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Der Glücksbringer
„Hallo, Bürgermeister Zhong? Bitte sagen Sie allen, Großvater und ich sind angekommen.“
„Hallo, kleine Lu-Mei. Ja, natürlich werde ich es ausrichten. Hat man schon etwas gesagt? Hat dein Großvater ein gutes Zimmer bekommen?“
„Ein Zimmer noch nicht. Er wird gerade untersucht. Bürgermeister, ich muss mich beeilen.“
„Oh, ja, natürlich. Ich werde deine Eltern ermahnen, zu ihren Ahnen zu sprechen.“
„Danke, Bürgmeister. Ich rufe bald wieder an.“
„Viel Erfolg, kleine Lu-Mei.“
Ich greife nach der schweren Tasche und renne schnell wieder die Treppen hinauf. Selbstverständlich gibt es in der Empfangshalle einen Aufzugbereich mit vier Liften. Aber zu viele Menschen stehen davor. Ich nehme die Stufen und schiebe mich durch Patienten, Besucher und Scharen von weißen Spitalsangestellten. Dabei hoffe ich, dass ich mich in diesem riesigen Komplex nicht verlaufe. Es ist schon etwas vermessen gewesen von mir, mich davonzustehlen, während Großvater hinter einer großen, schweren Tür untersucht wird. Aber ich habe anrufen müssen; meine Eltern und die anderen Menschen im Dorf warten doch auf ein Lebenszeichen von uns.
„Enkelin von Herrn Wang?“ Ich bin gerade durch die Stationspforte geeilt, rechtzeitig, denn Großvater und der junge Doktor Yang Li kommen gerade aus dem Untersuchungszimmer. Ich laufe schnell zu ihnen, weil ich weiß, dass der Doktor ein viel beschäftigter Mann ist.
„Enkelin von Herrn Wang, nach den Routineuntersuchungen bei Ihrem Großvater sind die Ergebnisse durchaus beunruhigend. Es müssen aber weitere Untersuchungen durchgeführt werden. Ich empfehle Ihnen, Ihren Großvater bei uns zu lassen.“ Der junge Arzt ist groß, es ist nicht leicht, zu einem Menschen hoch zu schauen und gleichzeitig bei seinen Ausführungen ständig zu nicken.
„Ja, verehrter Doktor. Wir sind vorbereitet.“
„Gut, nehmen Sie diese Einweisung mit und gehen zur Administration.“
„Ja, verehrter Doktor.“
„Kommen Sie nach den Formalitäten wieder zu mir. Und halten Sie ihren Großvater nüchtern.“
„Ja, verehrter Doktor. Ich werde das so tun. Komm, Yeye!“ Ich greife nach Großvaters Arm, aber er wehrt ab und stapft zum Stationsausgang.
„Lu-Mei, dein Yeye ist noch nicht tot. Du brauchst mich nicht zu stützen.“ Ich muss lachen.
„Ich weiß, Yeye. Aber der verehrte Doktor soll doch sehen, dass ich besorgt bin um dich.“
„Hach“, winkt er ab, „was geht ihn das an?“
„Na, dann lass uns gehen“, sage ich munter und hake mich bei diesem kratzbürstigen alten Mann ein, was ihm wesentlich besser gefällt.
Wir warten auf den Aufzug, fahren in die Empfangshalle, dort setzt sich Großvater auf die Ziermauer, die eine grüne Vielfalt von Pflanzen einrahmt. Kein Sitzplatz ist frei. Ich lächle ihm zu, bewege mich ans Ende einer Warteschlange - oder besser einer Warteanakonda - und stelle die Tasche ab, die ich von nun an mit dem Fuß vor mir her schiebe. Aber die Pause tut gut, ich finde etwas Ruhe und spiele mit meinen Glücksbringer, der mir an einem Lederband um den Hals hängt.
„Hier kann ich nicht helfen. Ich glaube, euer Vater muss in ein Krankenhaus“, hat vor vier Tagen der Dorfmediziner zu meinen Eltern gesagt. Natürlich ist er kein gelernter Doktor, vielmehr ein erfahrener Kräuterkundiger, und die nächste medizinische Station ist in einer kleinen Stadt, viel zu weit weg. Darüber hinaus hilft der Heiler mit traditioneller Medizin, die seit hunderten Jahren von Generation zu Generation überliefert wird. Das kennen die Bauern, darauf vertrauen sie.
Ich blicke mich um und sehe, wie Großvater wieder in sich zusammen fällt. Es zerreißt mir das Herz, dass ich nicht zu ihm gehen kann. Er wird es alleine schaffen, denn wenn ich die Reihe verlasse, muss ich mich wieder hinten anstellen. Die Zeit hat Großvater vielleicht nicht.
Bei diesem Gedanken halte ich den grünen Stein fest in meiner Faust.
„Wang Lu-Mei wird mitgehen“, hat meine Mama vorgeschlagen, „sie ist die Gebildete unter uns.“ Von allen Dorfbewohnern bin ich die erste, die in die Stadt gezogen ist, um zu studieren. Ich bin auch bislang die Einzige, die auf dem College den Abschluss gemacht hat. Das ganze Dorf hat Geld gegeben, damit ich auf die große Universität gehen kann. Und seit zwei Jahren studiere ich Agrarwirtschaft. Moderne Anbaumethoden, effiziente Tierhaltung, Anschaffungen von Bewirtschaftungsmaschinen und natürlich Politik und Geschichte. Die Bewohner versprechen sich viel davon, und ich hoffe, ich werde sie nicht enttäuschen.
Die Stadt ist wunderschön, die Lichter, die riesigen Häuser, der endlose Fluss von Autos, und überall sehe, rieche und höre ich Menschen. Aber ich nehme mir nicht viel Zeit, mich diesen Eindrücken hinzugeben. Ich lerne fleißig, und wenn ich Ferien habe, zieht mich mein Heimweh zu meiner Familie und den lieben Menschen in unserer Provinz. Seit letzter Woche habe ich meine Erholung in der Feldarbeit neben Mama und Papa gefunden.
Erleichtert sehe ich, dass Großvater sich wieder aufrichtet, vielleicht ist er nur müde. Die Fahrt war beschwerlich für ihn. Der Bürgermeister hat einen alten Lieferwagen, mit dem er uns heute morgen bis zur Haltestelle der nächsten Kleinstadt gebracht hat. Die holpernde Fahrt hat fast drei Stunden gedauert und wurde anschließend von einem stets schaukelnden Bus abgelöst.
Als Nächstes bin ich an der Reihe. Die Schlange hat nichts von ihrer Länge eingebüßt, nur bin ich endlich vorne. Vor mir die milchige Glastür, hinter der sich zehn Schalter befinden. Großvater hat seine Augen geschlossen, das vermute ich. Er sitzt ganz ruhig. Als eine Frau herauskommt, gehe ich hinein. Ein uniformierter Mann weist mich an, zum Platz sechs zu gehen. Die Angestellte dort winkt mich bereits herbei. Ich beeile mich zum Schalter, schiebe Großvaters Ausweis und das Attest vom jungen Arzt durch den Spalt. Sie schaut mich ernst an und fragt:
„Hat Herr Wang eine Penizillinallergie?“
„Nein!“
„Hat Herr Wang eine …“
„Uns sind keine Allergien beim Großvater bekannt“, unterbreche ich sie ungeduldig.
„Enkelin von Herrn Wang“, maßregelt mich die Sachbearbeiterin mit ehrfurchterregender Miene, „es ist ein medizinischer Ablauf, den Sie zu unterstützen haben, indem sie jede einzelne Frage beantworten.“ Ich bitte sie um Entschuldigung und zwinge mich, gehorsam Punkt für Punkt Stellung zu nehmen.
„Unterschreiben Sie hier. Danke. Nehmen Sie diese Durchschläge und gehen damit zur Kasse. Sobald Sie bezahlt haben, melden Sie Herrn Wang bei dem Stationsarzt. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen“, erwidere ich, deute eine Verbeugung an und eile hinaus.
„Yeye, geht es dir gut? Hast du geschlafen?“
„Habe keine Angst um deinen Yeye, liebe Sunnü. Er ist stark, er ist stark!“
„Natürlich bist du das“, bestätige ich ihm und lache ihn an. „Und du brauchst deine Stärke noch ein Weilchen, denn ich muss zuerst bezahlen.“
„Geh nur! Lass mich hier nur sitzen und die vielen Menschen beobachten.“ Ich nicke ihm zu und renne vorbei an den Medikamentenschaltern zu der zweiten Anakonda, die noch viel länger ist. Von allen Seiten, von den Stationen, vom Eingang des Krankenhauses und von der Administration kommen die Patienten oder Angehörigen und reihen sich vor der Kasse ein. Dickes Glas trennt uns von der Doppelkabine, hinter der zwei Kassiererinnen sitzen, die in einem beeindruckenden Tempo die Formulare lesen, das Geld einziehen, stempeln, unterschreiben und Dokumente samt Quittung zurückgeben.
„Und so geht das Flugzeug. Brumm, brumm.“ Ich denke gerne daran, wie ich klein war. Großmutter hatte mich betreut. Die Männer und jungen Frauen sind tagsüber auf den Feldern. Die alten oder schwangeren Frauen versorgen währenddessen die noch nicht schulpflichtigen Kinder, bereiten das Mittagessen für alle Dorfbewohner und kümmern sich um den Großteil der Wäsche. Großvater kam mit den anderen alten Männern immer früher nach Hause als meine lieben Eltern. Und jedes Mal schnappte er mich, hievte mich auf seine Schultern, breitete seine Arme aus und lief und drehte sich im Kreis.
„Schneller, schneller. Und höher“, rief ich. Ich muss lächeln, bei diesen Erinnerungen. An manchen Sonntagen war ich mit Großvater allein im Wald. Dann hatte er einige verschiedene Messer bei sich und brachte mir deren Umgang bei. So hatte ich gelernt, aus Wurzelholz Pandabären und Schildkröten zu schnitzen. Großvater aber werkelt immer noch leidenschaftlich kunstvoll verschnörkelte Stielpfeifen. Jedoch habe ich nicht gesehen, dass er jemals eine von ihnen benutzt hätte.
„Ihr Großvater ist für drei Tage in einem Mehrkrankenzimmer eingeschrieben. Für ihn sind einige Untersuchungen, die auf dem Attest vermerkt sind, vorgesehen. Zahlen Sie fünftausendvierhundertfünfzig Yen.“ Endlich! Ich seufze lautlos und renne zurück zum Großvater. Es dämmert schon, und Großvater sitzt, obwohl viele Plätze jetzt frei sind, immer noch duldsam auf der Mauer. Seine Augen sind geschlossen.
„Fertig, Yeye!“, störe ich seine Meditation.
„Ah, meine kleine Lu-Mei. Dann können wir gehen.“ Er steht auf, ich hake mich bei ihm ein, und wir marschieren zurück zur Station.
Am Empfangstisch streckt eine alte, wortkarge Schwester ihren Arm zu uns aus, in deren Hand ich die Dokumente lege. Sie prüft mit großer Gewissenhaftigkeit jeden Zettel.
„Xiaohong“, ruft sie und aus der kleinen Küche kommt eine junge Schwester, nimmt die Unterlagen, wirft einen schnellen Blick auf sie, schaut uns an und lächelt. Das erste Lächeln seit vielen Stunden.
„Bitte Herr Wang und Enkelin von Herrn Wang. Folgen Sie mir! Es ist Raum sieben eins neun. Bitte, hier entlang.“ Wir gehen ihr hinterher, bis wir uns in einem nüchtern eingerichteten Sechspersonenzimmer wieder finden, in dem genau ein Bett frei ist.
„Liebe Patienten und Angehörige der Patienten, das ist Herr Wang und Enkelin von Herrn Wang.“ Drei ältere Frauen sitzen an einem Holztisch, zwei andere stehen an den Betten ihrer Angehörigen. Sie alle schauen uns an, nicken höflich und stumm. Die Schwester deutet zu der Toilette und sieht mich an.
„Hier kann Herr Wang sich umziehen. Er soll sich bitte schnell hinlegen. Wenn Sie Hilfe brauchen, dann sagen Sie mir Bescheid.“
„Nein, verehrte Schwester. Ich schaffe das schon“, gebe ich zuversichtlich an.
„Das ist gut!“ Sie lächelt wieder und schließt die Tür von außen. Ich stelle mich vor meinen müden Großvater und lege meine Hand auf seine Wange. Sein Gesicht strahlt nicht mehr die Energie von vor gut zwei Jahren aus.
„Wenn sie nicht heiraten will, dann lass sie doch!“ Ich erinnere mich daran, wie er und Papa stritten.
„Vater, Lu-Mei ist versprochen. Sie wird Lin-Sheng-Hu heiraten. Noch im kommenden Sommer.“
„Ach, Unfug. Schau sie dir an! Schau dir meine Enkelin an. Willst du diese Perle in die groben Hände von dem verfressenen Sohn von Lin-Hong-Ge geben? Außerdem, das ist ein unsinniger und alberner Brauch, seine Kinder zu versprechen.“
„Was? Vater? Du selbst hast mich versprochen. Du hast alle deine Kinder versprochen. Was redest du denn da?“
„Und du hast eine gute Frau bekommen. Versteh doch, meine Lieblingsenkelin ist viel zu schön, viel zu zart und viel zu klug für diesen Bauern.“
„Du kannst reden, was du willst. Sie wird Lin-Sheng-Hu heiraten. Diesen Sommer! Ich muss zu meinem Versprechen stehen.“ Ich erinnere mich noch sehr genau an Großvaters zornige Erwiderung, bei der er drohend seine Hand hob, als wollte er Papa schlagen:
„Wo ist dein Respekt zu deinem Vater? Du bist ein törichter Sohn. Ich habe mit dem Bürgermeister gesprochen. Wenn Lu-Mei das College beendet hat, werden wir sie zur Universität schicken. Und du wirst zustimmen!“
Es wird spät. Wir Frauen sitzen in Decken gehüllt bei unseren Kranken und versuchen zu schlafen. Sie alle sind die Gattinnen der Patienten, und ich habe die Gelegenheit gehabt, kurz mit einigen von ihnen zu reden. Wir haben die Leidenschroniken ausgetauscht, und ich bin in meiner Vermutung bestätigt worden, dass wir in der Krebsstation gelandet sind. Das also ist das ernste Ergebnis. Zhong Wei-Jies Ehemann wird wohl sogar bald operiert werden. Ich habe versucht, sie mit einem Lächeln aufzumuntern. Für Großvater habe ich das Vertrauen in meine Ahnen. Sie werden ihm und mir beistehen, sie und mein Glücksbringer, den ich oft berühre.
In der Nacht werde ich aus dem Schlummern gerissen, als Großvater schmerzvoll aufstöhnt. Voller Schreck laufe ich hinaus und rufe nach dem Nachtdienst. Ich danke meinen Ahnen, die Schwester und der verhärmte Notdienstarzt sind gleich an der Empfangstheke in einem Gespräch vertieft. Sie kommen sofort herbei. Der Doktor untersucht Großvater mit ernster Miene und schreibt ein Medikament auf.
„Aber die Voruntersuchungen sind noch nicht abgeschlossen“, gibt die Nachtschwester zu bedenken.
Der Mediziner schaut sie strafend an, reißt den Zettel vom Block und gibt ihn mir mit den Worten:
„Beeilen Sie sich. Ich werde hier warten.“ Ich stürme raus, die Treppe hinunter durch zwei, drei, vier Glastüren, in die Empfangshalle. Einer der beiden Medikamentenschalter ist frei, und ich stecke das Rezept durch den Dokumentenschlitz. Eine ältere Frau in weißer Schwesterntracht wirft einen flüchtigen Blick darauf, nimmt ihren Stift, schreibt den Preis neben die Unterschrift des Arztes und schiebt es zurück. Ich reiße ihr das Stück Papier fast aus den Händen und renne zu den Kassen. Nur vier übernächtigte Leidensgenossen sind vor mir. Dennoch, das Warten nagt an meinen Nerven. Was ist, wenn ich zu spät komme? Ich bin schnell dran. Auch hier stecke ich das Rezept durch den Schlitz, zahle den geforderten Betrag und haste zurück zum Medikamentenschalter, wo ich eine verpackte Arznei ausgehändigt bekomme. Drei Stufen auf einmal nehmend hetze ich zurück zur Station . Der Arzt hat nicht Wort gehalten, er steht wieder mit der Schwester an der Empfangstheke, reagiert aber sofort, als ich ihm die Medizin gebe, und füllt eine Spritze damit.
Großvater hat in seinen Schlaf zurück gefunden. Ich hoffe, er wird mir verzeihen, dass ich so langsam gewesen bin. Ich streiche ihm über die Stirn.
„Machen Sie sich keine Gedanken, mein liebes Kind.“ Zhong Wei-Jie sitzt rückwärts auf dem Stuhl, stützt sich auf die Lehne und schaut mich mit einem Auge an. Sie lächelt, und das tut mir gut. „Manchmal werde ich drei Mal in der Nacht aufgefordert, Medizin zu kaufen.“
„Ich beklage mich nicht. Wenn es nur Großvater wieder heilt.“ Ich fühle, dass sich eine Träne aus meinem Auge lösen möchte. Schnell greife ich nach meinem Glücksbringer.
„Ihr Großvater wird bald wieder gesund“, versichert mir die Frau. „Gibt es Ihnen Kraft?“ Ich öffne meine Hand und zeige ihr den grünen Stein. „Bringt er Glück?“
„Ich habe ihn von meinen Ahnen.“ Die Frau beugt sich etwas vor.
„Schön ist er. So grün wie Jade.“
„Ich glaube, es ist ein Nephrit. Aber ich finde ihn auch sehr schön.“
„Mein Mann sammelt Ziersteine.“ Ich nicke geistesabwesend.
Großvater hat die ganze Nacht durchgeschlafen. Die Schwestern bringen den Patienten das Frühstück, und sie stellen auch etwas Suppe und Tee für die Angehörigen bereit, nicht ohne darauf aufmerksam zu machen, dass sie das eigentlich nicht tun dürfen. Müde und hungrig nehmen wir diese Gabe dankbar an.
Zhong Wei-Jie ist zu einem Gespräch ins Chefarztbüro geladen worden, während der junge Doktor Yang Li Großvater für weitere Untersuchungen abgeholt hat. Dabei hat er mich informiert, dass wahrscheinlich weitere Untersuchungen und Medikamentenkäufe auf mich zukommen werden. Ich begleite Großvater und halte mich bereit. Bis auf einen kurzen Aufenthalt im Krankenzimmer, wo Großvater seine Mahlzeit eingenommen hat, ist der Tag gefüllt mit Untersuchungen und auf dem Warten darauf gewesen. Ich wurde nur einmal aufgefordert, eine Untersuchung nachzukaufen. Am Nachmittag, nach Ende der Prozeduren, ist Großvater erschöpft. Ich darf mir für ihn einen Rollstuhl ausleihen, und wehrlos lässt er sich zurück in seinen Raum schieben.
Als ich ins Zimmer komme, erschrecke ich. Zhong Wei-Jie schließt die letzte Tasche. Tränen laufen unkontrolliert herunter. Ihr Ehemann ist angekleidet und stützt sich am Bettpfosten ab.
„Zhong Wei-Jie, was ist geschehen?“, frage ich in scharfem Ton.
„Sie haben gesagt – Operation.“
„Dann weinen Sie nicht! Lassen Sie die verehrten Doktoren Ihren Mann operieren.“
„Sie verstehen nicht, Wang Lu-Mei. Die Operation ist zu teuer. Mir fehlen fünfundzwanzigtausend Yen. Wir sind arme Menschen. Woher soll ich so viel Geld noch holen?“ So viele Schicksale, die um unser eigenes Schicksal herum ihr Unwesen treiben. In meiner Heimat stehen wir füreinander ein, soweit wir es können. Ich gehe in die Hocke und schaue Großvater an, der eingeschlafen zu sein scheint. Leise flüstere ich ihm zu:
„Yeye, du wirst bestimmt schneller gesund werden, als unser Geld ausgeht, ja? Nainai wird darauf achten!“ Zhong Wei-Jie hängt zwei Taschen über Kreuz um ihren Hals und stützt ihren Gatten, während sie beim Rausgehen darauf achten, kein Bett anzustoßen.
„Zhong Wei-Jie, bitte warten Sie! Nehmen Sie dieses Geld und lassen ihren Ehemann operieren.“ Ich reiche ihr einen Bündel Banknoten. Die Frau blickt mich mit staunenden Augen an und nimmt kaum zögernd das Geld.
„Verehrte Wang Lu-Mei, ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen sehr.“ Ich lächle sie an und wir helfen uns gegenseitig, die Männer zu betten. Dann läuft sie mit dem Geld in der Hand raus. Der grüne Stein glänzt, offenbar ist Flüssigkeit, vielleicht sogar eine Träne, auf ihn gefallen. Ich trockne ihn ab und sehe Großmutter vor fast acht Jahren.
„Sunnü, du bist ein ganz besonderer Mensch. Du hast die Güte in deinem Herzen.“ Ich weiß noch, wie gern ich sie hatte nach der langen Zeit, in der ich als Kind mit ihr zusammen war. So viel gelernt habe ich bei ihr, und so viele Geschichten über unsere Ahnen hat sie mir erzählt.
„Deshalb möchte ich dir etwas schenken.“ Sie gab mir diesen Anhänger mit dem grünen Stein.
„Was ist das, Nainai?“
„Das ist ein Glücksbringer.“
„Ist das ein Zauber?“ Ich war sehr neugierig auf eine weitere Geschichte meiner Großmutter.
„Ja, das ist ein ganz besonderer Zauber. Dein Urururgroßvater hatte ihn einst von einer Drachenmutter bekommen, nachdem er ihr Drachenbaby aus den Klauen hungriger Wölfe gerettet hatte. Dieser Stein erfüllt seinem Besitzer genau einen Wunsch.“
„Nur einen Wunsch? Was hatte sich mein Urururgroßvater denn gewünscht?“
„Nichts“, erwiderte meine Großmutter gedehnt. „Es ist daher ein Glücksbringer, denn er gibt uns die Sicherheit, dass, wenn wir ein Wunder brauchen, wir es uns wünschen können.“
„Und diese Gewissheit hat euch glücklich gemacht. Ich verstehe. Aber wie kann man sich etwas wünschen?“
„Wenn es soweit ist, wirst du es wissen.“
Am nächsten Tag war Großmutter gestorben. Einfach so! Eingeschlafen! Es war, als hätte sie es gewusst, als hätte sie mich ein letztes Mal sprechen wollen, mir etwas mitgeben für meine Zukunft ohne sie.
Zhong Wei-Jies Ehemann ist tags drauf operiert worden. Sie bedankt sich bei mir sehr oft. Der Eingriff soll erfolgreich gewesen sein. Der Tumor ist restlos entfernt. Die anderen Angehörigen stimmen ein, sagen, wie hervorragend dieses Krankenhaus ist, und ich habe mehr Hoffnung für Großvater.
Die drei Tage sind um, und die Untersuchungen sind abgeschlossen. Viel verraten hat man mir nicht. Um so nervöser bin ich, als der junge Doktor Yang Li mich abholt. Er bringt mich ins Chefarztbüro. Hinter einem gigantischen Schreibtisch sitzt ein älterer, kleiner Arzt, der mit seiner Nickelbrille und einem ernsten Ausdruck Autorität ausstrahlt.
„Frau Wang“, näselt er, „Ihr Großvater hat einen Tumor.“ Er zeigt mir Röntgenbilder und punktet mit seinem Zeigefinger auf kritische Stellen. „Normalerweise ist dieser Eingriff Routine, aber dieses Geschwulst ist zu fortgeschritten. Es braucht zwei zeitversetzte Operationen.“ Ich folge geduldig seinen Ausführungen und wage es nicht, den ehrenwerten Chefarzt zu unterbrechen. Ich vertraue seinen Worten. Abschließend händigt er mir einen Kostenvoranschlag aus, und ohne meine Reaktion abzuwarten, begleitet mich Doktor Yang Li hinaus.
„Was ist diese Zahl?“, frage ich ihn, als ich im Flur die Chance habe, einen Blick auf die Rechnung zu werfen und halte den Glücksbringer fest in meiner Faust.
„Das ist die Gesamtsumme.“ Wir gehen gemeinsam auf das Krankenzimmer zu, bis ich empört ausrufe:
„Einhundertsechzigtausend Yen?“
„Darin sind alle notwendigen Medikamente enthalten.“ Verstört öffne ich die Tür.
„Enkelin von Herrn Wang“, setzt der junge Doktor an. Zhong Wei-Jie steht auf und wirft ein:
„Ihr Name ist Frau Wang Lu-Mei.“ Und ihr aufrecht sitzender Ehemann fügt hinzu:
„Verehrte Frau Wang Lu-Mei.“
„Frau Wang Lu-Mei“, gibt der Arzt sofort nach. „Wenn Sie die Rechnung bitte bezahlen wollen. Wir müssen diese Operation schnellstens durchführen.“ Damit schließt er die Tür von außen, so dass er meine Tränen nicht sieht.
„Ich habe nicht geglaubt, dass das Geld nicht reichen wird“, flüstere ich und schreite zu den Eheleuten, denn auch wenn Großvater schläft, ich möchte nicht vor seinem Angesicht weinen.
„Wie viel Geld fehlt Ihnen denn?“, fragt Zhong Wei-Jie zögerlich.
„Wesentlich mehr als fünfundzwanzigtausend“, beruhige ich sie und öffne mutlos meine Hand. Sofort fällt der Stein auf meine Brust.
„Wer kann Ihnen helfen?“, möchte die Frau wissen.
„Niemand“, schluchze ich, „das Dorf hat alles gegeben, was es geben konnte. Großvater ist hoch angesehen.“
„Und sonst noch …“
„Seid doch einmal still!“, mischt sich der gesundende Ehemann ein. „Kind, kommen Sie her zu mir.“ Irritiert gehe ich um das Bett herum und bleibe vor ihm stehen. Er kneift ein Auge zusammen und greift nach dem grünen Stein.
„Sagen Sie, was ist das hier?“
„Das ist ein Glücksbringer. Ein Nephrit!“
„Nein, ein Nephrit ist das nicht. Nephrite habe ich in meiner wertlosen Sammlung. Aber wenn mich mein altes Auge nicht täuscht, dann ist diese Jade echt. Oh, nein, nein, keine Sorge! Ich bin mir sogar ganz sicher.“
Es ist echt gewesen. Und irgendwie habe ich das Gefühl, als würde mich meine Großmutter anlächeln. Natürlich bin ich ja keine elf Jahre mehr alt und glaube eigentlich nicht an Märchen. Aber hatte sie mir nicht gesagt, wenn es soweit wäre, würde ich es wissen, wie ich den Wunsch aussprechen kann?!
Eine Woche nach den beiden Operationen sind wir Zuhause angekommen. Etwas Geld konnte ich zurückgeben und um meinen Hals hängt ein leeres Lederband.
Großvater ist wieder voller Tatendrang, aber die Gemeinschaft muss ihn zur Ruhe zwingen. Das ist nicht mehr meine Aufgabe, denn die Ferien sind um, und meine Zukunft erwartet mich.
Yeye = liebevoll für Opa
Nainai = liebevoll für Oma
Sunnü = Enkelin