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Der Hase ohne Namen (überarbeitet)
Der Hase ohne Namen
Der Hase vor mir sieht mich aus seinen kleinen dunklen Stoffaugen an. Seine Löffel sind hoch aufgerichtet. Er lächelt wie ein freundlicher Buddah und breitet seine dünnen Ärmchen weit aus. Sein Bauch, sein Kopf dreckig weiß, sein Rücken hellbraun gefärbt. Ich habe viele Stunden mit ihm verbracht, ihm eine Menge erzählt, aber gemocht habe ich ihn niemals wirklich. Das Einzige, was ihn auch heute noch attraktiv für stille Stunden zu zweit macht, ist, dass sie ganz vernarrt in ihn ist. Jedes mal, wenn sie ihn sah, nahm sie ihn mit einem verzückten, liebenden Ausdruck auf dem Gesicht in die Hand, drückte ihn und spielte kurze Ansätze eines Puppenspiels. Danach hielt sie ihn nur noch in der Hand, er war einfach bei ihr. Ich habe nie verstanden, was sie an ihm fand. Was hat dieser Hase, was ich nicht habe? Stundenlang rede ich mit ihm darüber. Aber der hält dicht.
Sie hat ihm nie einen Namen gegeben, obwohl sie es liebte, Namen zu geben. Sie denkt sich Fantasienamen aus, Namen mit Charakter, Namen, die mit einem Wort das Wesen einer Sache absolut perfekt einfangen. Sie ist achtzehn. Ein Fremder würde sie in einem solchen Moment für kindisch halten. Für mich gibt es nichts, was ich ihr nicht verzeihen könnte. Sie ist mein Seelenzwilling. Ich habe auch zu früh zu viel verstanden.
Ihm hat sie nie einen Namen gegeben. Ich kann es auch nicht. Ich kann ihn nicht benennen. Ich kann das alles nicht benennen.
Es sind 182 Schritte von mir zu ihrer Tür. Das weiß ich, seit wir neun Jahre alt waren. Von dem Moment, wenn ich mein Bein über meine Fußmatte bewege, bis zu dem, da ich an ihre rauchvergläserte Tür klopfe, sind es 182. Heute traue ich mich. Ich gehe die 182 Schritte zu ihrer Wohnung. Jeden einzelnen zählend.
Die schwere Holztür des alten Mietshauses ist nie abgeschlossen. Das Treppenhaus hat sich verändert, seit ich fort gegangen bin. Es wurde renoviert. Ich habe nie erwartet, dass alles so sein würde wie immer, wenn ich zurückkehre. Ein halbes Jahr ist für die meisten Menschen nicht viel Zeit. Aber sie reicht, um zu erfahren, wie schnell Selbstverständlichkeiten zu Staub zerfallen können. Die Fremde ist wie Gas, das langsam aus einem Leck austritt. Man wird ihrer erst gewahr, wenn es schon fast zu spät ist. Zu lange habe ich nicht gesehen, was zwischen den Zeilen ihrer Briefe stand.
Wenn ich mich zurück erinnere, kommt mir die Fremde wie ein sehr langer Prozess vor, von dem ich weder Anfang noch Ende bestimmen kann. In Wirklichkeit aber ging es so schnell, dass mein Herz, mein Verstand den Veränderungen nicht mehr folgen konnten. Ich habe gewusst, dass die Menschen zu Hause sich verändern würden, während ich im Westen von Irland Ruinen erkunde und neue Freundschaften schließe; jede andere Annahme wäre naiv gewesen. Irgendwie fiel sie aus meiner Vorstellung von Veränderung heraus. Nach solchen Gesten, Blicken, Worten, die allesamt Versprechen gewesen waren, kam mir nie in den Sinn, dass sie etwas vor mir verheimlichte. Ich sollte mich betrogen fühlen.
Unsicher klopfe ich an ihre Tür. Keine Antwort. Die Stille ist wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte zu viel Hoffnung, sie heute zu sehen.
Doch ich kenne sie. Ich gebe nicht auf, darf es nicht. Ich weiß, dass sie einen ganz tiefen Schlaf hat. Dass sie manchmal den Tag mit Schlaf füllt, in dem sie spricht. Dass ihr Gesicht sich weich und heiß und ihre Hände sich kalt anfühlen. Ich habe so viele lange Nächte mit ihr verbracht. Ich weiß auch, dass sie manchmal einfach nicht die Türe aufmacht, manchmal alleine sein will. Ich bin nicht irgendwer. Ich klopfe noch einmal, warte. Hinter dem trüben Glas zeichnet sich eine dunkle Gestalt ab.
Wenn ich ehrlich bin, haben wir uns gegenseitig etwas verheimlicht. Wir verschwiegen voreinander unser vergrabenes Bewusstsein, dass nichts sicher ist und auch nie war. Das Wissen über unsere eigene Einsamkeit schlich nebelartig zwischen uns und ließ uns noch misstrauischer, noch erstarrter werden. Dabei hatten wir Oberflächlichkeit immer verabscheut. Jetzt war sie da, wie die ersten Symptome einer langsam vorangeschrittenen Krankheit. Lügen schmerzen irgendwann zu sehr. Dass sie tatsächlich krank war, dass sie Hilfe brauchte, sagte sie mir lange nicht.
Als ich aus Irland zurückkam, spürte ich, was ich lange nicht hatte wahrnehmen wollen. Die Angst, ihre tiefste Empfindung, ist wie der Mond, der ihre Anwesenheit von mir fortzieht. Kein Fels kann die Ebbe davon abhalten, das Wasser in die Ozeane hinfort zu spülen. Lange habe ich geglaubt, die Flut sei endgültig. Ist es das Schicksal, die Zeit, die Menschlichkeit, die sich so grausam an mir rächt?
Ich will einfach da sein. Wie der Hase. Bei ihr sein. Stetig entfernt sie sich von mir, weil sie nicht glauben kann, dass mein Angebot an keine der Gezeiten gebunden ist. Sie glaubt sich selbst nicht einmal, daher schätze ich, bin ich verloren. Kein Beweis ist gültig, kein Beweis übersteht ihr Urteil. Für meinen Wunsch nach Nähe, nach etwas Fassbarem von ihr, gibt es für sie keine Begründung. Vielleicht sind meine Gefühle wirklich lächerlich. Ich habe die Ahnung, dass ich es nie erfahren werde.
„Wer ist da?“, fragt eine männliche Stimme, lustlos, aber bemüht, höflich zu klingen. Ihr Freund, der jeden Tag mit ihr zusammen sein darf und ihr trotzdem niemals nahe ist. Er hat zu viel Herz und zu wenig Verstand. Er würde alles für sie tun. Genau wie ich. Aber er kennt sie nicht, wie ich sie kenne. Ich bin auf der falschen Seite der Tür.
„Ich“, antworte ich. Wir kennen uns seit zwei Jahre, da kann man ruhig „Ich“ sagen.
„Wer?“, fragt er noch einmal nach, als wäre ich irgendwer. Idiot. Ich kenne seine Freundin seit neun Jahren. Wir kennen uns seit Ewigkeiten.
„Sarah“, kommt meine Antwort vorwurfsvoll.
Er schließt nicht auf. Ich sage Sarah und er schließt nicht auf! Er behandelt mich wie eine Fremde.
Unser stetig anwachsende Tumor an Verschwiegenem machte mich und sie krank und ich beschloss die Oberfläche aufzubrechen. Ihre Wellen schlugen über mir zusammen. Danach entzog sie sich mir. Sie ließ nicht zu, dass ich ihr folgte.
Liebe ist ein Geschenk, es entzieht sich meiner Kontrolle, was sie damit tun wird. Dies wahrhaftig zu erfahren stößt tief in meinem Inneren auf Widerstand.
„Was is?“
„Ist sie da?“
Sie ist da. Ich weiß es.
Er zögert. Dreht sich um und geht weg.
Ich schmecke das Salzwasser immer noch. Es ist ein Satz von ihr. Eine Bitte. Eine groteske, eine schmerzlich ehrliche Bitte. Sie bat mich, ihre Ablehnung zu ignorieren.
Denn sie ist nicht echt, schrieb sie.
Als er wieder kommt, nuschelt er durch die Tür:
„Die schläft.“
Die Tür ist verschlossen. Ich weiß, dass er lügt. Und ich weiß, dass sie ihm aufgetragen hat, es zu tun. Sie will allein sein. Sie entgleitet mir. Sie rinnt durch meine Finger wie Licht. Für sie bin ich der Fels in der Brandung. Eine… Schwester. Vielleicht ist dieses Wort vergleichbar mit dem, was sie für mich fühlt.
Ich fühle. Ich empfinde viel, wenn ich bei ihr bin. Ein emotionales Vakuum, wenn sie nicht bei mir ist. Sie entzieht sich mir immer mehr. Vielleicht fühle ich einfach zu viel. Vielleicht sind meine Gefühle nicht erlaubt.
Ich muss die 182 Schritte wieder nach Hause gehen. Dort sitzt er. Der Hase ohne Namen. Mit ihm kann ich reden. Der redet nicht durch Glas mit mir. Der ist einfach da.
Ich kann ihm keinen Namen geben.
Ich kann dem allen keinen Namen geben.
Liebe wäre eine Beleidigung.
Ich bin machtlos.
Kein Fels, nur noch ein Kieselstein am Meer bin ich. Müde. Erschöpft. Geschliffen von Ebbe und Flut.
Gleichzeitig spüre ich, dass es nicht enden wird, dass es nicht enden kann.
Morgen werde ich die 182 Schritte wieder gehen.