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Der große Trimboli
Holger spürte Kraft. Nach seinen ruhelosen Nächten voller Unterbrechungen des Schlafes und wachem Herumrollen fühlte er sich für gewöhnlich, als habe er mit einer Grippe einen Marathon gelaufen. Er ballte seine Hände zu Fäusten und stellte begeistert fest, dass sie sich anfühlten, als könnte er eine Runde gegen einen Klitschkow bestehen. Es waren richtige Fäuste, und auch in den Blutgefäßen seiner Beine schien kein Zement zu trocknen.
„Ja!“, entfuhr es ihm in der Lautstärke, die man sich nach einigen Jahren Single-Dasein in den eigenen einsamen vier Wänden angewöhnt. Ja. Er hatte durchgeschlafen. Fast neun Stunden, sagte der Wecker.
Holger schlug die Decke zurück und schlurfte in Unterhose und Schlappen zum Fernseher, auf dem noch die Hülle der DVD lag. „Der große Trimboli“, las er laut. Vom Cover glotzte ihn ein Typ in schwarzweiß an, der aussah wie Graf Zahl aus der Sesamstraße. Mit Schnurrbart. Holger kicherte. „Was für’n Scheiß. Der große Trimboli. Und es klappt. Das glaubt mir doch keiner.“
Nicht, dass er je vorgehabt hätte, jemandem zu erzählen, zu welchen Verzweiflungstaten ihn seine Schlafstörungen getrieben hatten, nachdem regelmäßiger Sport, warme Milch mit Honig und multiple Masturbation versagt hatten. Er hoffte nur, dass seine Vermieterin beim Garten umgraben nicht den uringetränkten Socken finden würde, den er in einer Vollmondnacht der Erde übergeben hatte. Zugegebenermaßen nicht ganz nüchtern.
Nein, Holger würde niemandem auf die Nase binden, wie ihm von einem mittelmäßig begabten Hypnotiseur, Alfred Neumann – der kam ohne expliziten Hinweis auf seine Größe aus – die DVD vom großen Trimboli angedreht worden war. Neumann hatte offensichtlich versucht, die Beschneidung seines Honorars zu verhindern, die Holger aufgrund der absolut erfolglosen Behandlung angedroht hatte.
„Diese DVD enthält Bilder vom großen Trimboli, der in den dreißiger Jahren einen ausgezeichneten Ruf in Berliner Varieté-Theatern genoss“, hatte Neumann erklärt. „Die Aufnahmen galten lange als verschollen. In den späten Neunziger Jahren entdeckte man sie in einem Moskauer Archiv. Ich weiß nicht, wer sich die Arbeit gemacht hat, dieses Material ins digitale Zeitalter zu retten, aber ich würde sagen, die gesamte Menschheit ist ihm zu großem Dank verpflichtet.“
„Ja, sicher“, hatte Holger gesagt, dabei abweisend Luft durch die Nase gestoßen und die Arme vor der Brust verschränkt.
Neumann hatte die offensichtliche Ablehnung ignoriert. „Trimboli ist darauf in Großaufnahme gefilmt, so dass man sich selbst damit hypnotisieren kann. Er war begeistert vom neuen Medium Film und sah darin eine Möglichkeit, über den Tod hinaus aktiv zu sein … Er sah darin einen Weg in die Unsterblichkeit.“
„Aha.“
„Trimboli heilte Erkältungen in Hypnose-Sitzungen. Menschen mit Sehfehlern hatten ihr Schielen verloren, wenn er sie mit einem Schnipsen wieder erweckte. Stotterer-“
„Hören Sie, das ist bestimmt interessant, wenn man-“
„Und Schalflose.“
Holger hatte misstrauisch die Augenlider zusammengekniffen.
„Schlaflose heilte er auch“, hatte Neumann geflüstert und vorsichtig mit dem Kopf genickt.
„Ist das wahr?“, hatte Holger gefragt, zynisch, interessiert, unentschlossen, bereit, nach zwei Monaten ohne Durchschlafen jeden noch so dürren Strohhalm zu ergreifen.
„Das ist wahr, ja“, hatte Neumann gesagt. „Probieren Sie’s. Was haben Sie zu verlieren?“
„Sie haben mir jetzt schon fast vierhundert Euro mit Ihrem Mumpitz aus der Tasche gezogen.“
Neumann hatte beschämt zu Boden gesehen. „Nehmen Sie.“ Er hatte ihm die DVD hingehalten. „Nehmen Sie sie, probieren sie es aus. Wenn es nicht klappt, kriegen Sie alles wieder. Wenn doch behalte ich zwei, nein, sagen wir, hundertfünfzig Euro.“
Holger hatte die DVD-Hülle genommen und sie betrachtet, als hätte Neuman es nicht geschafft, seine Neugierde zu wecken. Ein Versuch, den Preis weiter zu drücken. Neumann war mit einer Betriebsanleitung fortgefahren:
„Die Sitzungen sind in Kapitel unterteilt. Sie tragen Titel wie „Über die Trauer“. Sie lassen Rückschlüsse auf ihren Inhalt zu. Das für Sie interessante heißt-“
„Hallo Wach?“
„Contra die Insomnie. Aber …“
„Was aber?“
„Sehen Sie sich nur die für Sie relevante Sitzung an. Trimboli war ein unausstehlicher Exzentriker. Trinker, Casanova, Choleriker, Antisemit, Raufbold. Ein begnadeter Hypnotiseur, aber wie so viele Künstler von außergewöhnlichem Talent als Mensch eher ... ein Arschloch. Er war dafür bekannt, sich gelegentlich Späße mit Hypnotisierten zu gönnen, die an Grausamkeit grenzten. Auf der DVD ist auch eine Sitzung enthalten, die Sie glauben lässt, ein Schwein im Schlachthof zu sein.“
Holger stieß ein spöttisches Zischen durch die Zähne. „Wie heißt das? Kotelett?“
„Festschmaus.“
„Na klasse. Und hat das schon mal jemand ausprobiert?“
Neuman öffnete den Mund, ohne etwas zu sagen. Holger hatte das Gefühl, die Temperatur im Raum sei gerade um ein paar Grad gefallen. „Sie verarschen mich doch?“
Neumann schüttelte den Kopf, als müsste er ein Bild darin loswerden. „Hundertfünfzig Euro?“, fragte er.
„Wenn ich heute Nacht nicht schlafe wie ein Baby, gibt’s keinen Cent.“
Wie ein Baby. Wie ein Stein! Holger trank ein Glas Orangensaft in einem Zug und schaltete die Kaffeemaschine ein. Heute Morgen würde er Kaffee für den Genuss trinken, nicht, um es bei wenigstens halbvollem Bewusstsein durch den Tag zu schaffen. Dass er sich nur noch daran erinnern konnte, die Scheibe in den Player gelegt zu haben, machte ihm keine Sorgen. Wahrscheinlich war das so bei guter Hypnose.
Wie die wachen Lebensgeister so um ihn spukten, kam ihm die Kleine wieder in den Sinn, die er vorgestern im Max kennengelernt hatte. Holger nahm seine Jeans vom Bürostuhl in seinem Arbeitszimmer und durchwühlte die Taschen nach dem Flyer, auf den er die Telefonnummer und die Wegbeschreibung gekritzelt hatte. Das Mädchen war echt der Hammer gewesen. Feste Formen, die an den richtigen Stellen die Nähte ihrer Kleidung zu sprengen schienen wollen. Lange, braune Haare. Holger spürte seinen tapferen Liebessoldaten Meldung erstatten, ausgeruht und ungestüm, weil seine Dienste als Schlaf förderndes Mittel einmal nicht gebraucht und überstrapaziert worden waren.
Das zerknitterte Papier kündigte in leuchtendem Grün DJ Eissturm an. Irgendwann demnächst in einem Laden, den Holger nicht kannte. Darunter stand Isabel – 0521 / 5568430.
Isabel. Gott, war ich voll, dachte Holger. Er hätte schwören können, sie hatte Christina geheißen. Isabel. Na ja, Hauptsache, sie sah noch aus wie Christina. Da es zwar früh am Morgen, aber dafür Samstag war, beschloss Holger, die Telefonnummer auszuprobieren. Ein Tag war vergangen, wie es sein sollte, damit es nicht aussieht, als hätte man sonst keine Angebote. Er wählte Isabels Nummer, entschlossen, seinen zurück gewonnenen Schlaf und seine Ausgeruhtheit mit einem Date zu feiern.
„Hallo?“
„Hallo? Äh … Isabel? Hier ist Holger. Aus dem Max. Vorgestern. Weißt du noch?“
„Ja klar, hi!“
Holger atmete erleichtert auf und hielt dabei den Hörer von sich. Christina hieß jetzt Isabel, aber darüber hinaus schien die Welt in Ordnung zu sein. Namen waren eh nie seine Stärke-
„Aber wer ist Max?“
Unwillkürlich musste Holger schlucken-
„Nicht der Max, das Max. Wo wir uns kennen gelernt haben.“
„Du gibst der Tanzstube einen englischen Namen?“
„Nein, ich vermute, den hat ihm der Besitzer gegeben.“
Isabel lachte. „Das bezweifle ich. Aber wenn du es so nennen möchtest, bitte.“
Holger sah aus dem Fenster. Die Straße, die Bahn, der Buchladen gegenüber, es war alles, wie es sein sollte. Kein Ufo am Himmel, keine menschlichen Batteriebäume wie in Matrix. Natürlich nicht. Das Max. Alle möglichen Leute gaben dem Laden alle möglichen Namen. Schlaganfall, Drogenberatung, Schwitzhütte. Inspiriert waren die Täufer nicht selten von Substanzen, die das Unterbewusstsein auf eine Achterbahnfahrt durch den vorderen Teil des Hirnstamms schicken. Und vielleicht war Isabel auch einfach nur neu in der Stadt. Irgendwie hatte sie ja schon wie eine Erstsemesterin ausgesehen.
„Wollen wir uns dann mal treffen?“, fragte Holger.
„Klar! Wie du zu mir kommst, hab ich dir ja aufgeschrieben, oder?“
„Das war die Linie 1 Richtung Uni und Degendorfer Platz raus, stimmt’s?“
„A.“
„Bitte?“
„Linie A, aber sonst stimmt’s, ja.“
„Also in meinem Teil der Stadt haben die Straßenbahnlinien Nummern.“
„Da fährst du wohl immer mit einer Konkurrenzgesellschaft.“
„Quatsch, es gibt nur eine Bahn, und die läuft über die Stadt.“ Holger konnte sich nicht erinnern, schon einmal so patzig mit einer potentiellen Verabredung gesprochen zu haben. Er nahm den Flyer und las Isabels Wegbeschreibung. Und ja, da prangte ein dickes A.
„Hast du ’n Kater?“, fragte Isabel. „Vorgestern wirktest du irgendwie etwas lebensfroher.“
Holger schloss die Augen, kniff die Lider fest zusammen und öffnete sie wieder. Auf dem Flyer stand immer noch Linie A.
„Tut mir leid, mir ist irgendwie komisch heut Morgen.“
„Wir müssen uns ja nicht heute treffen, aber du hast mich angerufen.“
„Nein, das ist okay. Ich muss nicht kotzen oder so, mir ist nur irgendwie … Hör mal, wenn wir zusammen Kaffee trinken, geht’s mir bestimmt gleich besser.“ Am anderen Ende der Leitung glaubte Holger, ihr Lächeln zu hören und hoffte, dass es nüchtern und bei Tageslicht genauso schön sein würde wie im Nebel des Max.
„Das wollte ich auch gerade sagen. Kommst du dann gleich vorbei, heute Abend bin ich schon mit zwei Freundinnen verabredet.
„Ja, klar, cool“, sagte Holger. Wenige Minuten später stieg er in die Linie A Richtung Uni.
Wow, war Holgers erster Gedanke. Sie haben sich ein paar neue Wagons geleistet. Es roch nicht nach jener stadtbahntypischen Melange aus Pisse und Weinbrand. Auch die Sitze waren noch nicht von Jugendlichen mit Butterflymessern ausgedärmt worden, so dass ihr Schaumstoff-Innenleben durch die Lederbezüge quoll wie die Füllung einer Pastete. Der Boden sah aus, als wäre er gerade erst gewischt worden. Vielleicht hatte dieses Linie A-Ding mit einer Art Relaunch der öffentlichen Verkehrsmittel zu tun. Nötig war es längst gewesen. Und er hatte es verpasst, weil er nie einen Blick in die Lokalpresse warf. Ja, so musste es sein. Holger lehnte sich zufrieden zurück und freute sich auf Isabels Brüste.
Sein Blick fiel auf eine Edding-Schmiererei auf der Rückbank der Sitzreihe vor ihm. Linie A, gerade erst aus dem Boden gestampft, war bereits jetzt den ersten – höchstwahrscheinlich jugendlichen – Filzstift-Attentätern zum Opfer gefallen. Weitere würden folgen. Ich glaube euch KAIN Wort stand da. Das A war das Anarchie-Zeichen, wie die Punks es sich an ihre Klamotten nähen. Darunter war ein durchgestrichenes Hakenkreuz gemalt.
„Vandalen“, sagte der Typ im beigefarbenen Anzug auf der Sitzbank neben ihm. „Haben sie vergessen, zu vergasen.“
„Hm“, meinte Holger und sah genervt aus dem Fenster. Sympathien für ganz rechts waren keine Seltenheit in dem Stadtteil, in dem der Typ eingestiegen war. Aus soziologischer Perspektive interessant war nur die Tatsache, dass er gerade – an einem Samstag – auf dem Weg zur Arbeit zu sein schien und zwar schlechten, aber nicht nach Bier von gestern Abend stinkenden Atem hatte.
Ein grünes Taxi hielt an der Ampel. Taxen gab es heute nicht selten in den verschiedensten Farben. Meist versuchten Kleinstunternehmer, ihrer Flotte einen unverwechselbaren Anstrich zu verleihen. Ein zweites grünes Taxi hielt auf der Rechtsabbiegerspur eins weiter, ein drittes sah Holger in eine Seitenstraße abbiegen. Was seinen Puls steigen ließ, war nicht die Menge der grünen Taxen. Es war mehr die Tatsache, dass er nicht ein einziges gelbes sah.
In der Bahn hing alle drei Sitzreihen ein Bildschirm von der Decke. Unter den neuesten Nachrichten war eine Meldung, dass die geänderte Verfassung der USA William Clinton nun voraussichtlich eine dritte Amtszeit bescheren würde.
„Was?“ Holger sprang von seinem Sitz auf. Zwei Jungen weiter vorn, neben ihm und seinem etwas ruppigen Nachbarn die einzigen Fahrgäste der Straßenbahn, drehten sich mit belustigten Gesichtern um.
„Ja, bald gehört Amerika den Kommunisten“, sagte der Typ im beigefarbenen Anzug. „Kein Wunder, dass sie nur noch für Filme zu gebrauchen sind. Und die werden auch jedes Jahr schlechter.“
Auf der digitalen Haltestellen-Anzeige blinkte der Name der nächsten Station. Mit offenem Mund sank Holger in seinen Sitz zurück. Die Linie 1 hätte als nächstes an der Graf von Stauffenberg-Straße gehalten.
Nächster Stopp der Linie A war die Hermann Göring-Allee.