lavaflüsse bahnten sich aus den Kratern die Abhänge hinunter, schoben sich an verbrannten Felsbrocken über den dunklen Sand, walzten ins Tal herab und versammelten sich dort in dampfenden Seen, rot kochender Glut oder erstarrten wie verendete Riesenamöben, inmitten einer rauch- und dampferfüllten Feuerlandschaft. An manchen Stellen traten vereinzelnd Risse und Löcher im Boden auf, an dessen Grund ein glühender Lavastrom blubberte, der aus Höhlen unter der Erde hineinfloss und durch eben solche wieder geheimnisvoll verschwand. Gelbe Steine türmten sich in diesem Ödland, eingehüllt vom weißen Dampf übelriechenden Schwefels, der einen an den Geruch verfaulter Eier erinnerte.
Ich überspielte meine aufkommende Unsicherheit und die bevorstehende Abschiedmelancholie mit einem versuchten Lächeln. Nacheinander blickte ich in die Gesichter der Jungen, die mit mir in einer Reihe am Waldesrand standen und ehrfurchtsvoll das heiß flimmernde Geschehen der Vulkanlandschaft beobachteten:
„Nun ist der Zeitpunkt gekommen, da wir uns trennen müssen“, sprach ich zu ihnen und zeigte auf ein tiefes Tal zwischen zwei Gebirgen. „Dort ist mein Weg. Ab hier muss ich alleine gehen. Euer Weg ist ein anderer. Lasst euch hier vom Leben überraschen. Trennt euch und ergreift die Chance, dem Leben und den Wesen, jeweils alleine zu begegnen, damit ihr euch nicht gegenseitig abgelenkt und blind seid, wenn das Leben, zu jedem von euch, kommt. Seid aufmerksam und verliert nicht eure Hoffnung, denn das Leben ist vielfältiger, als unsere Vorstellungskraft. Wir werden uns wiedersehen.“
Der Schritt in die Hölle
Dann drehte ich ihnen den Rücken zu und wagte mutig einen ersten Schritt in diese vor mir liegende, lebensfeindliche Welt. Ob es jedoch wirklich Mut war oder einfach nur idiotischer Leichtsinn, darüber war ich mir inzwischen nicht mehr so sicher. Vor mir klaffte plötzlich ein großes Erdloch, und an den steil abfallenden Wände darin, schimmerten der rote Schein der kochenden Lava.
„Was habe ich mir bei diesem Vorhaben eigentlich gedacht?“, sprach ich zu mir und begann mich über mich Selbst zu ärgern. „Wollte ich vielleicht irgend jemandem etwas beweisen? Forderte ich das Unglück nicht geradezu heraus? Ich muss bescheuert sein!“
Am liebsten hätte ich mich umgedreht, doch ich wusste um die Stärke der Verführung und konnte mich noch im letzten Moment zurückhalten. Dennoch zweifelte ich an der Richtigkeit meiner Entscheidung.
„Was bist du doch für ein Großmaul“, baute ich mich liebenswürdig auf, „Vor mir liegt eine Landschaft, in der ich gewiss nichts zu essen und nichts zu trinken finden kann – falls ich für solche Sorgen überhaupt lange genug überleben werde. Wahrscheinlich darf ich mich sogar glücklich schätzen, wenn ich nicht schon vorher ein Opfer dieser feindlichen Naturgewalten werde. Doch wenn ich mich jetzt feige zurückziehe, würde ich meiner eigenen laut geäußerten Überzeugung untreu werden und mich vor den Burschen als Hochstapler blamieren. Welch ein Dilemma.“
Ich spürte, wie mir die Burschen hinterher sahen.
Vielleicht war es verrückt, aber ich konnte nicht mehr umdrehen. Ich musste die Jungen und den Wald hinter mir lassen und weitergehen. Ich musste nach vorne schauen.
Es gab allen Grund zur Befürchtung, dass der Boden unter meinen Füßen wegbrechen könnte und ich augenblicklich in einen dieser Höllenschlünde fallen würde, käme ich ihnen zu nahe. So beschloss ich, einen respektvollen Abstand zu allen Löchern und Spalten zu halten, tastete mich vorsichtig zwischen ihnen hindurch und machte mich auf den Weg, in ein großes Tal, zwischen zwei riesigen, schwarzen Gebirgszügen. Ich drehte mich nicht um.
Immer tiefer verschwand ich im Rauch und Dampf, der aus dem Boden kommenden Erdgase. Ich kletterte über schwarze Basaltbrocken und stapfte knöcheltief durch warme Asche.
Nach einiger Zeit kam ich an den Rand eines ausgedehnten, zäh fließenden, Lavastroms. Dunkle Flecken schwammen auf diesem glühenden Fluss und glitten auf seiner Oberfläche mit ihm abwärts. Ich folgte dem Flusslauf an seinem östlichen Ufer nach oben und näherte mich so langsam dem ersehnten Tal. Immer wieder erbebte die Erde und tiefes Grollen erzitterte die Luft. Ab und zu wagten sich vereinzelte Sonnenstrahlen in einem beeindruckenden Lichterspiel durch die rußige Wolkendecke und ließ kleine Gebiete der Landschaft erhellen. Nach einigen Stunden erreichte ich, zwischen zwei gewaltigen Bergmassiven, den Eingang des Tals. Vor mir lag eine ausgedehnte, flache Sandebene. Der Lavafluss veränderte hier plötzlich seinen Verlauf nach rechts und schien einer Quelle, irgendwo aus dem rechten Gebirge, zu entspringen. Zu meiner Linken blubberte ein kochend heißer Schlammsee. Graue Wellen spülten träge an den Strand. Beim Anblick dieses blubbernden Sees, musste ich an eine schmackhafte Suppe denken. Es kam eben, wie es kommen musste. Ich bemerkte meinen Hunger. Konzentriert spähte ich in das weite Tal und suchte nach Anzeichen von Nahrung, doch weit und breit ließ nichts darauf schließen, dass ich irgendwo etwas essbares hätte finden können. Also marschierte ich zwischen den Rauchschwaden weiter durch die Ebene und hoffte, so absurd es mir auch erschien, auf ein bisschen Glück.
Der tote Baum
Die Wolkendecke riss an einer kleinen Stelle auf. Ein einziger Sonnenstrahl drang hindurch und erreichte ungefähr einen Kilometer vor mir den Boden. Langsam erkannte ich dort ein in der Hitze flimmerndes, schwarz verbranntes Baumskelett. Wie ein bedrohliches Mahnmal, ragte die obskure Gestalt, in mitten dieser Einöde, verlassen aus der Asche und versteckte sein Antlitz immer wieder hinter vorbeiziehenden Rauchwolken. So strebte ich zum einzigen Ziel in diesem Tal, was mir auf so auffällige weise präsentiert wurde. Die Wolkendecke schloss sich wieder und ich erreichte das tote Gebilde schließlich im grauen Nebel. Einige Meter vor dem Stamm, kniete ich mich erschöpft in die warme Asche und blickte auf die verbrannten Überreste dieses Baumes. Der Stamm war nach einigen Metern oben abgebrochen und ließ nur noch die Überreste seiner verbrannten Baumrinde scharfkantig in den Himmel gerichtet.
Rechts und links ragten, wie Arme, zwei dicke Zweige aus dem Stamm und wippten ächzend im Wind.
„Und was nun?“, fragte ich mich selbst und meine Sorgen wuchsen. „Ich habe Hunger und Durst und sehe noch immer keine Hoffnung, hier etwas zu essen oder zu trinken zu finden. Wovon soll ich leben?“
Ich ließ meine Hände vor mir auf den warmen Boden fallen und beobachtete, wie sie scheinbar ohne mein Zutun in den schwarzen Sand griffen. Dann hob ich eine geschlossene Hand hoch und ließ die feinen Sandkörner langsam durch meine Finger herausrieseln. Noch bevor sie den Boden berührten, erfasste sie der Wind und trug sie weit mit sich. Ich sank nach vorne und stützte mich mit meinen Händen auf. Erneut stach ich, mit flachen Händen, tief in den Sand. Die tieferliegenden Schichten waren erheblich wärmer als die oberen und ich berührte beim Hinabgleiten mit meinen Fingerkuppen, etwas weiches. Im ersten Moment erschrak ich. Dann trug ich mit beiden Händen vorsichtig die obere Sandschicht ab und sah in der schwarzen Asche etwas rotes schimmern, was jedoch keinesfalls wie Lava aussah. Hastig legte ich das gesamte Objekt frei und blickte zu meiner Überraschung auf einen roten heißen Bratapfel.
Ich konnte erst gar nicht glauben, was mir da wiederfuhr. Ich saß mitten in einer Vulkanlandschaft und fand unter den Überresten eines verbrannten Baumes einen reifen, wohlriechenden Bratapfel. Er schmeckte besser, als alle Äpfel, die je gegessen hatte, und es gab im Umkreis dieses Baumes, unter der Erde, noch viele weitere Bratäpfel. Es waren so viele, dass ich mich an ihnen satt essen konnte. Meinen kleinen Rucksack konnte ich ebenfalls bis oben hin auffüllen. Ein bisschen stillten die Äpfel sogar meinen Durst, aber es reichte natürlich nicht. Nun war es also wichtig, Wasser zu finden.
„Ohne Essen kann ich vielleicht einige Zeit überleben, aber ohne Trinkwasser werde ich nicht lange durchhalten können“, dachte ich mir und begann mich wieder zu sorgen.
Aber ich hatte auch wieder etwas Hoffnung geschöpft, denn wenn mir Gott, in dieser unwirklichen Welt, Bratäpfel schenken konnte, dann sollte es für ihn doch erst recht kein Problem sein, mich zu Trinkwasser zu führen.
Der Geysir
Und so nahm ich meinen Rucksack und marschierte energiegeladen und voller Hoffnung, weiter durchs dunkle Tal in eine unbekannte Zukunft.
Das Tal zog sich zwischen den Bergkämmen in südöstlicher Richtung. Ich kam während meiner Wanderung bald in ein Gebiet, in dem der Rauch aus den Kratern über mir abnahm. Hier zogen nur noch einige wenige Kumuluswolken ruhig ihre Bahnen unter dem blauen Himmel. Die Nachmittagssonne warf ihr gleißendes Licht über weite Gebiete des Tals und verlieh den Felsen und Berghängen helle Farben. Wolkenschatten wanderten langsam über die Landschaft und verliehen ihr fast übertriebene Klarheit und Plastizität. Zwischen weißen Steinen stieg vereinzelnd weißer Wasserdampf auf. Einige Kilometer von mir entfernt schoss plötzlich eine hohe Wasserfonthaine aus dem Boden. Es war ein Geysir.
Selbst aus dieser Entfernung bot sich mir ein beeindruckendes Schauspiel. Es mussten gewaltige Wassermengen sein, die dort gen Himmel geschleudert wurden. Der Druck im Erdinneren reichte wohl aus, um die Fonthaine auf mehr als hundert Meter Höhe zu katapultieren, bevor sich ihr Strahl an der Spitze zur Seite bog und das Wasser, vom Wind zerstäubt, in feinen Tropfen nach unten fiel. Wie eine lebendige Statur stand der Geysir silbrig glänzend in der Nachmittagssonne, umsäumt von den prächtigen Farben eines Regenbogens und hob sich, als Star der Landschaft, von den Bergen ab.
„Dieses sollte meine Wasserquelle sein, an der ich meinen Durst stillen würde“, dachte ich mir und freute mich.
Das Tal und der Boden unter meinen Füßen waren nun gut zu übersehen, auch begegneten mir hier keine tiefen Erdspalten und Löcher mehr. Ich konnte es nun riskieren schneller zu marschieren und rannte bald voller Ungeduld, leicht abwärts, durchs Tal, zum Geysir. Noch während meines Laufs stellte der Geysir seine Aktivität ein und fiel wieder in sich zusammen. Glücklicherweise konnte ich mir seine Ursprungsposition aus der Entfernung merkte und erreichte bald, außer Atem, dass Loch seiner Geburtsstätte. Um die Quelle herum lagen etliche weiße Felsbrocken. In ihnen, wie auch auf der glatten Ebenen zwischen den Felsen, gab es tiefe Mulden, in denen sich türkis blaues, milchiges Wasser angesammelt hatte. Ich näherte mich den Mulden und löschte meinen Durst. Das Wasser war noch warm. Dann entfernte ich mich schnell einige hundert Meter von diesen Stellen, denn ich wollte nicht zu lange in der Nähe der Austrittsöffnung des Geysirs verbleiben, setzte mich auf einen Stein und ruhte mich aus.
Die Lava
Die Wolken am Himmel schienen sich zusammen zu brauen und schoben sich, wie graue Bowlingkugeln, langsam vor die absinkende Abendsonne. Die Schatten der Gebirge wurden länger und bedeckten plötzlich schnell das Tal. Es begann zu dämmern. Mir wurde mein Glück des heutigen Tages bewusst und wollte mich hierfür bei Gott bedanken, als sich der Boden unter mir bewegte und lautes Knirschen und Kreischen aus dem Erdreich drang. Die Erde begann zu beben. Hinter mir donnerte etwas mit lautem Getöse, und ein grelles Pfeifen schallte durchs Tal. Schlagartig schleuderte mich eine Druckwelle vom Stein und warf mich zu Boden. Für einen kurzen Moment schien ein Sturm über mich hinweg zu fegen, bis er nach einigen Sekunden genau so schnell wieder verschwand, wie er kam. Ein Grollen hallte durchs Tal. Ich richtete mich auf und sah in die Richtung, aus der ich hergekommen war. Unterhalb eines Kraters, am Nordhang des südlichen Bergmassives, hatte sich eine große Felsplatte vom Berghang gelöst und war ins Tal gestürzt. Wie aus einer klaffenden Wunde, quoll rote Lava aus dem Berg heraus und bahnte sich seinen Weg ins Tal.
„Mein Gott“, rief ich geschockt in das ohrenbetäubende Krachen einiger herabstürzender Gesteinsbrocken. Wie gelähmt betrachtete ich die immer größer werdende schwarze Aschewolke, die sich zwischen den Bergen langsam auf mich zu wälzte.
„Ich bin den ganzen Nachmittag bergab gegangen!“, stellte ich erschreckend fest. „Die Lava wird in meine Richtung fließen! Ich muss hier weg! Ich muss nach Oben!“
Ich schaute zum nördlichen Bergmassiv und suchte eine Stelle, an der ich möglichst gut den Hang hinaufklettern könnte. Dann packte ich meinen Rucksack und schnallte ihn mir, während ich loslief, auf den Rücken.
„Ich muss schnellsten aus dem Tal heraus und nach oben flüchten!“, spornte ich mich an.
Immer wieder blickte ich flüchtig nach links und hoffte dadurch einschätzen zu können, wann mich die Wolke und die Lava erreichen würden.
Die Wolke kroch die Hänge hinauf und floss über die Bergkämme, während sie gleichzeitig unaufhörlich auf mich zu wuchs.
„Stopp!“
Unverhofft stand ich vor einer tiefen Erdspalte, die ich gerade noch im letztem Moment gesehen hatte. Fast wäre ich hineingefallen. Geschockt schaute ich in den vor mir liegenden Abgrund. Das Beben hatte möglicherweise neue Risse aufgetan und diese versperrten mir nun meinen Fluchtweg.
Der Himmel verdunkelte sich. Die Wolke schob sich einige hundert Meter über mich hinweg und schien von dort aus auf mich herabzusinken. Am Grund, der vor mir liegenden Erdspalte, begann die darin kochende Lava, mit zunehmender Dunkelheit, immer heller zu leuchten. Schnell erhaschte ich noch ein paar kurze Blicke auf wesentliche Landschaftsmerkmale, um mir einen neuen Fluchweg um die Spalte herum einzuprägen, bevor es zu dunkel sein würde, etwas erkennen zu können. Vorsichtig schlich ich mich an einer Seite des Spaltes vorbei und bewegte mich dann wieder auf kürzestem Weg in Richtung Hang. Dann erreichte mich die Wolke. Ich stand in einem heißen Sturm aus umherfliegenden Ascheteilchen. Sie hüllten mich ein und nahmen mir schließlich jegliche Sicht und beinahe die Luft zum Atmen. So tastete ich mich nahezu blind, im heißen Wind, durch eine stockdunkle Nacht. Der Weg vor meinen Füßen, war kaum zu erkennen. Einerseits war mir bewusst, dass ich mich beeilen musste, wenn ich der Lava entkommen wollte, andererseits musste ich bei diesen schlechten Sichtbedingungen befürchten, in eine der nächsten Erdspalte fallen zu können. Ich hoffte nur, ich würde wenigstens noch in die richtige Richtung laufen, denn es gab nichts mehr, woran ich mich hätte orientieren können. Ich tappte weiter durch den dunklen Sturm, als links von mir, ein diffuser Schein im Nebel, langsam rot zu leuchten anfing und immer heller wurde. Die Lava kam! Sie konnte nicht mehr weit von mir entfernt sein und ich hatte keine Ahnung, wie weit der rettende Hang noch von mir entfernt sein würde. Ich hastete immer schneller durch die Dunkelheit und stolperte ständig über irgend welche Steine. Das glühende Rot wurde rapide heller.
„Du musste jetzt losrennen“, drängten mich meine Gedanken zur Flucht.
Mir wurde bewusst, dass ich in eine Erdspalte fallen könnte, wenn ich in dieser Dunkelheit einfach blind losrennen würde, aber würde ich vorsichtig bleiben, könnte mich vielleicht die heranfließende Lava erfassen. Wenn ich wenigstens hätte erkennen können, wie weit der Hang und die Lava von mir entfernt waren. Panik überkam mich. Was sollte ich tun? Ich entschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Ich schrie wie ein Wahnsinniger und rannte los, ohne auch nur irgend etwas sehen zu können, mitten in die Dunkelheit. Vielleicht lief ich geradezu auf eine Erdspalte zu. Vielleicht war die Lava aber auch schon so nahe, dass sie mich jedem Moment verschlingen würde. Ich gab alles und stolperte in voller Panik blind in die Schwärze, in irgendeine Richtung, in der ich glaubte den Hang erreichen zu können. Immer wieder stießen meine Füßen gegen Steine, die ich nicht sah und jedes mal, wenn meine Füße unverhofft in einer Bodensenke ins Leere traten, fürchtete ich in einen Erdspalt zu fallen. Ich lief um mein Leben. Ich rannte aus Angst vor dem Schmerz des Verbrennens.
Das rote glühen in der Wolke wurde bald so hell, dass sich das Licht in den vor mir liegenden Steinen reflektierte. Ich konnte besser sehen und rannte noch schneller. Dann spürte ich, dass es aufwärts ging.
„Das muss jetzt einfach der errettende Hang sein“, rief ich mir zu.
Es ging immer steiler bergauf. Endlich wusste ich, dass ich in die richtige Richtung gelaufen war. Nun kam es nur noch darauf an, so schnell wie möglich, über das lose Geröll an dieser Steigung, an Höhe zu gewinnen.
Plötzlich knallte ich bei vollem Lauf gegen einen Felsen und taumelte leicht zurück.
Ich stand vor einer fast senkrechten Felswand. Es war nicht nur ein großer Felsbrocken, wie ich anfangs hoffte, es war tatsächlich eine Felswand, die mir nun den Fluchtweg versperrte. Im roten Schein der Lava konnte ich inzwischen einige Meter weit nach rechts und links sehen. Überall ging diese Steilwand fast senkrecht hoch. Ich wollte erst nach einer flachen Stelle suchen, aber mir fehlte die Zeit. Ich musste klettern. Schnell suchte ich mir einen möglichst einfachen Einstieg in die Wand, aber die Wand waren überall zu glatt. Ich suchte weiter. Endlich fand ich einen ersten Halt und zog mich hoch. Dann fand ich auch meinen ersten Tritt, wieder einen Halt und wieder ein Tritt. So schob ich mich Zentimeter für Zentimeter nach oben. Wie hoch ich klettern müsste, wusste ich nicht. Auch konnte ich nicht abschätzten, ob ich dieses Hindernis bald überwunden hätte und es nach oben hin einfacher werden würde oder ob die Wand schließlich zu steil, zu glatt und mit zu wenig Haltemöglichkeiten, meinem Fortkommen ein jähes Ende bereiten würde. Es gab jedoch kein zurück mehr. Ich konnte nicht mehr absteigen und notfalls in einem zweiten Versuch, einen neuen Einstieg auswählen. Die Lava hatte bereits den Fuß meiner Wand erreicht und zog brodelnd unter mir hindurch. Die aufsteigende Hitze der zähen Masse war unerträglich. Es war so heiß, dass ich im ersten Moment vor Schmerzen schrie. Ich versuchte die Ruhe zu bewaren und die Gefahr zu vergessen. Ich redete mir ein, eine Kletterübung zu machen und betete zu Gott, er möge mich beschützen.
Langsam gewann ich an Höhe und die Hitze wurde endlich erträglicher.
Glücklicher weise fand ich immer irgendwo einen sicheren Halt und es gab mir Hoffnung, bisher noch in keine „Sackgasse“ geklettert zu sein. Ich hatte den Eindruck, mit der Auswahl meiner Kletterroute, wirklich Glück gehabt zu haben, aber ich wollte lieber nicht den „Tag“ vor dem „Abend“ loben und mich statt dessen lieber auf das Hochsteigen konzentrieren. Ich durfte keinen Fehler machen.
Der heiße Wind hatte die Felsen erwärmt. Anfänglich rissen kurze Böen an meinem Körper, doch um so höher ich kam, desto gleichmäßiger und ruhiger wurde die Strömung. Außer der Wand, sah ich nichts. Um mich herum herrschte ein endlos schwarzer Raum. Meine Wand wurde, durch die unter mir fließende Lava, in ein tiefes Rot getaucht und die von unten beleuchteten Felsüberhänge streckten ihre langen Schatten über sich an die Felswand.
Ich wusste nicht, wie hoch ich noch klettern müsste, aber ich kam gut vorwärts.
Leise sang ich nebenbei ein Lied aus meinem alten Dorf. Es gab keinen Hall. Der Schall strahlte von der Wand ab und verschwand hinter mir im schwarzen Nichts.
So entwickelte sich der Aufstieg zu einer Reise und es gab in dieser Dunkelheit nur noch mich und diese rote Wand mit den langen Schatten.
Irgendwann wurde der Aufstieg einfacher. In zirka zwanzig Metern Höhe nahm die Steigung rapide ab. Kurz darauf wurde das Klettern kaum schwieriger, als Treppensteigen. Mit letzter Kraft erreichte ich schließlich das obere Ende der Klippe. Ich setzte meinen Rucksack am Hang ab, ließ mich erschöpft auf einen Stein nieder und schaute, noch völlig außer Atem, ins Tal hinunter.
Die Staubwolke schien nicht mehr so undurchdringlich alle Sicht zu versperren, wie anfänglich, sondern erlaubte nun einen weitläufigen Blick ins rot leuchtende Tal. Langsam zog sich der glühende Fluss, wie eine Tiefseeschlange, zwischen den Bergmassiven hindurch und tauchte die von unten beleuchteten Hänge in ein seltsam magisches Licht. Grollen hallte durch das nächtliche Tal und verbreitete sich in endlosen Echos.
Um mich herum war stockdunkle Nacht. Nur einige lose Felsen um mich herum schimmerten in einem schwach roten Schein. Der hinter mir ansteigende Berghang, verlor sich in tiefer Finsternis. Meine zerrissenen Kleider flatterten im lauwarmen Wind.
Ich streckte meine Arme vor mich gen Tal und betrachtete gegen das Licht, die rötliche Silhouette meiner ansonsten dunklen Hände. Ein Wassertropfen traf meine Fingerkuppe und lief, wie ein kleiner Diamant, an meinem rechten Zeigefinger hinab. Es begann zu regnen.
Ich hielt meine Hände zur Schale, sammelte das Herabfallende Regenwasser und trank dieses Elixier des Lebens. Der kühle Regen ergoss sich über das Tal und fiel auf die heiße Lava. Noch bevor die Tropfen den Schmelzfluss erreichten, begannen sie zu verdampften. Kriechend breitete sich eine von unten beleuchtete Nebelbank aus und verdeckte, in einem diffusen Schein, die Sicht auf jene Feuerschlange, die nun unbehelligt fressend, ihren Weg in ihre neu errungene Freiheit fortsetzte. Bald war das ganze Tal von einem rosa Wolkenband erfüllt, das sich angetrieben von Wind und Thermik, langsam durch die Tiefebene schob. Hinter dem Tal zuckten unter den Niederschlägen, die ersten Blitze und erhellten für kurze Momente meine Umgebung.
Ich war inzwischen bis auf die Knochen nass. Mir wurde eiskalt und ich war müde. Aber ich ertrug es, wie betäubt. Die Blitze kamen näher und es wurde deutlich, dass ich hier am Berg vor ihnen nicht sicher sein würde, aber ich konnte auch nicht im Tal Zuflucht finden, denn dort wartete die Lava. Hatten eben noch unerwartete Hindernisse meine Flucht erschwert und mir beinahe das Leben gekostet, wurde ich jetzt durch den Regen ungesund unterkühlt und das Gewitter entpuppte sich zu einer neuen Bedrohung für mich.
„Seltsam“, dachte ich mir, „manchmal hat man den Eindruck, die ganze Welt würde sich plötzlich gegen einen verschwören. Aber was soll man machen? Wenn es nicht anders geht, muss man für sein Ziel, vielleicht auch mal gegen die ganze Welt, kämpfen. Welche Wahl bleibt einem denn schon? Ich hatte bei meiner Flucht vor der Lava, trotz Hindernisse, weitergekämpft. Das war gut so. Wer kämpft, kann verlieren. Wer aufgibt, hat schon verloren. Das Ziel sollte es nur wert sein. Und selbst, falls ein Kampf das Risiko in sich birgen sollte, durch ihn umzukommen zu können, so ist es prinzipiell doch trotzdem besser mit seinem Schwert in der Hand zu sterben, als als Sklave zu überleben. Nein, es war richtig hierher zu gehen und nun sollte ich auch weiter gehen. Komme, was da wolle. Und wenn schon; falls tatsächlich alles gegen mich sein sollte, dann kämpfe ich eben gegen alles. Ich gebe nicht auf. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Niemals.“
Es wurde Zeit für mich, einen trockenen, geschützten Unterschlupf zum Schlafen zu finden. Also beschloss ich aufzustehen und einen Platz zu suchen, an dem ich vor Regen und Gewitter Schutz finden würde. Mich zu bewegen, war schließlich besser, als im Sitzen zu frieren. Ins Tal konnte ich natürlich nicht gehen. Auf halber Berghöhe zu marschieren, erschien mir jedoch besser, als auf dem Gipfel den Blitzableiter zu spielen. So nahm ich also meinen Rucksack und stolperte, auf gleichbleibender Höhe, über das Geröll, am Hang entlang. Nach etwa hundert Metern hatte ich einen freien Blick direkt zum Fuße meines Berges. Es war absurd. Der Abhang verlief hier in einem sanften Gefälle bis ins Tal hinab. Währe ich, bei meiner Flucht vor der Lava, nur wenige Grad weiter nach rechts gelaufen, hätte ich mir die gefahrvolle Klettertour ersparen können. Aber wer weiß, vielleicht wäre ich auf dem rutschigen Geröll langsamer hoch gekommen, als an der Felswand. Möglicherweise rettete mir dieser Fehler das Leben. Und so kraxelte ich fröstelnd durch Wind und Regen über das Geröll in die Dunkelheit, ohne zu wissen, wohin.
Die Höhle
Etwas oberhalb meines Weges, entdeckte ich plötzlich ein rötlich schimmerndes Loch im Berg. Ich kletterte den Hang hinauf und sah den Eingang zu einer Höhle. Der rote Schein kam tief aus dem Berg. Ich trat ein und folgte dem Tunnel ins Innere. Nach vielleicht hundert Metern versperrte mir eine unterirdische Schlucht den Weg. Ich konnte das Ende des tiefen Abgrundes nicht erkennen, doch ich vermutete, dass auch hier Magma für das rötliche Licht verantwortlich sein müsste. Ich ging zurück zur Eingangshalle, legte meinen Rucksack auf den Boden und setzte mich hin. Draußen war es dunkel. Nur in der Höhle schien ein schwaches Licht. Mein Blick schweifte über meine zerschlissene Tragetasche und ich entdeckte ein großes Loch darin. Alle meine Äpfel waren herausgefallen. Nur einer hatte sich in einer Ecke der Tasche verklemmt und alle Strapazen mitgemacht. Ich lehnte mich an die Höhlenwand und schaute nach oben an die Decke. Das Gewölbe und die Wände um mich herum, waren nicht grau oder schwarz. Sie glitzerten in Tausend schwachen Farben. Es war wunderschön. Neugierig stand ich auf, näherte mich den funkelnden Objekten und entdeckte wundervolle Kristalle und Edelsteine. Einige glitzerten gold, andere rot, gelb, grün oder sogar blau. Zwischen Bergkristallen und Amytisten, lugten faustgroße Rubine und Smaragde aus dem Felsgestein. Noch nie hatte ich etwas so phantastisches gesehen. Die Kristalle ragten zum Teil einige Zentimeter aus den Wänden hinaus. Ich konnte durch sie hindurch ins Licht schauen und mich an ihren Farben und ihrer Klarheit erfreuen. Ich staunte, wie ein kleines Kind. Doch immer mehr machte sich meine Müdigkeit bemerkbar. Ich suchte mir eine glatte Schlafstätte auf dem Boden und aß meinen letzten Apfel. Unaufhörlich ließ ich dabei meine Blicke über die glitzernden Wände gleiten.
„Hier schlafe ich trocken und warm, geschützt vor Wind und Gewitter“, vergewisserte ich mich. „Für diese Nacht bin ich sicher. Und wenn morgen früh, in dieser düsteren Landschaft, die Sonne aufgeht, werde ich hier zwischen leuchtenden Edelsteinen, am einzigen farbenfrohen Ort, aufwachen.“
Dann übermannte mich meine Müdigkeit und ich schlief ein, wie Tod.
Der Gipfel
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war gerade erst die Sonne aufgegangen. Schlaftrunken blickte ich aus dem Höhleneingang heraus und sah auf die hell erleuchteten Gipfel des gegenüberliegenden Bergkammes. Die untere Hälfte des Höhenzuges, wie auch das Tal darunter, ruhten noch verschlafen im morgendlichen Schatten der umgebenden hohen Berge. Mir war kalt. Ich streckte und bog meine steifen Glieder einige Male hin und her und rappelte mich schließlich auf. Ich erfreute mich am schönen Anblick der geheimnisvollen Edelsteine und beäugte kritisch, nun bei Tageslicht, die Stoff-Fetzen meines ehemaligen Rucksackes. Er hatte mir gute Dienste geleistet, doch nun war er wirklich nicht mehr zu gebrauchen. So ging ich ohne ihn aus der Höhle hinaus und stand auf einem weitläufigen, schattigen Geröllhang, unter klarem blauen Himmel. In nordöstlicher Richtung, über mir, ragte der Kamm dieses Berges, in majestätischer Größe, in die Höhe. Kalte, weiße Zirruswolken verharrten am stahlblauen Firmament in scheinbar grenzenloser Freiheit.
„Dieser Tag, ist der Tag!“, rief ich mit aller Kraft in die Berge.
Ich schaute nach oben und lief den Abhang hinauf. Ich rannt und kraxelte, über das Geröll der Ebene, dem Gipfel entgegen. Ich flüchtete aus dem morgendlichen Schatten heraus, hinein in die goldenen Strahlen der aufgehenden Sonne, lechzend nach einem freien Panoramablick über alle Gipfel dieser Welt. Nach etlichen Stunden und der Überquerung einiger Scheingipfel, erreichte ich schließlich doch noch den höchsten Punkt dieses Berges. Ich kletterte auf einen kleinen Felsen, stellte mich aufrecht hin und widersetzte mich dem Wind. Mit wehenden Haaren und zerrissenen Kleidern, die wie eine Fahne im Wind flatterten, stand ich auf dem Gipfel und genoss ein gewaltiges Panorama über schneebedeckte Berge, speiende Vulkane, kochende Lavaströme, silbrig glitzernde Seen und grüne Wälder. Die Welt lag mir zu Füßen. Der weite blaue Himmel über mir, umarmte mich wie eine Kuppel ohne Grenzen und gab mir das Gefühl von unendlicher Freiheit. Ich hob meine Arme, streckte sie seitlich von mir, drehte mich langsam um mich selbst, und die vor mir liegende Welt offenbarte mir ihre wahre und unübertreffliche Schönheit. Und so stand ich, mit ausgebreiteten Armen, flatternd im Wind und rief voller Freude und so laut ich konnte:
„Das ist das Leben!“
Der Lavaausbruch hatte glücklicherweise das alte Dorf und den grünen Wald verschont. Vermutlich hatte, außer mir, niemand etwas von dieser kleinen Katastrophe mitbekommen und das war auch gut so. Ich spähte nach Nordwesten. Dort lag mein Wald, irgendwo darin das alte Dorf und meine Heimat. Mein Rückweg war durch nichts versperrt, nur würde ich dieses Mal etwas länger für meinen Heimweg brauchen, wurde mir bewusst. Ich spürte, dass meine Zeit gekommen war und ich hörte wieder die vertraute Stimme in meinem Kopf:
„Es ist so weit. Deine Zeit ist nun gekommen. Du hast wahrlich das Leben gelebt. Deine vier Wochen sind fast um. Komme zurück nach Hause. Kehre Heim, in den Garten Eden. Wir erwarten dich nun voller Freude und Sehnsucht, warten gespannt auf deine Heimkehr und sind neugierig auf deine Geschichten und Erfahrungen, die du im Leben gesammelt hast. Auf das wir alle, an deinem Leben, aus deinem Munde und deiner Art, teilhaben dürfen, um durch dich und aus uns heraus, mehr zu werden, als wir sind, im Streben nach dem Paradies.
So ist es unser Streben zu wachsen. Entstanden aus dem Einen wahren Licht, welches ohne Grenzen Alles und daher wie nichts war, hin zu den vielfältigen Lichtern der neu erschaffenden Wahrheiten, die durch dunkle Abgrenzungen der Unwissenheit, voneinander getrennt und so durch ihre Trennung zu Teilen einer Vielfalt werden. Doch zusammen sind sie die vielen lichten Teile eines zusammenwirkenden, überwiegend lichten Paradieses, vielfältig und wachsend, stets darauf bedacht, die dunklen Silhouetten der Teile klein zu halten, jedoch nicht auszulöschen. Ein Paradies, wachsend, aus den vielfältigen Erkenntnissen aller Teile, die die Wesen sind. Erkenntnisse, die da basieren auf alle möglichen Betrachtungsweisen, über scheinbare Zusammenhänge im Chaos, woraus, beim Akt des Sortierens, letztendlich neue bedeutsame Ganzheiten entstehen, die mehr sind, als die Summe ihrer Teile, selbst wenn bekannt ist, das alles zusammen wahrlich doch nur das Eine ist.
Vor Beginn der Zeit, in einer erdrückenden Wahrheit des ewig Unveränderlichen, existierte das allwissende Eine, das ihr die Singularität nennt.
Und unnütz wär gewesen, wenn sie sich ewiglich, als das untrennbare eine Licht, vollkommen wahrgenommen und ohne neue Erkenntnis, ohne Werden und ohne Schöpfung, im Vollkommenden Sein verblieben wäre, wie sie war. Denn, hätte sie nur an der wahren Erkenntnis festgehalten, dass alles eins sei, so wie du in mir bist und ich in dir, wenn nichts hinzugekommen und nichts geteilt, und wenn kein Auge verschlossen, so dass keine Wahrnehmung von der Wahrheit ignoriert, dann wären auch keine Teile aus dem fließenden Einen entstanden, die für eine Schöpfung, der Selbsterkenntnis, und somit für das Wachsen, benötig werden. Raum und Zeit wären eins geblieben und unveränderliches Fließen, kreiste überraschungslos vorbestimmt, gleichermaßen unbelebt, wie Stillstand.
Und so war das Eine, einst wie ein Puzzle, bestehend nur aus einem Teil. Und wenn ein Puzzle, nur aus einem Teil besteht, so kannst du diesem nichts hinzufügen. Doch ohne etwas Zweites erschiene Schöpfung, nicht möglich. Aber lässt du das eine Teil, in ein Chaos aus Tausend Teilen zerspringen, die nun ein neues Puzzle sind, kann so die Schöpfung aus dem Einen beginnen, gleich dem, was ihr den Urknall nennt.
So ist es für das Werden der einen Einheit nützlich, in sich selbst ein gesplittertes Ganzes aus unvollkommenden Teilen zu bilden, die jeweils in ihrer Unvollkommenheit, zwar einen Teil der Wahrheit sehen, aber eben für manches blind sind.
Drum schaute das Eine, in sich selbst, und trübte ihren Blick vor der einen Wahrheit. Und was wahrlich nur eins ist, schien durch Weglassen mancher Wahrheit, nun vor ihren Augen getrennt. Und wildes Chaos, bunter Farben, animierte sie, zu finden neuer Gleichheiten und es begann die Erschaffung von neuen Ordnungen, auf höchst kreative Art. Was eigentlich eins ist, wurde gedanklich getrennt und was getrennt war, wurde gedanklich neu verbunden. Was verbunden war, hatte Bedeutung, was getrennt war, wurde zur Grenze und zwischen den Grenzen, entstanden die Teile. Aus einem Auge wurden viele. Und die Augen sahen sich selbst und alles andere, als getrennte Teile des Ganzen und manche gar als Wesen. Und da sie sich nun einander begegnen konnten, entdeckten sie manchmal ihre Symbiose. Und das Eine, blickte durch die Augen dieser vielen Wesen, um durch sie, sich selbst zu erblicken, - um durch ihre jeweiligen Wahrheiten, während ihres schöpferischen Sortierens des Chaos, einer vielfältigen ganzen Wahrheit nahe zu kommen - und um dabei ewig auf neue Erkenntnisse zu stoßen, die der Schöpfung und des Werdens, ewig dienen sollten.
Darum trennte das Eine auch Raum von Zeit. Denn das Eine begann ein Leben, mit Verzicht auf das Wissen, über seine eigene Zukunft, um Raum für Schöpfung und Zeit für die Entscheidungsfreiheit der Seelenwesen, zu schaffen. Denn dies diente dem Spiel, mit den Überraschungen des Lebens und wachsender Erkenntnis, im ewigem Werden. So weiß das Eine, das Gott ihr nennt, nun nicht mehr um die Zukunft. Doch ihre Zukunftsprognose übertrifft menschliche Vorstellungskraft, denn ihre, ist das Resultat aus kollektivem Allwissen, vom Anfang der Zeit, bis jetzt. Und ist die Wahrscheinlichkeit auch noch so gering, wo nur ein Fünkchen Hoffnung ist, da waltet sie mit Gnade vor Recht, zu geben jedem und allem, eine Chance.
So lange kindliche Freude, mit liebe, spielerisch erschafft, wird der Kreis von Entdeckung, Erkenntnis, Schöpfung und Beachtung, geschlossen bleiben. Und Schöpfung und Erkenntnis werden durch das jeweils andere, ewiglich wachsen. Die Teile in der Vielfalt sind dann hell des Wissens, verbunden durch die Symbiose, getrennt nur durch dünne dunkle Ränder der nicht wahrgenommenen Wahrheiten, zur Erhaltung der Vielfalt, und erneuter Geburt, für Entdeckung, Erkenntnis, Schöpfung und Beachtung.
Und aus Sicht des Einen werden die Teile immer mehr und scheinbar immer kleiner, so wie Erkenntnisse immer mehr ins Detail gehen müssen, wenn bereits alle oberflächlichen Zusammenhänge erkannt sind. Und die Komplexität zwischen allem wird immer größer, denn die Symbiose des Lebens verbindet alles und schließt nie etwas aus, denn nichts existiert für sich alleine. Und alle Teile sind und bleiben durch die Symbiose miteinander verbunden.
Und da die Einheit nicht größer oder mehr wird, werden die Teile darin, mit steigender Anzahl, scheinbar immer kleiner. Aus Sicht der immer kleiner werdenden Teile, wird jedoch die Einheit scheinbar immer größer. Und so erlebt ihr ein sich ausbreitendes Universum, welches immer schneller an Größe zunimmt, wie eine sich vielfach teilende Eizelle.
So erwächst eine lebendige helle Welt des Wissens und der Freude, von ewig wachsender Schöpfung, in einer Symbiose, zwischen immer wieder neu geborenen Einmaligkeiten, in einer wachsenden Vielfalt für Entscheidungsfreiheit und Erkenntnis.
Das Leben dient also der Einen Einheit, für eine ewige Schöpfung und Erkenntnis aus sich selbst heraus, denn das fließende Eine, kann durch die Augen alle Wesen, eine vielfältige unvollkommende Selbstbetrachtungen und dadurch eine scheinbare Vielfalt in sich selbst erleben, durch die, der Akt der Schöpfung und die Weiterentwicklung aus sich selbst heraus, ermöglicht wird.
Und die Illusion eines vielfältigen Lebens, ist der Weg zur Erkenntnis und des ewigen Werdens von allem, was wahrlich Eins ist. Denn das Eine bleibt das Eine. Das ist euer Gott. Er ist der, der er ist, alles in allem. Und alle Entdeckung, Erkenntnis, Schöpfung, Beachtung und Symbiose, wächst in ihm, wie in uns allen, denn wir sind wahrlich ungetrennt und eins.
Dies ist das wahre ewige Leben, ein Leben aus Liebe zum Leben. Ein Leben des Glücks, in Lust, Genus und der Befriedigung, im Wachsen, durch Entdeckung, Erkenntnis, Schöpfung und Beachtung. Es ist das Leben, dass ihr das Paradies nennt.
Nur grauslich wäre die hierzu negative Welt, der Haltlosigkeit und des Steckenbleibens, wo die Vielfalt aus dunklen Teilen der Ignoranz bestünde, umsäumt nur durch dünne weiße Ränder des Wissens. Eine düstere Welt der Einsamkeit, Haltlosigkeit und des Chaos. Eine Welt, in der das Haben wichtiger geworden ist als das Tun und Sein wichtiger geworden ist, als das Werden. Wo niemand erschafft, die Vielfalt abnimmt und Leben stirbt. Eine Welt des Stillstandes, die ihr die Hölle nennt.
Wenn alle Augen allzu sehr verschlossen, das Leben kaum noch wahrgenommen, zu viele Wahrheiten ignoriert und alles was Lebt, seine Liebe und Hoffnung zum Leben verlöre, dann drohte die Gefahr, dass der Kreis von Schöpfung und Erkenntnis unterbrochen, die Symbiose stürbe und haltloses Chaos ausbräche. Die dunklen Teile der Vielfalt verlören gänzlich ihre weißen Ränder des Wissens und die Vielfalt fiele zurück in die Dualität dunkler Dominanz und schließlich in die Singularität der totalen Unwissenheit und Ignoranz, in eine Nacht der absoluten Stagnation und des Nichts. Die einzige Rettung des Einen wäre nur eine Flucht aus der Dualität, zurück ins alte Licht, bevor es Schöpfung gab und das Licht im Kreise floss, um wieder neu zu beginnen.
Doch so die Einheit in einer überwiegend hellen Vielfalt, durch die hierin gewonnenen Erkenntnisse, über sich selbst hinauswächst, wird sie mehr werden, als sie ist, in aller Herrlichkeit und Ewigkeit. So ist die Liebe zur Einheit, in kindlich hoffnungsvoller Neugierde, mit der Freude im mutigen Spiel und des Schaffens, die Grundlage des Lebens und Entstehung des Paradieses, seit Anbeginn der Zeit.“
Die Heimkehr
Der Rückweg war für mich völlig unproblematisch. Ich war muskulös und stark geworden. Meine Sinne waren geschärft, mein Wissen und Überlebensdrang groß und ich hatte genügend Kraft, selbst längere Durststrecken überstehen zu können. Was sollte ich noch befürchten? Als ich den Wald erreichte, verhalfen mir meine Jagd- und Sammelfähigkeiten zu Speisen und Trank im Überfluss. Ich brauchte keinen Rucksack mehr, um mir gegebenenfalls Lebensmittel für schlechte Zeiten aufheben zu müssen. Ich hatte in den Bergen nur etwas zurückgelassen, was ich ohnehin nicht mehr benötigte. Der Verlust meines Rucksackes war für mich nicht bedeutsamer, als für eine Schlange der Verlust ihrer abgestreiften Haut. Ich hatte mich meiner Lasten entledigt. Ich war ohne jegliche Angst. Ich war stark, voller Hoffnung und frei.
Zügig erreichte ich das Tor von Eden. Die Pforten öffneten sich und wie immer kamen mir die jungen weißen Frauen zu Hilfe. Sie machten auf mich einen so zerbrechlichen Eindruck, dass ich schon anfing mich um sie zu sorgen. Notfalls hätte ich sie jedoch ohne weiteres wieder in den Garten hineintragen können.
Ich begrüßte sie kumpelhaft und freute mich über ihren Empfang, aber ich hielt mich nicht lange auf, sondern flog schnurstracks weiter gen Norden, Richtung Villa und meiner Heimat.
Als ich zu den Feldern kam, ließen die Lebewesen ihre Gerätschaften auf den Boden fallen und empfingen mich mit Herz und Wissbegier. Auch die vier Burschen waren schon da. Sie kamen mir juchzend entgegengelaufen und sprangen mir forsch in die Arme. Etwas gemächlicher, kam der Cowboy zu mir. Er versteckte seine Freude, wie immer souverän, unter einem bedächtigen Schmunzeln:
„Wir erwarteten dich schon voller Freude und Sehnsucht, warteten gespannt auf deine Heimkehr und sind nun neugierig auf deine Geschichten und Erfahrungen, die du im Leben gesammelt hast“, begrüßte er mich absichtlich übertrieben mit einem Spruch, den er schon selbst oft genug gehört hatte. „Auf das wir alle, an deinem Leben, aus deinem Munde und deiner Art, teilhaben dürfen, um durch dich und aus uns heraus, mehr zu werden, als wir sind, im Streben nach dem Paradies.“
„Nur, wenn ich auch aus deinem Leben, aus deinem Mund und deiner Art teilhaben darf, alter Freund“, stichelte ich grinsend zurück.
Es tat gut, ihn wieder zu sehen. Wir umarmten uns, wie es gute Freunde tun. Dann musterte er meinen muskulösen, fast schwarzen Körper, auf dem die Narben und Brandmale noch nicht ganz verheilt waren und konnte es nicht lassen gleich den nächsten Spruch vom Stapel zu lassen: „Hast dich ja kaum verändert.“
„Ja, ja. Ist schon klar“, grinste ich, während ich die anderen begrüßte.
„Es ist schön, wieder bei euch zu sein.“, äußerte ich schließlich gegenüber allen. „Wir haben uns sicherlich viel zu erzählen und ich habe große Pläne!“
Die Jungs nahmen mich jedoch erst einmal ungeduldig in Beschlag, führten mich durch den Garten, zeigten mir stolz, was sich in Eden alles verändert hatte und was sie selbst erschaffen hatten. Sie alle hatten die wundervolle Vielfalt aus dem Leben mitgebracht und wussten wahrlich, was schön ist. Oh ja, ich staunte. Wir würden uns bestimmt viel zu berichten haben und eine Menge von einander lernen können, dachte ich mir.
Als die Sonne tiefer stand, entzündeten wir ein großes Lagerfeuer, und wir tranken und aßen die außergewöhnlichsten Dinge. Das meiste schmeckte mir. Einige zeigten uns ihre neusten Musikstücke, und andere spielten uns komische Theaterstücke aus dem Leben vor. Ich musste heulen vor Lachen. Dann kam die Nacht, und es wurde dunkel. Wie saßen gemütlich am Lagerfeuer und jeder berichtete von seinen unglaublichsten Ereignissen aus dem Leben. Wir alle hatten unsere Erfahrungen gemacht, waren voller Wünsche und hatten hoffnungsvolle Pläne. Doch manchmal sah ich hinter mir, im flackernden Feuerschein, einen der bleichen Edenbewohner regungslos zu uns herüberschauen und hin und wieder, trieb der Wind, aus der Dunkelheit, ihr leises Fluchen zu uns herüber. Niemand von uns Lebewesen, schlief noch gerne bei den Edenwesen in der Villa. Zu schwer, lastete der Groll der Edenwesen auf uns. Wie viel Zeit würde uns wohl noch verbleiben, bis sie ihrem Urteil über uns, Taten folgen lassen würden. Wann triebe sie ihr Schmerz soweit, uns unter ihrer dunklen Decke der Unwissenheit zu ersticken, um schließlich, dumm triumphierend, Trophäen aus einem ausgeschlachteten Paradies in die Höhe halten zu können. Ich spähte durch das Feuer in die Seelen unserer Runde. Im Schein der züngelnden Flammen, verborgen hinter lachenden Gesichtern, brodelten auch hier schon Angst und Wut. Die Zeichen standen nicht gut. Alles war nur noch eine Frage der Zeit.
Aufbruch ins Paradies
Der nächste Morgen
Es war ein herrlicher Morgen. Unter blauem Himmel schien der helle Stern im reinen Glanz. Das zerreißende Kampfgezwitscher dumpfbackiger Vögel, harmonierte in konzertanten Geplänkel perfekter Virtuosität. Alle meine Gebrechen waren geheilt. Ich schlenderte trillernd zwischen langstieligen Sonnenblumen entlang und begegnete, froh gestimmt, meinen ersehnten Freunden, die mich schon gespannt auf einer grünen Wiese, mit Kaffee und Orangensaft, an einer reich gedeckten Tafel erwarteten. Wir frühstückten ungeduldig und wollten uns beeilen, denn wir hatten heute etwas ganz besonderes vor. Nach zwei idyllischen Stündchen rafften wir uns dann doch noch auf und begannen alle Lebewesen in Eden zu versammeln. Schließlich trat ich nach vorne und legte mir meinen kleinen Spickzettel bereit. Ruhe kehrte ein. Im Prinzip, wusste ja sowieso schon jeder, was jetzt kommen würde und worum es ging, aber sie liebten eben das Spiel mit der Förmlichkeit, denn dadurch erhielt unser Vorhaben eine so wunderbare kindliche Erwachsenheit und ehrfurchtsvolle Wichtigkeit. Jeder bemühte sich jetzt ernst und weltmännisch drein zu schauen:
„Liebe Menschen“, begann ich mit meiner Rede.
„Liebe Lebewesen - und alle die es werden möchten!“
Ich wendete mich, demonstrativ, den drei abseits stehenden Edenwesen am Marmorweg zu, die erwartungsgemäß überheblich zu grinsen anfingen und hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln begannen. Ich wusste natürlich, dass es nicht ganz korrekt von mir war, aber ich konnte es einfach nicht lassen, mich meiner kleinen Stichelei zu erfreuen. Ich war eben auch nur ein Mensch.
Dann spendete ich dieser Angelegenheit wieder ein bisschen mehr Ernst und setzte mit einem korrigierenden Eingeständnis fort. Ich schätze, ich hatte mit meinem zitternden Singsang, die Theatralik meines ersten Satzes, ein wenig zu übertrieben hervorgehoben:
„Ehre sei dem, der Gnade hat, denn Gnade ist wichtiger als Recht“,
Halten wir nicht am Verlorengegangenen fest.
Konzentriert wir unser Handeln nicht auf den Kampf gegen das Böse, sondern konzentrieren wir unser Handeln auf einen Kampf für etwas Gutes.
Wir benötigen die Villa nicht mehr!
Die scheinbare Vielfalt, ist das Vollkommene Ganze, der unvollkommenden Einzigartigkeiten.
Jeder von uns, ist wie je ein Finger derselben Hand, desselben Armes und des einen Körpers, der alles ist, was war, jetzt ist und immer sein wird. Er ist das einzig wahre Eine, in denen wir, in scheinbarer getrennten Teilen, gemeinsam das Eine bilden. Also liebt Euren Nächsten, wie Euch selbst, auf das wir uns einander begegnen, wie die Finger derselben Hand und gemeinsam be-greifen, im Sinne des allwissenden Einen.
Bedenket der letztendlichen Schöpfungskraft in der Symbiose.
Verwirklichen wir uns unseren eigenen Traum. Setzen wir unserem Paradies die Krone auf.
Last uns gemeinsam einen neuen Palast bauen, schöner und größer, als alles, was es bisher gab. Erfreuen wir uns an unserem gemeinsamen Schaffen, denn nun sind wir viele Lebewesen, die einander ergänzen können und wir wissen, worum es wahrlich geht – unser gemeinsames Tun.
Schöpfung ist Leben, wie Leben Schöpfung ist. Ehre sei dem, der zum Wohle erschafft, denn er erschafft Leben.
Und Ehre sei dem, der anderen hilft seine einzigartigen Begabungen zu finden, welche sie auch sei, für wen sie auch sei, zum Wohle aller. So suchet nach der einzigartigen Begabungen jedes Einzelnen, derer jeder gebraucht wird.
Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.“
Ich verneigte mich höflich und verließ, mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen, die „Front“.
Alle jubelten und klatschen. Sie übertrieben in Lautstärke und Ausdauer. Sie machten sich einen Spaß daraus. Dies war jedoch der Startschuss unseres neuen großen Projektes.
Am Abend zuvor hatten sich bereits viele von meiner Idee begeistern können. Einer war dabei, der im Leben viele Erfahrungen als Architekt gesammelt hatte. Er hatte sofort Ideen und freute sich darauf, einen Entwurf zu skizzieren. Nun stand er in der Menge und zeigte stolz seinen Bauplan.
Maurer hatten wir auch viele. Einer wollte unbedingt einen neuen Zement ausprobieren.
Und da gab es noch den verkannten Erfinder. Er zeigte mir sein Förderband, welches seine Funktion, für den Transport der Steine nach oben, erfüllen sollte. Er hatte das Förderband schon lange gebaut, aber im Leben bot man ihm leider keine Gelegenheit, es irgend jemandem zeigen zu können. Nun fand seiner Erfindung endlich eine Verwendung und alle würden seine Maschine sehen und nutzen.
Der Architekt übernahm die Führung, und die Arbeit begann.
Der Palast
Es war eine gute Zeit. Der Bau wuchs und wuchs. Immer wieder fügte irgend jemand seine neue Idee hinzu. Alle waren sehr stolz auf ihr Schaffen und nach einigen Monaten war es dann so weit. Der Palast war vollendet. Es war ein wunderschöner Palast, aus weißem Marmor. Vor drei hohen Bogenfenstern, lud eine große Terrasse zum Sitzen ein. Die Säulen des Marmorgeländers, am Rande der Terrasse, waren mit Smaragden besetzt. Zwei große Türme, mit goldenen Dächern, ragten in den blauen Himmel. Den Eingang schmückten zwei stattliche Marmorsäulen. Um das hohe romanische Eingangstor herum, funkelten große Rubine im weißen Marmor. Der Weg von der Terrasse, führte über ausladende Treppenstufen in den Garten hinab und gelangte schließlich, an ein mit Diamanten besetztes, goldenes Eingangstor. Wir alle genossen den wundervollen Anblick unserer Schöpfung und erfreuten uns über die Wirkung, wie dieser strahlend weiße Prachtbau, über den Garten von Eden, erhaben in den blauen Himmel ragte. Man konnte von oben, aus einem der märchenhaften Türmchen, über den gesamten Garten blicken. Was für ein Ausblick! Die ersten hatten sich schon mit Liegestühlen auf der Terrasse in die Sonne gelegt und schlürften genüsslich einen Cocktail. Natürlich steckten Strohhalme und kleine bunte Papierschirmchen in den Gläsern! Sie freuten sich ihres Werkes und fachsimpelten darüber, wie sie beim Bau so manches Problem bewältigt hatten. Sie bestätigten sich immer wieder gegenseitig ihre Heldentaten. Und es tat ihnen gut. Am Abend unserer Vollendung, gab es ein großes Fest im kleinen Garten. Dieses Mal gab es, zum Höhepunkt des Festes, sogar ein grandioses, buntes Feuerwerk.
Der letzte Morgen
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines hohen weißen Saales, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Langsam erkannte ich drei hohe Flügelfenster vor mir, die vom Boden bis hin zur hohen Decke reichten und erst kurz vor der gewölbten, mit Edelsteinen besetzten Decke, durch einen wunderschönen weißen Rundbogen, in ihrer erhabenden Größe begrenzt wurden. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und füllte den Raum voller Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.
„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
Und so glitt ich leichtfüßig, hin zur geöffneten Tür und erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende weiße Marmorterrasse, deren weißes geschwungenes Marmorgeländer, kontrastreich einen Saum zum azurblauen Himmel bildete.
Ich schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die weiße große Terrasse und atmete tief die frische Morgenluft ein. Auf der Terrasse standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen gute Freunde von mir. Einige von ihnen blickten zufrieden von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten, die Blumen und die fruchtbaren Felder. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und probierten allerlei Delikatessen. Auf einem Tisch standen so übertrieben viele Delikatessen, dass der Löffel keinen Platz mehr dazwischen fand und ständig auf den Boden fiel.
Erstmalig waren diese Menschen, genauso wie ich, nicht mehr in der Villa aufgewacht, sondern in unserem neuen Palast. Statt eines Ortes, hatte Eden nun also zwei Orte des Erwachens. Aus dem singulären hatte sich die Dualität entwickelt.
Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite blühende Landschaft schweifen.
„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.
Ich setzte mich zu meinen Freunden und schaute mit ihnen zufrieden über den Garten. Dann wanderten unsere Blicke gen Westen, zur Grenze der Edenwesen.
Hunderte der Edenwesen standen am Wegesrand und betrachteten staunend unseren Palast. Vereinzelnd wagten es manche sogar zu uns herüberzukommen und überprüften kritisch unsere Schöpfung aus nächster Nähe. Sie waren sprachlos. Sie verstanden zwar nicht, wie wir es gemacht hatten, aber erstmalig sah ich in ihren Mienen Zweifel, Staunen und sogar ein wenig Bewunderung für uns.
Sie hatten sich bislang über so viele Dinge geärgert, weil sie sich dem vermeintlich Unvermeintlichen, machtlos ausgesetzt gefühlt hatten und nun sahen sie in uns Menschen, die nicht nur die Fähigkeiten hatten, ihre Welt zu verändern, sondern schlicht weg, eine beliebige neue Welt erschaffen konnten. Aber das war selbst für sie nicht das Wesentliche. Tief in ihrem Inneren vergrabenen, brodelte eine viel größere Sehnsucht. Sie schauten uns erstmalig, ernst nehmend, in unsere Gesichter und glaubten uns erstaunlicher weise erst jetzt, dass wir wirklich glücklich waren.
Das vierte Leben
Es war wieder Zeit für mich ins Leben zu gehen. Ich verzichtete natürlich auf einen Rucksack. Als ich auf dem langen weißen Marmorweg stand, um meinen Weg zum goldenen Tor von Eden anzutreten, traute ich meinen Augen kaum. Tausende bleicher Edenwesen standen kilometerweit am Wegesrand und blickten mit offenen Mündern zum alles überragenden weißen Palast. Es waren so viele, dass sie mir bis zum goldenen Tor Spalier standen. Stundenlang ging ich an diesen blasswangigen, schweigenden Gestalten vorbei. Als ich das Tor erreichte, fehlten die „Jungvögel“ und auch die „Lumpen“ waren nicht an ihrem Platz. Ich durchquerte das Tor und erreichte schnell die nördliche Waldkante. Dann tat ich etwas, was ich mir bisher nie getraut hatte, denn ich fühlte mich stark genug. Es war mir gewiss, dass ich dieses Mal nicht die Befürchtung haben müsste, zur Salzsäule erstarren zu können, denn meine Hoffnung war nun endlich größer als mein Wissen. Und ich drehte mich um und blickte auf den wundervollen Garten Edens. Im Osten des Garten hatte sich viel verändert. Die Lebewesen waren glücklich. Sie hatten einen Weg gefunden in Frieden miteinander auszukommen. Unaufhörlich und mit festem Glauben an ihre Sache, erschufen sie sich ein immer prachtvoller werdendes Paradies.
Im Westen hatte sich nichts verändert. Ich konnte den Zierbrunnen und den Apfelbaum erkennen, doch so sehr ich meine Augen auch bemühte, den alten Mann konnte ich nicht finden. Eigentlich sah ich niemanden im Westen.
Der Ort des Paradieses
„Ist denn nun der Garten Eden das Paradies?“, fragte ich mich selbst.
„Für die Lebewesen im Osten, war Eden ein Ort der Freiheit. Es war ihr Ort der Schönheit und der Liebe, der Freude und des Erfolges, sowie des Stolzes und der Anerkennung. Sie genossen den Geschmack ihrer Erfolge und lebten in einer prächtigen Welt wachsender Schöpfung. Sie waren glücklich.
Aber für die Edenwesen im Westen, war Eden ein Gefängnis, denn sie waren Sklaven ihrer Angst und Verfluchte ihres Unmuts. Sie waren unglücklich.“
Und ich drehte mich zum Leben:
„Ist vielleicht das Leben der Ort des Paradieses?“, fragte ich mich selbst.
„Das Leben im Dorf war voller Nächstenliebe, Schöpfungsgeist und Freude, aber es gab im Leben auch Momente der Angst und der Trauer. Dort erwarten einen auch Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Manchmal begleiten Tränen deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, findest du Pein.“
Dann sah ich, wie sich die Tore von Eden öffneten:
Eine schier endlose Menschenschlange kroch hindurch und wanderte, scheinbar unaufhaltsam, ins Leben. Es wahren wohl Tausende, die plötzlich den Garten Eden verließen. Sie folgten einander, aufgereiht wie Perlen an einer Kette und halfen sich vorwärts, wann immer es nötig war. Sie trugen lange dunkle Umhänge und schleppten kleine Rucksäcke auf gebeugten Rücken. Und bei Betrachtung ihres Kampfes, gegen Wind und Sonne, und ihrem stolpernden stemmen gegen die Schwerkraft, wurde deutlich, dass es die Edenwesen waren, die sich dort, gegenseitig stützten. Erstmalig wagten sie mutig den Schritt ins Leben und strebten, ohne sich umzudrehen, ihrem neuen Ziel entgegen.
„Nein“, sagte ich mir, „der Garten Eden ist weder das Paradies, noch die Hölle.“
Und ich schaute auf die mühsam voranschreitende Menschenschlange der neuen Lebewesen, die sich schleppend durch die Wüste quälten.
„Und nein“, setzte ich meine Gedanken fort, „auch das Leben ist weder das Paradies, noch die Hölle.“
Dann wurde mir voller Freude bewusst, wie sich die Menschen auf ihrem Marsch gegenseitig halfen und gut zuredeten:
„Es gibt wahrlich keinen Ort des Paradieses:
So sehr du auch suchst, du findest ihn nie.
So sehr du auch reist, du kommst nie an.
Kein Tor, das dich einlässt, kein Wesen das dich holt.
Kein Ort im Leben, kein Ort im Tod.
Es gibt wahrlich keinen Ort der Hölle:
So schnell du auch rennst, du entfernst dich ihm nicht.
So schnell du auch fliehst, du entkommst ihm nicht.
Kein Tor, das dich auslässt, kein Wesen das dich befreit.
Kein Ort im Leben, kein Ort im Tod.
Wir selbst sind die Schöpfer von Himmel und Hölle.
Und du bringst mit dir, was du erschaffen hast.
Egal wo du bist, ob im Leben oder Tod
Denn dein Himmel oder deine Hölle ist in dir.
Das Paradies kann nicht genommen,
sondern nur erschaffen werden.
Das Paradies gebührt nicht dem Einzelnen,
sondern dem Ganzen.
So kann das Paradies nicht für sich selbst genommen,
sondern nur durch uns gemeinsam erschaffen werden.
Wenn wir glauben, wir könnten kein Paradies auf Erden erschaffen,
werden wir auch vergeblich nach einem Paradies in Eden suchen.
Wenn wir glauben, wir könnten dem Leben die Schuld für unsere Hölle geben,
werden wir auch Eden die Schuld für unsere Hölle geben.
Nichts muss bleiben, wie es ist.
Uns ist nichts gegeben, was wir nicht haben wollten.
Nichts ist festgesetzt, außer das, was wir festsetzen.
Glauben zu wissen, wie das Leben ist,
ist im Glauben schon paradox in sich selbst.
Denn Leben ist werden und nicht sein.
Leben ist Veränderung und nicht Stagnation.
Leben ist Schöpfung, wie Schöpfung Leben ist.
Nichts muss bleiben, wie es ist.
Wir selbst sind die Schöpfer von Himmel und Hölle.
Und du bringst mit dir, was du erschaffen hast.
Egal wo du bist, ob im Leben oder Tod
Denn dein Himmel oder deine Hölle ist in dir.
Im Schaffen ist Geben seliger denn Nehmen, weil es für unsere gemeinsame Seele ist.
Denn das wahre Herz liegt zwischen uns, denn wir sind eins.
Wir sind noch zu sehr davon überzeugt, dass es uns dadurch gut ergehen kann,
wenn dies zum Leid eines anderen geschieht.
Wir sind noch zu sehr von diesem Tier in uns beherrscht,
das uns den Weg ins Paradies so erschwert
dem Tier, dem wir drei Sechsen geben,
wie die Zahlen der drei Würfel, am Kreuze Jesu,
beim Spiel um seine Habe.
Und so stecken wir zwischen zwei Welten:
Für das Leben auf Erden zu klug.
Für das Leben im Paradies zu dumm.
Doch Leben ist Schöpfung, wie Schöpfung Leben ist
Und wir selbst sind Schöpfung, denn wir sind erschaffen worden, wie wir selbst erschaffen.
Und unser Freund ist auch jenes Werden, das wir die Evolution nennen.
So wird der Tag kommen, an dem wir das Tier in uns beherrschen.
Das Paradies kann nicht für sich selbst genommen,
sondern nur durch uns gemeinsam erschaffen werden!
Wir können uns unser eigenes Paradies oder unsere eigene Hölle erschaffen.
Denn wir selbst sind die Schöpfer von Himmel und Hölle.
Und du bringst mit dir, was du erschaffen hast.
Egal wo du bist, ob im Leben oder Tod.
Denn dein Himmel oder deine Hölle ist in dir.
So liegt es also nur an uns, was wir mit unserer Zeit anfangen werden, die uns gegeben ist.“
Und über den Bäumen und Hügeln des Garten Edens, ragte in prunkvoller Schönheit, der neu erbaute Palast aller Menschen in den Himmel und läutete, für alle sichtbar, eine neue Zeit der Menschheit ein.
„Alle sollen am Paradies teilhaben und es mit uns gemeinsam wachsen lassen.
Ehre sei dem, wer von dem gibt, was er erschaffen hat, zum Wohle aller, die da Eins sind, um den Prozess der Schöpfung fortzusetzen, mehr aus uns heraus zu werden, als wir sind, im Sinne Genesis.
Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.“
Der Alte Mann (der neue Mann)
Und ich drehte mich nach rechts und blickte glücklich überrascht, in das rot gebrannte Gesicht des alten Mannes, den nichts von seinem Platz, zwischen seinem Brunnen und seinem Apfelbaum, vertreiben konnte. Und als erster von allen Edenwesen, stand er nun hier, neben mir im Leben und sah mich etwas unsicher an.
„Ist das hier der Weg?“, fragte er mich und zog wieder seine rechte Augenbraue hoch.
Und ich freute mich, dass wir zusammen waren und endlich wieder miteinander redeten.
Und sein Gesicht sprach nicht nur von Befürchtungen, sondern auch von liebenswürdiger kindlicher Neugierde und einer lebendigen Lust, das Abenteuer im ehrenvollen Spiel mit der Schöpfung zu erleben.
„Ihr werdet es erleben, alter Mann.“, dachte ich mir und nickte ich ihm hoffnungsvoll zu. „Ihr werdet es erleben!“
„Die Sonne begrüßt dich und die Träume machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“
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Jeder von uns, ist wie je ein Finger derselben Hand, desselben Armes und des einen Körpers, der alles ist, was war, jetzt ist und immer sein wird. Er ist das einzig wahre Eine, in denen wir, in scheinbarer getrennten Teilen, gemeinsam das Eine bilden. Also liebt Euren Nächsten, wie Euch selbst, auf das wir uns einander begegnen, wie die Finger derselben Hand und gemeinsam (be)greifen, im Sinne des allwissenden Einen.
Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.
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Ende
Nachtrag
Ich möchte nicht hundertprozentig ausschließen, dass es sich hierbei vielleicht einfach nur um einen komplexen Traum gehandelt hat, der meiner eigenen Phantasie entsprungen ist. Interessant war für mich jedoch, dass ich selbst nicht die geringste Vorstellung hatte, wie sich die Geschichte entwickeln würde, wohin die Reise überhaupt gehen und wie sie enden würde und das sie ohne Lücken, sequenziell fließend, ziemlich logisch über drei Stunden ging und plötzlich stoppte, - keine weiteren Bilder oder Nachgedanken. Bemerkenswert war für mich auch, dass viele Dinge erst später, im laufe der Geschichte, ihren Sinn zeigten und entweder eine neue Bedeutung bekamen (siehe Bettlerepisode) oder eine vorherige Aussage untermauerten. Das beispielsweise die Villa am Ende der Geschichte zusätzlich ein Symbol für die anfängliche Singularität und später durch den Palastbau zum Symbol der Dualität werden würde, war für mich wirklich eine Überraschung. Um so mehr, dass dieses Thema in einer kleinen Episode innerhalb der Geschichte (auf dem Berg und im Dorf) nach dem Kennenlernen der Villa, aber vor dem Palastbau erwähnt wurde. Ich könnte mir zwar vorstellen, dass die Entdeckung der Diamanten und der Schöpfungsgedanke in meiner Phantasie gedanklich zu einem Palastbau führen könnte, das dieser in Eden dann aber zufälliger weise im Zusammenhang mit der Villa wieder ein Symbol des dualen Erwachens wird, weil zufällig vorher schon die Villa existierte, passt mir für einen normalen Traum einfach schon zu gut zusammen. In meinem Traum sah ich auch den Stand der Sonne und erkannte die Tageszeit. Interessanter weise konnte ich aufgrund meiner Bilder und der Sonnenstände nachträglich auch eine Karte zeichnen, ohne dass es Widersprüche gab. Theoretisch hätte ich ja auch eine neue Landschaft in der Richtung sehen können, aus der ich herkam, diese zweimal durchlaufen können oder mich beim „Vorwärtsgehen“ auf dem Rückweg befinden können. Aber es scheint alles einigermaßen gut zu passen. Bei meiner ersten Übernachtung beim „großen Stein“, schien mir anfänglich ein Widerspruch aufzufallen, da ich vom selben Schlafplatz neben dem Stein, sowohl den Sonnenaufgang, wie auch Sonnenuntergang sehen konnte. Dann wurde mir klar, dass die Sonne wohl nicht direkt im Osten auf- und Westen unterging, sondern jeweils etwas nördlicher.
Ich habe versucht, diese Geschichte, so authentisch wie möglich wiederzugeben, aber aus der Erinnerung ist das natürlich nicht immer ganz so einfach. Viele Details oder Erkenntnisse, sind mir beim Schreiben wieder sehr deutlich geworden, unwichtige fehlende Kleinigkeiten habe ich manchmal für ein besseres Lesen ein bisschen ausgeschmückt. Natürlich könnte ich nicht alle Aussagen wortwörtlich wiedergeben und so habe ich dann Formulierungen gewählt, die meiner Ansicht nach, dem so von mir verstandenen Sinn, Gefühl und Absicht, am nächsten kommen. Im „Dorf“ der Geschichte, sah ich in meinem Haus neben der Tür drei Zitate. Ich konnte mich hier leider nicht mehr an den ganzen Text erinnern, sondern hauptsächlich daran, dass dort etwas mit „ich in Dir, wie Du in mir“ oder so ähnlich vorkam und das sie „eins sein“. Irgendwann kam ich auf die Idee, in die Bibel zu schauen und fand die Abschlussrede von Jesus an seine Jünger, in der die Worte wieder vorkamen. (Ich kann mich leider nicht daran erinnern, dass diese wichtige Rede in meinem Konfirmandenunterricht erwähnt wurde.) Ich hatte dann drei Zitat aus drei unterschiedlichen Bibeln übernommen, die diese mir im Traum erlebte Aussage enthielten. Ich habe das Gefühl, das war richtig von mir. Die Dorfbewohner richteten sich u.a. auch nach den zehn Geboten. In meinem Traum waren sie aber in ihrer Aussage ein bisschen anders formuliert. Ich habe sie in meinem Buch dann so wiedergegeben, wie ich es im Traum verstanden hatte. Sie hatten außerdem noch weitere Gebote. Das letzte erschien mir jedoch nicht besonders spirituell. Die Dorbewohner schienen wohl spirituelles und praktisches miteinander verbunden zu haben. In dieser Geschichte hatte übrigens keiner einen Namen. Warum, weiß ich nicht. Es gab für Personen immer nur Klassifikationen wie z.B. der Fischer oder der Cowboy. Ich selbst war im Leben immer nur der Fremde. Namen waren wohl unwichtig. Wer in dieser Geschichte manchmal in meinem Kopf zu mir sprach, kann ich auch nicht mit Sicherheit sagen, aber ich empfand es als eine ganz normale, mir sehr vertraute Stimme, die mehr, als nur meine eigenen Gedanken wiedergab. Die Sprache dieser Stimme erschien mir etwas rätselhaft, geschwollen oder auch ein bisschen märchenhaft. Im „Leben“ sprachen die Leute in der dritten Person. Bei mir assoziierte dies die Zeit des Mittelalters. Die Kleidung, Bauten und Lebensweise schien dies aus meiner Sicht zu unterstützen. In „Eden“ hatte man sich geduzt. Das muss nicht unbedingt etwas zu sagen haben. Ich wollte es nur erwähnen. Die Einheit wurde mir im Traum nicht mehr so umfassend erklärt, wie ich es darstelle. Für mich wurde im Traum nur plötzlich etwas klarer und sicher, was ich so ähnlich schon geahnt hatte, weil ich bei meiner früheren wissenschaftlichen Forschungsarbeit, im Bereich sprachlicher Intelligenz, Wahrnehmung und Wissensverarbeitung im Kollektivwissen, für die Entwicklung eines neuen Computersystem, auf ähnliche Zusammenhänge im „Mikrokosmos“ stieß. Ich habe die sprunghaft erlebten Erkenntnisse in seinem zusammenhängenden Kontext niedergeschrieben.