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Der Grabredner
Es ist nicht der stille Marsch zum ausgehobenen Grab, in dessen Inneres Rosen und Trauer regnen.
Auch die erste Schaufel Erde, die anschließend hinterher regnet, stellt nicht den schlimmsten Augenblick dar.
Das Ergreifendste steht gleich am Anfang des Rituals, mit dem das Ende besiegelt wird.
Die Kapelle, dutzende Menschen, im Schweigen gefangen, in leeren, orientierungslosen Gedanken umherwandernd.
Minutenlang.
Und dann das Einsetzen der Orgel. Plötzlich, unvorbereitet und doch vorhergesehen. Quälende, langgezogene Bitterkeit, die abgeschottete Dämme sprengt. Die tiefen, durch Mark und Bein gehenden Töne; zu wissen, dass sie jetzt beginnt, die letzte Verabschiedung. Kein Hinauszögern mehr, keine Möglichkeit nocheinmal aufzustehen, um frische Luft zu schnappen. Keine weiteren Ausreden.
Mit dem Erklingen der Orgel nimmt alles seinen Lauf. Man kann nur tief einatmen und hoffen, nicht an der Situation zu ersticken.
Hier komme ich ins Spiel.
Er hieß Gunter Hofner, hat die letzten Monate seines Lebens im Delirium, wohl aber nicht im Krankenhaus verbracht, und als ich die Kapelle betrete, sehe ich jeden einzelnen Tag des langen Leidensweges in das Gesicht seiner Witwe geschrieben. Ein Bisschen hat er sie in den vergangenen Monaten bereits mit in den Tod genommen.
Ganz besonders schwierig war er zuletzt, hat man mir gesagt. - Hat um sich geschlagen, nicht gewusst, wo und wer er überhaupt war. Mutter war völlig überfordert.
Und nun sitzt sie hier, und weiß nicht, ob sie trauern oder erleichtert sein soll, oder beides.
Das ist definitiv der schlimmste Augenblick.
Ich stelle mich vor das Pult, die elende Orgel verstummt endlich.
Ich kann das nicht mehr so leicht wie früher. Meine Hände zittern, als ich den Zettel mit den Gedächtnisbrücken vor mich lege. Noch vor fünf Jahren hätte ich so etwas nicht nötig gehabt. Der freie Redner ist selbst alt geworden. Aber auf meine Stimme, auf die kann ich mich immer noch verlassen.
Du klingst wie Al Pacino, hat Sandra mir immer gesagt. Dabei hat sie Pacinos richtige Stimme nie gehört. Ihr Englisch beschränkte sich auf wenige Worte. Meine Sandra.
Ich verdränge die Erinnerung. Die eingekehrte Stille überwältigt mich. Einer der Trauergäste hustet.
Es wird eine kurze Rede werden. Sie wollen die Beisetzung so knapp wie möglich halten, um ihre Mutter nicht zu sehr zu belasten.
Also fange ich an.
"Gunter Hofner." - Dunkel schallt meine Stimme von den Wänden wider.
Noch ein kurzes Husten aus den Sitzreihen, dann wieder Stille.
"Ein Name, den Sie mit einem Menschen in Verbindung bringen. Ein Name aber auch, den sie mit einem Menschen in Verbindung bringen, dem es in der letzten Zeit nicht mehr gut ging. Einem Mann, der für sich selbst nicht mehr sorgen konnte, der von anderen umsorgt werden musste. Ein Mann, der nicht mehr der war, für den sein Name früher stand."
Kurze Pause. Ich bekomme schlecht Luft in dem Anzug. Es wäre pietätlos, jetzt die Krawatte zu lockern. Es wird schon gehen.
"Im Februar diesen Jahres wurde Gunter Hofner in die Notaufnahme des Krankenhauses eingeliefert. Er hatte einen Schlaganfall gehabt. Auf seinen Wunsch hin wurde er von seiner Frau wenige Tage später zurück in das gemeinsame Haus gebracht, wo sie sich fortan um ihn kümmerte. Rosa Hofner, selbst von einem schweren Beinleiden körperlich eingeschränkt, hat nicht eine Sekunde lang gezögert, den Wunsch ihres Mannes zu akzeptieren, und für ihn da zu sein. Und bis zuletzt hat sie ihrem Ehemann, den sie am 23. September des Jahres 1955 geehelicht hat, mit ganzer Kraft zur Seite gestanden."
Ein erstes Schluchzen. Ich kann es noch immer. Ich manifestiere ihn. Ich sollte das nicht tun. Der Krawattenknoten scheint immer enger zu werden.
"Sicher, es ist nicht immer leicht gewesen. Als die vier Kinder, Erich, Florian, Susanne und Renate, kurz nacheinander geboren wurden, da wurde es eng in der kleinen Düsseldorfer Wohnung, und für das Haus reichte das Geld damals nocht nicht. Trotzdem ist Gunter für seine Kinder dagewesen, hat sich um sie gekümmert, sie unterstützt."
Noch eine Pause. Zittern in den Armen. Schluchzen von vorne. Meine Beine werden wackelig. Wie schaffe ich es bloß, meine Stimme markant zu halten, wo ich doch kaum atmen kann?
"Aber ich bin heute morgen nicht hier, um Gunter als den idealen, den wünschenswertesten Vater, den man sich vorstellen kann, darzustellen. Ich bin hier, um über einen Menschen zu erzählen, und als Menschen haben wir alle Vorzüge, aber eben auch Macken. Sicherlich hatte Gunter einige Macken. Das haben mir seine Kinder, aber auch seine Frau gesagt. Sie gehören dazu, die Macken, wenn man Mensch ist, sie sind Teil von uns. Glorifizierung ist in Anbetracht von Trauer ebenso unangebracht, wie sie es auch sonst ist. Doch denke ich, dass ein jeder hier sich bewusst ist, dass Gunters Macken nicht die Vorzüge überblenden, die er gehabt hat, denn sonst stieße ich auf weniger Anteilnahme."
Sie schüttelt sich, und ihre Ergriffenheit springt auch auf mich über. Erich legt seinen Arm um sie. Er ist seiner Mutter ein guter Sohn, genauso, wie sie mir es vorher gesagt hat.
Gunter ist jetzt da. Ich erschaffe ihn, während ich rede, und deshalb versagt mir auch die Stimme nicht. Ich denke an Susi, an viele Dinge. Sterne vor den Augen.
"Rosa Hofner, geborene Freiser, wird mir in Gedanken bestätigen können, dass auch schlechte Zeiten da sein müssen, damit man die guten Zeiten lieben kann. Und nur um diese sollte man letztendlich auch trauern."
Jetzt schüttelt sich auch Erich und die beiden Töchter, die ganz nah an ihre Mutter gerückt sind. Ich kriege keine Luft mehr. Ein dunkler Tunnel bildet sich und verengt mir die Sicht. Was passiert da mit mir?
Ich muss weitersprechen.
"Alles, was einen Anfang hat, hat auch ein Ende. Gunter Hofner, Ehemann und Vater, geboren am 15. Juli 1934, verstarb letzten Donnerstag nach langer Krankheit in seinem Haus."
Rosa stößt ein grelles Schluchzen aus. Ich kann mich nicht mehr lange auf den Beinen halten. Es dreht sich alles. Nur noch ganz kurz, dann ist es vorbei.
"Und auch, wenn einem vieles unfair erscheint, ist es doch wichtig, schlussendlich da zu sein. Florian Hofner sitzt heute nicht unter den Trauergästen, da er nach einem langen Streit mit seinem Vater das Weite gesucht hat. Aber er hat auch ein Versprechen gegeben."
Sandra ist mir ganz nahe. Ich manifestiere sie ebenfalls.
"Gunter hat seine Schwiegertochter niemals kennengelernt."
Und plötzlich lockert sich der Knoten, ich stehe wieder fester, kann wieder atmen.
"Aber über deine Macken hinweg ... über sie hinweg ... halte ich trotzdem mein Versprechen, Papa. Auch wenn du ... nicht geglaubt hast, dass ich für dich sprechen werde."
Tränen kommen, die ich schon lange abgeschrieben hatte.
"Vielleicht wirst du dich im Tod mit Sandra anfreunden, und feststellen, was für eine tolle Frau sie gewesen ist, und ganz bestimmt weiß ich, dass deine Macken eben zu dir gehört haben. Machs gut."