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Der Grabredner

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24.04.2003
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Der Grabredner

Es ist nicht der stille Marsch zum ausgehobenen Grab, in dessen Inneres Rosen und Trauer regnen.
Auch die erste Schaufel Erde, die anschließend hinterher regnet, stellt nicht den schlimmsten Augenblick dar.
Das Ergreifendste steht gleich am Anfang des Rituals, mit dem das Ende besiegelt wird.
Die Kapelle, dutzende Menschen, im Schweigen gefangen, in leeren, orientierungslosen Gedanken umherwandernd.
Minutenlang.
Und dann das Einsetzen der Orgel. Plötzlich, unvorbereitet und doch vorhergesehen. Quälende, langgezogene Bitterkeit, die abgeschottete Dämme sprengt. Die tiefen, durch Mark und Bein gehenden Töne; zu wissen, dass sie jetzt beginnt, die letzte Verabschiedung. Kein Hinauszögern mehr, keine Möglichkeit nocheinmal aufzustehen, um frische Luft zu schnappen. Keine weiteren Ausreden.
Mit dem Erklingen der Orgel nimmt alles seinen Lauf. Man kann nur tief einatmen und hoffen, nicht an der Situation zu ersticken.

Hier komme ich ins Spiel.

Er hieß Gunter Hofner, hat die letzten Monate seines Lebens im Delirium, wohl aber nicht im Krankenhaus verbracht, und als ich die Kapelle betrete, sehe ich jeden einzelnen Tag des langen Leidensweges in das Gesicht seiner Witwe geschrieben. Ein Bisschen hat er sie in den vergangenen Monaten bereits mit in den Tod genommen.
Ganz besonders schwierig war er zuletzt, hat man mir gesagt. - Hat um sich geschlagen, nicht gewusst, wo und wer er überhaupt war. Mutter war völlig überfordert.
Und nun sitzt sie hier, und weiß nicht, ob sie trauern oder erleichtert sein soll, oder beides.
Das ist definitiv der schlimmste Augenblick.
Ich stelle mich vor das Pult, die elende Orgel verstummt endlich.
Ich kann das nicht mehr so leicht wie früher. Meine Hände zittern, als ich den Zettel mit den Gedächtnisbrücken vor mich lege. Noch vor fünf Jahren hätte ich so etwas nicht nötig gehabt. Der freie Redner ist selbst alt geworden. Aber auf meine Stimme, auf die kann ich mich immer noch verlassen.
Du klingst wie Al Pacino, hat Sandra mir immer gesagt. Dabei hat sie Pacinos richtige Stimme nie gehört. Ihr Englisch beschränkte sich auf wenige Worte. Meine Sandra.
Ich verdränge die Erinnerung. Die eingekehrte Stille überwältigt mich. Einer der Trauergäste hustet.
Es wird eine kurze Rede werden. Sie wollen die Beisetzung so knapp wie möglich halten, um ihre Mutter nicht zu sehr zu belasten.
Also fange ich an.

"Gunter Hofner." - Dunkel schallt meine Stimme von den Wänden wider.
Noch ein kurzes Husten aus den Sitzreihen, dann wieder Stille.
"Ein Name, den Sie mit einem Menschen in Verbindung bringen. Ein Name aber auch, den sie mit einem Menschen in Verbindung bringen, dem es in der letzten Zeit nicht mehr gut ging. Einem Mann, der für sich selbst nicht mehr sorgen konnte, der von anderen umsorgt werden musste. Ein Mann, der nicht mehr der war, für den sein Name früher stand."
Kurze Pause. Ich bekomme schlecht Luft in dem Anzug. Es wäre pietätlos, jetzt die Krawatte zu lockern. Es wird schon gehen.
"Im Februar diesen Jahres wurde Gunter Hofner in die Notaufnahme des Krankenhauses eingeliefert. Er hatte einen Schlaganfall gehabt. Auf seinen Wunsch hin wurde er von seiner Frau wenige Tage später zurück in das gemeinsame Haus gebracht, wo sie sich fortan um ihn kümmerte. Rosa Hofner, selbst von einem schweren Beinleiden körperlich eingeschränkt, hat nicht eine Sekunde lang gezögert, den Wunsch ihres Mannes zu akzeptieren, und für ihn da zu sein. Und bis zuletzt hat sie ihrem Ehemann, den sie am 23. September des Jahres 1955 geehelicht hat, mit ganzer Kraft zur Seite gestanden."
Ein erstes Schluchzen. Ich kann es noch immer. Ich manifestiere ihn. Ich sollte das nicht tun. Der Krawattenknoten scheint immer enger zu werden.
"Sicher, es ist nicht immer leicht gewesen. Als die vier Kinder, Erich, Florian, Susanne und Renate, kurz nacheinander geboren wurden, da wurde es eng in der kleinen Düsseldorfer Wohnung, und für das Haus reichte das Geld damals nocht nicht. Trotzdem ist Gunter für seine Kinder dagewesen, hat sich um sie gekümmert, sie unterstützt."
Noch eine Pause. Zittern in den Armen. Schluchzen von vorne. Meine Beine werden wackelig. Wie schaffe ich es bloß, meine Stimme markant zu halten, wo ich doch kaum atmen kann?
"Aber ich bin heute morgen nicht hier, um Gunter als den idealen, den wünschenswertesten Vater, den man sich vorstellen kann, darzustellen. Ich bin hier, um über einen Menschen zu erzählen, und als Menschen haben wir alle Vorzüge, aber eben auch Macken. Sicherlich hatte Gunter einige Macken. Das haben mir seine Kinder, aber auch seine Frau gesagt. Sie gehören dazu, die Macken, wenn man Mensch ist, sie sind Teil von uns. Glorifizierung ist in Anbetracht von Trauer ebenso unangebracht, wie sie es auch sonst ist. Doch denke ich, dass ein jeder hier sich bewusst ist, dass Gunters Macken nicht die Vorzüge überblenden, die er gehabt hat, denn sonst stieße ich auf weniger Anteilnahme."
Sie schüttelt sich, und ihre Ergriffenheit springt auch auf mich über. Erich legt seinen Arm um sie. Er ist seiner Mutter ein guter Sohn, genauso, wie sie mir es vorher gesagt hat.
Gunter ist jetzt da. Ich erschaffe ihn, während ich rede, und deshalb versagt mir auch die Stimme nicht. Ich denke an Susi, an viele Dinge. Sterne vor den Augen.
"Rosa Hofner, geborene Freiser, wird mir in Gedanken bestätigen können, dass auch schlechte Zeiten da sein müssen, damit man die guten Zeiten lieben kann. Und nur um diese sollte man letztendlich auch trauern."
Jetzt schüttelt sich auch Erich und die beiden Töchter, die ganz nah an ihre Mutter gerückt sind. Ich kriege keine Luft mehr. Ein dunkler Tunnel bildet sich und verengt mir die Sicht. Was passiert da mit mir?
Ich muss weitersprechen.
"Alles, was einen Anfang hat, hat auch ein Ende. Gunter Hofner, Ehemann und Vater, geboren am 15. Juli 1934, verstarb letzten Donnerstag nach langer Krankheit in seinem Haus."
Rosa stößt ein grelles Schluchzen aus. Ich kann mich nicht mehr lange auf den Beinen halten. Es dreht sich alles. Nur noch ganz kurz, dann ist es vorbei.
"Und auch, wenn einem vieles unfair erscheint, ist es doch wichtig, schlussendlich da zu sein. Florian Hofner sitzt heute nicht unter den Trauergästen, da er nach einem langen Streit mit seinem Vater das Weite gesucht hat. Aber er hat auch ein Versprechen gegeben."
Sandra ist mir ganz nahe. Ich manifestiere sie ebenfalls.
"Gunter hat seine Schwiegertochter niemals kennengelernt."
Und plötzlich lockert sich der Knoten, ich stehe wieder fester, kann wieder atmen.
"Aber über deine Macken hinweg ... über sie hinweg ... halte ich trotzdem mein Versprechen, Papa. Auch wenn du ... nicht geglaubt hast, dass ich für dich sprechen werde."
Tränen kommen, die ich schon lange abgeschrieben hatte.
"Vielleicht wirst du dich im Tod mit Sandra anfreunden, und feststellen, was für eine tolle Frau sie gewesen ist, und ganz bestimmt weiß ich, dass deine Macken eben zu dir gehört haben. Machs gut."

 

Hi Cerberus,

ich dachte mir, dass der Grabredner, der Sohn des Verstorbenen war.
Er hat seinem Vater den Rücken gekehrt, weil er Sandra nicht akzeptieren konnte. Sandra ist ebenfalls gestorben und nun hofft dein Prot, dass sie sich im Tod begegnen und dass der Vater sie endlich ins Herz schliessen kann.
Woran ist Sandra gestorben?

Du hast die Stimmung sehr gut rüber gebracht. Das typische Husten im Raum.
Es ist schon fast ein Phänomen, dass bei Beerdigungen immer jemand husten muß.
Die Stille, das erste Schluchzen. Die Grabrede, die vom Leben des Verstorbenen berichtet. Fürchterlich.
Ich kann verstehen, dass dein Prot fast daran erstickt ist. Kamen bei ihm doch wirklich reale Gefühle auf.

Für mich ist aber nicht die Rede, oder der Abschied in der Kapelle das Schlimmste. Dort sieht man den Sarg noch vor sich und weiß, dort liegt der geliebte Mensch. Viel schlimmer finde ich den Moment, wo der Sarg in der Erde verschwindet. Aber das sieht wohl jeder anders.

Das hier hat mich irritiert:

Ich denke an Susi, an viele Dinge.
Susi ist seine Schwester (Susanne). Warum erwähnst du sie an dieser Stelle?
Um einen Hinweis zu geben?
Oder hattest du an Sandra gedacht?
Wenn nicht, warum denkt er gerade an Susi und nicht an seine Brüder?
Ich finde den Satz nicht notwendig. :hmm:

Deine Geschichte hat mir gefallen.

lieben Gruß, coleratio

 

Hallo Cerberus,

mit dem Titel stellst du den Grabredner in den Mittelpunkt, die Geschichte stellt aber Gunter Hofner ins Zentrum, auch wenn es dem Grabredner zwischendurch an Luft mangelt. Ich würde den Titel also in die Grabrede abändern.
Leider bleibst du oft im Unklaren und dadurch etwas beliebig, etwa, wenn du auf die Macken zu sprechen kommst. Auch der Streit mit Florian wird nur angedeutet, obwohl das Fernbleiben einer Beerdigung hier ganz sicherlich eine tiefere Beschäftigung verdient hätte. In diesem Teil der gesprochenen Grabrede bleibt dein Text für mch also weit hinter den Möglichkeiten zurück, eine Geschichte auszubreiten.
Der Titelgeber selber, also der Grabredner scheint mir in seiner Betrachtung der Szene manchmal von einer merkwürdigen Eitelkeit, wenn er sich zum Beispiel fast anfeuert, er könne es noch, wenn die Mutter zu weinen anfängt. Die Rührung der Trauergäste scheint seine persönliche Bühnenbestätigung zu sein und bekommt dadurch fast etwas Unheimliches.

und für das Haus reichte das Geld damals nocht nicht.
nocht nicht

Lieben Gruß, sim

 

hallo!
finde du hast die stimmung, diese schwere, die den raum und die menschen darin zu erdrücken scheint sehr gut beschrieben!
allerdings geht es mir etwas wie sim, finde auch anchmal die "zusammenhänge" etwas unklar!
diese eitelkeit, die sim erwähnte finde ich aber sehr gut und wertvoll!
dieser stolz, den der redner nicht verloren hat, vielleicht aber auch ein bisschen selbstbetrug, ein bisschen mittel gegen die trauer und angst?!
alles in allem eine schöne geschichte,d ie traurig macht!
liebe grüße,
fiona

 

Hallo, und vielen Dank für eure Kommentare.

Diese Geschichte ist aus einer realen Beerdigung heraus entstanden, auf der mich der freie Redner schwer beindruckt hat.
Ich habe mich damals gefragt, wie ein solcher Mensch seine Reden vorbereitet, aus wenigen Informationen ein vollständiges Leben in unglaublicher Plastizität widergeben, und dies äußerst emotional und völlig ohne kitschige Phrasen.
Ich hatte mir schon lange vorgenommen, aus diesem Erlebnis eine Geschichte zu machen.

@Sim

Florian IST der Grabredner. Ich schreibe ja nicht, dass er nicht auf der Beerdigung ist, sondern nur, dass er nicht unter den Trauergästen sitzt.

Viele Grüße

Cerberus

 

Hallo Cerberus,

ich bin etwas zwiespältig, was deine Geschichte angeht.

Einerseits hat sie mir gefallen, weil du die Stimmung und die Person des Grabredners gut einfängst. Auch ich finde die Momente in der Kapelle immer am schlimmsten, die Trauer lag förmlich in der Luft. Interessant fand ich den professionellen Anspruch des Grabredners, weil es ja doch eher ein ungewöhnlicher Beruf ist. Davon bin ich zunächst ausgegangen, dass er es beruflich macht und den Toten nicht gekannt hat.

Das bringt mich auch schon zu meinem zentralen Kritikpunkt, nämlich der Pointe. Alleine die Tatsache, dass es eine gibt, passt für mich nicht zur Trauer der Geschichte. Ich finde sie auch nicht ausreichend vorbereitet. Wenn ich mir zum Beispiel folgenden Satz ansehe:

Das haben mir seine Kinder, aber auch seine Frau gesagt.
So spricht doch niemand von seinen Geschwistern und seiner Mutter. Und diese werden doch gewusst haben, dass es sich um Florian handelt, oder? Es gibt noch weitere solcher Stellen. Zum Beispiel siezt er die Trauergäste und spricht von seinem Vater wie von einem Unbekannten. ERstaunlich außerdem, dass Florian in dem Moment sicherer wird, wo es um seine Person geht. Halte ich aber für eine durchaus mögliche Reaktion.

Alles in allem habe ich deine Geschichte gerne gelesen, das Ende fand ich allerdings unglücklich.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hallo Cerberus,

die Stimmung in der Kapelle hast du gut eingefangen. Die Trauer war für mich als Leser deutlich zu spüren und ich bekam so ein unangenehmes Gefühl.
Auch ich war der Meinung, dass der Grabredner diese Aufgabe proffesionell übernimmt. Ich habe auch einen Grabredner gehört, der mich schwer beeindruckt hat. Während seiner ganzen Rede hatte man das Gefühl, er würde den Toten selbst kennen - erst danach habe ich erfahren, dass es nicht so ist.
Die Wendung in deiner Geschichte, das der Redner der Sohn des Verstorbenen ist, fand ich sehr gelungen. Schön, dass er seinen Hass oder seine Wut (ich denke, die schwingt mit in deiner Geschichte) wenigstens beim Tod des Vaters ablegen konnte und erkennen konnte, dass alle nur Menschen mit mehr oder weniger Fehlern sind.

Einige Zusammenhänge würde ich noch weiter Ausführen. Mir wurde nicht alles klar, bzw. ich fand es unbefriedigend von dem schlechten Verhältnis des Vaters und Sandra zu erfahren und am Ende keine Infos zu bekommen.

Hat mir gefallen.

LG
Bella

 

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