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Der Geisterläufer
Ich erinnere mich noch an jede unbedeutende Einzelheit, das strahlend schöne Augustwetter, die jubelnden Zuschauer hinter den Absperrungen, das klaustrophobische Gedränge und die ewig langen Schlangen vor den Dixie-Klos. Es ist fast so, als könnte ich mich wirklich noch daran erinnern.
Seit ich als kleiner Junge den Film Marathon Man mit Dustin Hoffman gesehen hatte, war ich von der Idee fasziniert. Einmal in meinem Leben wollte ich einen Marathon laufen und den inneren Schweinehund, der mir diesen nutzlosen Speckgürtel um die Hüften beschert hatte, jaulend in seine imaginäre Hundehütte verweisen. Und endlich, nach Monaten des Trainings, nach all den scheinbar sinnlosen Entbehrungen war der alles entscheidende Tag gekommen. Das sportliche Großereignis, der Berlin Marathon warf seinen Schatten voraus und elektrisierte meine neu gebildeten Muskelstränge.
Meine Freundin Sofie war mit mir am Start erschienen, vordergründig nur zur seelischen Unterstützung, in Wahrheit aber als vollwertige Laufpartnerin. Aus einer spontanen Laune heraus und ohne ihre Zustimmung einzuholen, hatte ich sie als Teilnehmerin angemeldet. Hinterher hatte ich dann vehement darauf bestanden, dass sie mir zumindest die ersten paar Kilometer Gesellschaft leisten sollte.
Nicht ganz fair, zugegeben, aber letztendlich erfolgreich.
Noch neun Minuten bis zum Start. Mein Ruhepuls hämmerte bei gefühlten 120 Schlägen pro Minute. Unterdessen trat Sofie nervös auf der Stelle und warf mir ungeduldige Blicke zu.
„Meinst du wirklich?“
Ihre blassblauen Augen fixierten das überdimensionale Start-Banner über unseren Köpfen, hinter dem verschwommen das Brandenburger Tor in der aufsteigenden Hitze flimmerte. Ihre Pupillen zitterten.
„Na klar, Schatz“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Was soll schon großartig schief gehen? Wir sind schließlich beide in Topform, du und ich. Der Gesundheitscheck war mehr als positiv, also Kopf hoch. Das wird das reinste Kinderspiel.“
An den rinnenden Schweißperlen auf ihrer Stirn konnte ich deutlich erkennen, dass sie mir nicht glaubte. Trotz ihrer offensichtlichen Bedenken schenkte sie mir ein gequältes Lächeln, ohne ihren Blick auch nur einen Zentimeter von dem angsteinflößenden Start-Banner zu lösen. Wenn ich nicht in Kauf nehmen wollte, dass sie an den Folgen eines Kreislaufkollapses zusammenbrach, noch bevor wir uns auch nur einen Zentimeter von der Stelle bewegt hatten, dann war ich gezwungen sie auf irgendeine Weise abzulenken. Ich hatte außerdem nicht die geringste Lust, das Abenteuer Marathon als Einzelkämpfer in Angriff zu nehmen. Also war meine kreative Ader gefragt.
„Hör mal Sofie, kennst du eigentlich die Geschichte vom … äh, Geisterläufer?“
Beiläufig betrachtete ich meine Fingerspitzen während ich ihre Reaktion abwartete, die wie ein gut geöltes Schweizer Uhrwerk nicht lange auf sich warten ließ. Sofie sprang sofort auf das Stichwort Geist an und drehte ihren hübschen Kopf in meine Richtung.
„Was, Geisterläufer? Willst du mich verarschen?“
Eingeschnappt suchte sie in meiner ausdruckslosen Mimik nach verräterischen Anzeichen einer gemeinen Lüge. Natürlich wollte ich sie auf den Arm nehmen, was denn sonst? Eine kleine schaurige Nonsensgeschichte würde sie bis zum Start auf andere Gedanken bringen und außerdem hatte Sofie eine besonders ausgeprägte Eigenschaft, die ich nur allzu gern schamlos ausnutzte. Sie war unglaublich naiv, was sie in meinen Augen wiederum sehr sympathisch machte.
„Was? Nein, wie kommst du denn da drauf? Ich dachte, du hättest in der Zeitung davon gelesen.“
„Erzähl!“, forderte sie mich wie aus der Pistole geschossen auf.
Mein Plan war erwartungsgemäß aufgegangen. In ihren Pupillen spiegelte sich ehrliche Neugier und ich begann zu erzählen, wobei ich mir während des Sprechens die Handlung der Geschichte erst zurecht reimte.
***
„Okay … der Ausgangspunkt der mysteriösen Ereignisse war ein tragischer Todesfall, der sich … äh, vorletztes Jahr beim Marathon zugetragen hat. Ein junger Mann, etwa mein Alter, seines Zeichens der klassische Sportmuffel mit dem Schreibtischjob, der vorher kaum seine Ausdauer trainiert hatte, wollte es unbedingt noch einmal wissen und den lieben Kollegen aus seiner Abteilung beweisen, was für ein toller Hecht er doch sei.
Seine Kollegen hatten nämlich darauf gewettet, dass er es nicht bis hinter die Zielgeraden schaffen würde.
Und wirklich, der arme Kerl war schon nach den ersten Kilometern völlig ausgepowert und am Ende seiner Kräfte angelangt. Trotzdem dachte er nicht im Traum daran aufzugeben. Verbissen und unter Schmerzen quälte er sich immer weiter voran, Kilometer um Kilometer.
Auf halber Strecke brach er schließlich zusammen, mitten auf der Straße. Die Rettungssanitäter waren natürlich sofort zur Stelle und taten ihr Möglichstes, doch dem armen Kerl war nicht mehr zu helfen, sein Herz hatte aufgrund der ungewohnten Anstrengung kapituliert und einfach aufgehört zu schlagen. Er hatte den Geist aufgegeben, sozusagen. Natürlich war der Vorfall tragisch genug, um die Berichterstattung über den Marathon in den darauf folgenden Tagen und Wochen zu dominieren, du kennst ja die Skandalblätter und ihre einseitige Meinungsmache.
Nun, wie auch immer … das eigentlich Außergewöhnliche geschah erst im darauf folgenden Jahr, während des letzten Berlin Marathons. Etwa an derselben Stelle, an der zuvor der Mann ums Leben gekommen war, machte plötzlich eine übernatürliche Erscheinung das Teilnehmerfeld unsicher, ein geheimnisvoller Geisterläufer.
Mehrere Zuschauer und Läufer berichteten übereinstimmend von einem nebelhaften Wesen, das scheinbar ziellos - entschuldige bitte den Ausdruck - Amok lief und kreuz und quer in entgegen gesetzter Richtung durch das Teilnehmerfeld irrte.
Die meisten Läufer sahen den Geist rechtzeitig genug, um ihm auszuweichen, nur ein älterer Herr im Rentenalter hatte anscheinend keinerlei Notiz von der rätselhaften Erscheinung genommen und stieß frontal mit dem Geist zusammen oder besser gesagt, lief in ihn hinein. Rentner und Geist verschmolzen miteinander und was soll ich dir sagen, der Geist verflüchtigte sich genauso schnell wie er gekommen war. Sein … äh, wie heißt das Zeug noch gleich, aus dem Gespenster … genau, sein Ektoplasma wurde von der faltigen Haut des Senioren absorbiert.
Allerdings zeigte sich der alte Haudegen von dem Ereignis wenig beeindruckt. Schließlich war er noch erstaunlich fit für sein Alter und hatte in seinem Leben schon unzählige Marathonläufe problemlos überstanden, warum sollte er sich ausgerechnet von einem popeligen Gespenst ins Bockshorn jagen lassen. Er überholte selbst viele jüngere Teilnehmer vor ihm noch spielend, doch bei Kilometer 41, kurz vor dem finalen Zieleinlauf fasste er sich schmerzverzerrt an die Brust, fiel vornüber und blieb tot auf dem Asphalt liegen. Jeder Rettungsversuch kam zu spät.“
Sofie hing gebannt an meinen Lippen. Trotz fehlender Lagerfeueratmosphäre hatte ich mir anscheinend eine spannende Geschichte ausgedacht.
„Und die Moral von der Geschichte“ fuhr ich fort. „Tja also, allem Anschein nach war der Geist des Mannes ... der im Jahr zuvor gestorben war, du verstehst ... zurückgekehrt und hatte dem nächsten Opfer sein Brandzeichen aufgedrückt. Es waren übrigens die einzigen beiden Todesfälle, die sich je bei einem Berlin-Marathon zugetragen haben. So, das war’s, Happy End.“
Sofie sah mich mit großen ergriffenen Rehaugen an.
„Ist das auch wirklich wahr, die ganze Geschichte, meine ich?“
„So wahr ich hier vor dir stehe“ log ich frech und kreuzte zwei Finger meiner rechten Hand hinter meinem Rücken. Es fiel mir verdammt schwer, ein schiefes Grinsen zu unterdrücken.
Kurz bevor ich in prustendes Gelächter ausgebrochen wäre, fiel der Startschuss und erlöste mich aus meinem Dilemma. Endlich ging es los und ich hatte es tatsächlich geschafft, meine Freundin von ihren Versagensängsten abzulenken. Jetzt standen nur noch 42,195 Kilometer vor uns und der billigen Medaille mit Blattgoldüberzug, die man uns hinter der Ziellinie überreichen würde. Aber darauf hatte ich es sowieso nicht abgesehen, der Weg war bekanntlich das Ziel.
„Und du meinst also, der Geist wollte den alten Mann warnen?“
„Lass uns später darüber reden, Schatz, okay? Die Leute vor uns setzen sich schon in Bewegung.“
Ich sah zu Sofie hinüber, sie sah mich im wahrsten Wortsinn entgeistert an und dann begannen wir den ersten Marathon unseres Lebens.
***
Zunächst lief alles einwandfrei. Die Wetterlage war ausgezeichnet bei angenehmen Temperaturen um die 23 Grad. Außerdem sorgte eine laue Brise für eine milde Erfrischung auf unserer noch schweißfreien Haut.
Das Teilnehmerfeld war kurz nach dem Start noch dicht gedrängt, erst nachdem wir das Brandenburger Tor passiert hatten und durch den Tiergarten in Richtung Siegessäule liefen, trennte sich allmählich die Spreu vom Weizen.
Eine Gruppe von jungen Kerlen, vermutlich BWL-Studenten, keuchte bereits asthmatisch vor sich hin und ließ sich mühelos von uns überholen, dagegen legten ein paar rüstige Rentner mit Schirmmützen ein Wahnsinnstempo an den Tag, mit dem wir beide nur kurzzeitig Schritt halten konnten.
Alles in allem war die Stimmung ausgezeichnet. Man hatte in dieser frühen Phase des Marathons noch genügend Kraftreserven, um ein wenig Konversation zu treiben und die verschiedenen Nationalitäten in knappen Brocken ihrer Landessprache zu begrüßen.
„Bon Jour. Comment allez-vous?“
„Hi folks, where are you from?“
Wir trafen auf einen schwedischen Laufverein, ein bulgarisches Ehepaar und zu unser beider Erstaunen sogar zwei Behinderte an Krückstöcken, die trotz amputierter Unterschenkel ihr Bestes gaben um das ersehnte Ziel mit nur einem Bein zu erreichen. Ich wünschte ihnen viel Glück und beschleunigte mein Tempo.
Wie angekündigt gab es alle fünf Kilometer einen Getränkestand mit kaltem Wasser oder lauwarmem Tee in Plastikbechern. Ich und Sofie unterbrachen bei jedem Stand unseren Lauf um unsere inneren Wassertanks neu zu füllen, denn ausreichend Flüssigkeit war entscheidend für ein erfolgreiches Bestehen, das war uns beiden bewusst. Jeder kippte mindestens zwei Becher die trockene Kehle hinunter, ohne lange auf der Stelle zu verharren. Dann warfen wir die leeren Hüllen achtlos auf die Straße zwischen sich bewegenden Läuferwaden. Der Asphalt war mittlerweile übersät von zertretenen Überresten aus weißem Plastik, die knirschende Geräusche unter den Sohlen der Turnschuhe erzeugten.
Sofie hielt sich zu meiner Überraschung erstaunlich gut. Wir hatten bereits den zehnten Kilometer problemlos überstanden. Am Straßenrand hatten sich Zuschauer versammelt, um ihre Familienmitglieder und Freunde anzufeuern. Kleine Kinder reckten Transparente über ihre schmalen Schultern, auf denen geschrieben stand: Vati, du schaffst das oder Karl-Gustav, gib Gas, das Mittagessen wird kalt!
Ich fühlte mich einfach großartig. Die langweiligen Waldläufe zur Vorbereitung verblassten in meiner Erinnerung, während ich und Sofie in einem angenehmen Tempo durch die Straßen von Berlin joggten und die Sehenswürdigkeiten der Stadt nur so an uns vorbei flogen. Wie ein gigantischer Zug von Lemmingen folgte ein jeder seinem Vordermann und startete bei Gelegenheit ein kleines Überholmanöver.
Erstaunlich war, dass es kaum zu Rempeleien, Engpässen oder Staus kam, die Streckenführung folgte zumeist breiten Hauptstraßen oder doppelspurigen Alleen, sodass man nur äußerst selten gezwungen war, sein Tempo zu verlangsamen. Zu beiden Seiten sorgten Streckenposten oder Polizisten dafür, dass niemand die Absperrung durchbrach oder den Läufern zu nahe kam. Für Sicherheit war also gesorgt.
Ich hatte meine erfundene Geistergeschichte schon fast wieder vergessen als wir über den Kurfürstendamm in Richtung Gedächtniskirche liefen. Sofie machte noch immer einen hervorragenden Eindruck. Sie atmete tief und gleichmäßig und gab das Tempo vor, ich fühlte mich hingegen seltsam schlapp und fast schon am Ende meiner Kräfte angelangt.
Wehmütig entdeckte ich eine Reklametafel am Streckenrand auf der ein saftiger Cheeseburger und goldbraune Pommes appetitlich in Szene gesetzt waren. Hinter dem gigantischen Sesambrötchen mit gegrilltem Fleischbelag thronte ein majestätischer Pappbecher, randvoll gefüllt mit eisgekühlter Coca-Cola. Meine staubtrockene Kehle wurde augenblicklich mit Speichel benetzt, dann setzten die Seitenstiche ein.
Zunächst bemerkte ich nur ein leichtes Ziehen in meiner rechten Körperhälfte, doch schon Sekunden später kam es mir vor als ob meine Leber von brennenden Pfeilen durchbohrt werden würde, wie bei einer unglücklich verlaufenen Akupunktur der inneren Organe. Schmerzverzerrt blieb ich stehen und krümmte meinen Oberkörper nach vorn.
Sofie lief unbeirrt weiter, nach einigen Metern hielt sie jedoch an um nach mir zu sehen. Die Schmerzen machten mich fast wahnsinnig, eisiger Schweiß perlte von meiner Stirn und meine Lungen brannten. Ganz offensichtlich war ich unfähig weiter zu laufen, dennoch versuchte ich es krampfhaft um nicht als kompletter Versager vor Sofie dazustehen. Schließlich war ich es, der diesen Marathon unbedingt in seinem Lebenslauf verewigen wollte und nicht sie.
Im Moment war ich jedoch unfähig mir einzugestehen, dass mir meine Atemtechnik zum Verhängnis geworden war. Meine Organe litten unter akutem Sauerstoffmangel und meine Leber hatte im Grunde nur versucht, sich etwas Luft zu verschaffen. Eine kurze Verschnaufpause, dann würde ich mich schon wieder aufraffen und diesen verdammten Lauf zu mir selbst zu einem siegreichen Ende bringen. Plötzlich spürte ich Sofies Hand auf meiner Schulter.
„Was ist, alles in Ordnung?“ fragte sie mitfühlend.
„Ja klar … nur Seitenstechen … nichts Ernstes … geht gleich wieder …“ hechelte ich als Antwort und versuchte zu lächeln um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. In Wahrheit rebellierte meine angeschlagene Kondition erfolgreich gegen meine Willenskraft und wollte mich zur Aufgabe zwingen. Ich versuchte so gut es eben ging die eindeutigen Symptome meines Körpers aus meiner Wahrnehmung zu verdrängen und lief weiter, zwar deutlich langsamer als zuvor aber immerhin.
Es geht schon wieder, komm, du schaffst das, du bist eine Kämpfernatur redete ich mir ein. Doch im Gegensatz zu Sofie war mein inneres Ich nicht sehr leichtgläubig und insgeheim war mir auch hundertprozentig bewusst, dass ich es in meiner gegenwärtigen Verfassung nicht bis ins Ziel schaffen würde. Trotzdem dachte ich nicht im Entferntesten daran aufzugeben, sondern schleppte mich weiter, Kilometer um Kilometer, wie ein verwundeter Soldat auf dem Schlachtfeld.
Vor uns am rechten Streckenrand entdeckte ich verschwommen ein aktuelles Kilometerschild, 16 Kilometer war darauf in leuchtend weißer Schrift zu lesen. Erst 16 Kilometer.
Verdammt, noch nicht einmal die Hälfte der Strecke.
In der Ferne tauchte bereits der Eingang zum neu gebauten unterirdischen Straßentunnel auf, der das östliche Ende des Tiergartens mit dem Potsdamer Platz verband und erstmalig für einen Marathon freigegeben worden war.
Auf einmal entstand eine nervöse Unruhe im Teilnehmerfeld vor uns. Läufer sprangen panisch zur Seite, einige hechteten ungelenk in Deckung, wieder andere kreischten vor Überraschung laut auf. Irgendetwas kam uns entgegen. Und so seltsam es klingen mag, ich wusste instinktiv, was sich da unaufhaltsam näherte, meine Lügengeschichte war Realität geworden.
***
Auf einmal spürte ich keine Seitenstiche mehr, ich spürte überhaupt nichts mehr. Gebannt und unfähig mich zu bewegen, starrte ich stur geradeaus, als hätte man mir Scheuklappen aufgesetzt. Eine menschenleere Schneise hatte sich auf dem Mittelstreifen der Straße gebildet und eine Gestalt auf zwei Beinen näherte sich mir wie in Zeitlupe. In meiner Fantasie hatte ich ihn mir genau so ausgemalt, den Geisterläufer.
Schlagartig veränderte sich meine Wahrnehmung der Außenwelt und ich beobachtete Sofie teilnahmslos aus dem Augenwinkel heraus, die mir etwas zurief, doch ich hörte sie nicht.
Der Geist hatte mich bereits anvisiert, seine Beine schwebten deutlich über dem Boden und von seiner Gestalt war nur eine vage schlierenförmige Kontur zu erkennen. Sämtliche Läufer in meiner Umgebung waren verschwunden, hatten sich schutzsuchend zurückgezogen oder kauerten ängstlich hinter der Absperrung. Nur ich und mein frei erfundener Geist befanden sich noch auf dem verwaisten Asphalt, wie zwei sich duellierende Cowboys zwölf Uhr Mittags auf der Main Street.
Verängstigt und absolut unfähig einen klaren Gedanken zu fassen geschweige denn die Flucht zu ergreifen, befleckte ich meine hellen Sporthosen mit heißem Urin. Nur noch ein paar Meter Abstand trennten uns jetzt noch voneinander, fasziniert sah ich dem irrealen Wesen ins durchscheinende Antlitz.
Paradoxerweise wurde der Umriss des Kopfes auf seinen Schultern immer unschärfer, je näher er auf mich zukam. Es machte fast den Eindruck, als wäre der Geist ganz und gar kopflos, ein vollkommen orientierungsloses Wesen.
Noch bis vor kurzem hätte ich jeden hämisch ausgelacht, der mir etwas über die Existenz von Geistern, Zombies, Werwölfen und dergleichen berichtet hätte, doch in diesem Augenblick war alles anders. Wie ein willenloses Opfertier auf der Schlachtbank erwartete ich die Vereinigung mit meinem Todesboten aus dem Jenseits.
Nur einen Sekundenbruchteil vor unserem schicksalhaften Aufeinandertreffen spürte ich einen harten Stoß in die Rippen und wurde rüde zur Seite gestoßen. Ohne genau zu begreifen, was mit mir geschah, zog ich reflexartig die Arme vor den Oberkörper und landete unsanft auf dem Boden. Beim Aufprall schürfte ich mir den linken Ellenbogen auf.
Aufgeschreckt drehte ich mich um und blickte in die zornigen Augen eines jungen Mannes. Der grimmig dreinblickende Typ gab mir mit einer abfälligen Geste zu verstehen, dass ich ihm im Weg stand und er sich nicht anders zu helfen wusste. Er bemerkte scheinbar nicht, wie die Aura des Geistes unvermittelt in seinen Körper fuhr und sich in Form einer zerstäubenden Wolke mit ihm vereinigte. Bläulich schimmernder Dunst verflüchtigte sich geräuschlos zu allen Seiten, doch die einzige Reaktion des Mannes war, dass sich seine buschigen Augenbrauen zusammenzogen und er mir etwas in einer fremden Sprache zuraunte, irgend eine Beleidigung, die ich nicht verstand. Dann lief er weiter.
Völlig perplex blieb ich in meiner lächerlichen Position liegen und sah ihm mit offenem Mund hinterher. Der Geisterläufer hatte sich vollständig verflüchtigt und nichts zeugte mehr von seiner Existenz.
Mittlerweile war der junge Mann an der übernächsten Kreuzung angekommen, bog nach rechts in die Unterführung ein und verschwand endgültig aus meinem Sichtfeld. Das letzte, was ich von ihm wahrnahm war sein wallendes T-Shirt mit der Aufschrift WTC, das seinen massigen Körper wie einen wehenden Umhang umgab.
Sofie war in der Zwischenzeit auf die Straße geeilt und kniete neben mir nieder. Die anderen Marathon-Teilnehmer kamen derweil zaghaft zurück auf die Straße geeilt und tuschelten nervös durcheinander. Sie schienen sich gegenseitig zu versichern, dass sie allem Anschein nach einer Fata Morgana erlegen waren. Einer nach dem anderen nahm den Marathon wieder in Angriff, fast so als wäre nichts geschehen. Sofie ergriff meine rechte Hand, die bleich und leblos herabhing, eine blonde Haarsträhne klebte wellig an ihrer schweißglänzenden Stirn.
„Du hast mich also doch nicht angelogen“, waren ihre ersten Worte. „Es gibt ihn wirklich und er hatte es diesmal auf dich abgesehen.“
Ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte, widersprüchliche Gedanken kreisten unkontrolliert in meinem Verstand, ich musste das Geschehene erst einmal verdauen. Wie in Trance richtete ich mich wieder auf. Die Seitenstiche waren verschwunden und ich fühlte mich etwas schwindelig aber seltsam erleichtert.
„Lass uns weiterlaufen“ erklärte ich mit gespielter Überzeugung. „Ich denke, dass ich es bis ins Ziel schaffen kann.“
Sofie sah mich verdutzt an.
„Das meinst du jetzt nicht im Ernst, oder?“ entgegnete sie mit einem leichten Anflug von Zorn in ihrer Stimme. „Hast du deine eigene Geschichte verdrängt? Die beiden Todesfälle … die Warnung des Geistes … und die Erscheinung gerade eben?“
Sofie meinte es bitterernst, keine Frage. Doch in meinem Inneren kämpften zwei entgegen gesetzte Stimmen um die Meinungsführerschaft, wie bei der abgedroschenen Metapher mit dem Engel und dem Teufel auf den Schultern. Ich wusste einfach nicht, wie ich mich entscheiden sollte, Weiterlaufen oder Abbruch und das Eingeständnis, versagt zu haben. Letztendlich entschied ich mich schweren Herzens für Sofies Ratschlag. Der Geisterläufer hatte sein Ziel erreicht und mir einen gehörigen Schrecken eingejagt.
„Gut, wenn du unbedingt willst, dann bin ich halt ein elender Versager. Nächstes Jahr ist schließlich auch wieder eine Gelegenheit.“
Innerlich fühlte ich mich erbärmlich, doch Sofie umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange.
„Das war die absolut richtige Entscheidung, glaub’ mir.“
Genau da war ich mir alles andere als sicher, doch Sofie strahlte mich überglücklich an, als sei ihr ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. Die Erscheinung des Geistes schien sie weit weniger beunruhigt zu haben als mein soeben geäußerter Wille, doch noch weiterzulaufen. Und als meine geistige Verwirrung allmählich wieder klaren Gedanken wich, traf ich eine Entscheidung.
„Hör mal, wenn ich schon diesen gottverdammten Marathon nicht zu Ende laufen kann, dann solltest du es wenigstens versuchen. Wenn ich es mir recht überlege, stehen deine Chancen wirklich gut, Hauptsache du übertreibst es nicht so wie ich.“
„Glaubst du, bisher bin ich höchstens zehn Kilometer im Park …“
„Nichts da! Deine Tagesform ist ausgezeichnet. Wenn du es mit deiner Geschwindigkeit nicht übertreibst und weiterhin an jedem Getränkestand eine Pause einlegst, dann sollte es für dich eigentlich zu schaffen sein. Na ja, Blasen an den Füßen wirst du hinterher wahrscheinlich schon bekommen.“
Verwundert über mich selbst klopfte ich ihr mehrmals auf die Schulter, um ihr Glück zu wünschen. Sofie lächelte mich wortlos an, umarmte mich und lief weiter. Ihre Silhouette schrumpfte mit zunehmender Entfernung auf Daumengröße zusammen, dann schlängelte sie sich elegant an einer Gruppe von Läufern vorbei und bog nach rechts in die Unterführung ein. Als sie von der Dunkelheit des Tunnels verschluckt wurde, verlor ich sie endgültig aus den Augen.
***
Erschöpft, aber auch seltsam erleichtert schlurfte ich der nächstgelegenen Bushaltestelle entgegen, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Meine Fußsohlen schmerzten bei jeder Bodenberührung und meine Kniescheiben knirschten auf den blanken Oberschenkelknochen. Einige Zuschauer, hauptsächlich ältere Damen mit kleinen aufgedunsenen Pelzknäulen auf dem Arm, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Hunden besaßen, machten ein mitleidiges Gesicht in meiner Gegenwart. Andere grinsen höhnisch und schienen mich für mein Aufgeben zu verachten. Ich ignorierte ihre Blicke so gut es eben ging.
Ein kleiner Junge hielt mir eine noch nicht ganz reife Banane entgegen, die ich dankbar annahm und gierig verschlang, woraufhin das flaue Gefühl in meinem Magen fürs Erste verschwand.
Ich beschloss, mit dem M45er Bus zur Zielgeraden vorzufahren um dort auf Sofie zu warten. Wenn sie ihr gegenwärtiges Tempo beibehielt, dann würde sie vermutlich in knapp zwei Stunden dort eintreffen. Ich konnte also noch in aller Ruhe ein wenig ausspannen und vielleicht einen kleinen Imbiss zu mir nehmen, eine Currywurst oder einen Döner mit Schafskäse. Meine miserable Laune verbesserte sich geringfügig und ich war gerade am Haltestellenschild angekommen, als plötzlich, ohne Vorwarnung ein gewaltiges Dröhnen das Trommelfell in meinen Ohren bis zur Schmerzgrenze vibrieren ließ. Sekunden später bebte die Erde und eine gewaltige Hitzewelle strömte über mich hinweg.
Was zum …?
Mein Gehör wurde von einem schrillen Ton überlagert und die überraschten Schreie der umstehenden Passanten drangen nur dumpf zu mir durch. Benommen torkelte ich in Richtung Straße. Eher aus purem Zufall warf ich einen Blick in Richtung der Unterführung. Was ich dort sah, konnte ich im ersten Moment kaum glauben, geschweige denn begreifen, doch mein vernebelter Verstand wurde von einem Adrenalinschock überflutet und ich wurde augenblicklich hellwach.
Aus dem Tunnel, der jetzt einem gigantischen Maul aus Stahlbeton glich, stieg schwarzer Rauch in den sonnigen Nachmittagshimmel empor. Menschliche Umrisse wankten aus dem Inneren hervor, stöhnende Gestalten, die mich an lebende Tote erinnerten. Die mit Sicherheitsnadeln angesteckten Startnummern auf ihren Hemden waren blutverschmiert, ihre Blicke starr, leer und glasig. Ein apathisch wirkender Mann mit wüst abstehenden staubbedeckten Haaren reckte mir seine zerfetzten Armstümpfe entgegen.
Staunend betrachtete ich den Albtraum, der sich gerade vor meinen Augen abspielte. Das konnte doch alles unmöglich passieren. Unterbewusst speicherte ich jedes Detail in meiner Erinnerung ab während ich mich wie ferngesteuert dem Tunneleingang näherte. Eine schwangere Frau mit kurzen schulterlangen Haaren, der das Blut in Sturzbächen die Oberschenkel hinabströmte, bettelte mich um Hilfe an, doch ich beachtete sie kaum.
Einer Vorahnung folgend, betrat ich den Tunnel.
Grässlich verstümmelte Menschen kamen mir entgegen, einige wimmerten leise vor sich hin, andere schlurften nur teilnahmslos an mir vorbei. Das Epizentrum der Explosion lag jetzt direkt vor mir und das Bild der Verwüstung war in seiner ganzen schrecklichen Dimension nahezu unbeschreiblich.
Die eben noch neuen Kacheln an den Tunnelwänden waren aus den Fugen gesprengt worden, zerbrochene Keramikscherben lagen überall auf dem Boden verstreut und aus zersplitterten Neon-Röhren, die schief von der Decke hingen, flackerte gelbliches Licht. An der Stelle der Explosion war nur noch ein muldenförmiger rußgeschwärzter Krater im Boden zurückgeblieben, die Ränder des Kraters waren mit Kleidungsfetzen und eigentümlichen Überresten von schwarzem Leder verziert.
Links neben mir ragte noch ein verkohlter Arm aus einem grünen T-Shirt. Auf dem zerfetzten Baumwollhemd war die Aufschrift WTC zu erkennen und ich erkannte das Hemd des jungen Mannes wieder, das mich vor nicht einmal zehn Minuten an einen wallenden Umhang erinnert hatte. WTC … World Trade Center.
Zusammengekrallte Finger umschlossen einen länglichen Gegenstand, aus dem ein verschmortes Kabel herabhing. Wie ein gezielter Schlag in die Magengrube wurde mir bewusst, was sich abgespielt haben musste. Niemand, mich eingeschlossen hatte den Warnungen des BKA vor einem Terroranschlag in Berlin Beachtung geschenkt. So etwas geschah in allen möglichen Teilen der Welt, nur nicht hier bei uns. Mein klägliches Rest-Selbstbewusstsein verabschiedete sich vollends ins Nirwana und meine Knie zitterten wie morsches Holz, das jederzeit zu brechen drohte. Dennoch setzte ich meine Suche fort. Noch hatte ich Sofie nicht gefunden.
Wie unter Hypnose absolvierte ich einen morbiden Hindernislauf, stolperte über abgerissene Arme und Beine und sah mich vor, nicht in einer rötlich schimmernden Blutlache auszurutschen.
Dann entdeckte ich Sofie. Ihr zerfetzter Torso, aus dem die Rippen ihres Brustkorbes wie verdrehte Spinnenbeine herausragten, lehnte seitlich an einer Tunnelwand. Der vollkommen mit glänzendem Blut überzogene Fleischklumpen, der noch vom Körper meiner Freundin übrig geblieben war, erinnerte mich an einen glasierten Weihnachtsapfel. Ihr grauenvoller Anblick trieb mir die Tränen in die Augen. Nur anhand ihrer Startnummer konnte ich sie überhaupt noch identifizieren. Sofies hübscher Kopf war verschwunden, aus dem offenen Halsstumpf sprudelte jetzt roter Lebenssaft wie aus einem frisch angezapften Bierfass.
Zitternd wendete ich mich von dem entsetzlichen Anblick ab und versuchte so gut es eben ging, die Fassung zu wahren, was mir nicht recht gelingen wollte. Sofies zierlicher Kopf war anscheinend von der Druckwelle der Explosion abgerissen und zurückgeschleudert worden. Mit einem verschwommenen Tränenschleier vor den Augen wankte ich den Weg zurück, den ich gekommen war und hielt dabei den Blick stur gen Boden gerichtet.
Nur wenige Meter vor dem Tunneleingang fand ich ihn endlich, Sophies dunkelblondes Haar klebte noch auf dem Asphalt. Ich beugte mich herunter, nahm ihren Kopf zärtlich zwischen beide Hände und hob ihn vorsichtig zu mir nach oben. Ihre am Boden haftenden Haarsträhnen lösten sich mit einem widerwärtig reißenden Geräusch vom Straßenbelag.
Mit ehrlicher Erleichterung sah ich in ihr makelloses Antlitz. Ihr Gesichtsausdruck war noch exakt derselbe, mit dem sie sich vor kurzem von mir verabschiedet hatte und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, dann hätte ich schwören können, sie würde mich anlächeln.
Ihren Kopf wie eine lieb gewonnene Trophäe unter den Arm geklemmt, wankte ich zurück ins Freie.
Sofies Geist begleitete mich.
Es machte mir überhaupt nichts aus, dass ich soeben den Verstand verloren hatte.