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Der Herr Meier fällt durch das soziale Netz
Für den Steintiger, die Mountainbikebastlerin und das Frollein Wolf
Und natürlich vor allem für meine äußerst sympathische Lesungssitznachbarin
Sie alleine werden wissen, warum
Mit langsamen Schritten trat Friedrich auf das Geländer zu und ergriff zitternd das eiskalte Metall. Als er gestern diesen Entschluss gefasst hatte, hatte er nicht damit gerechnet, dass es so schwer werden würde. Das Brummen der Motoren dort unten machte ihm Angst. Vielleicht war es Feigheit, vielleicht aber auch normal, dass er in diesem Moment Angst verspürte.
Eigentlich war das alles Andreas Schuld. Seine Andrea, das Reismädchen. Er hatte sie in einem Spielwarengeschäft kennengelernt - kein wirklich romantischer Ort natürlich, aber das Schicksal interessiert sich nicht für Romantik. Insofern hatte es etwas mit Friedrich gemeinsam. Er hatte damals eigentlich nur ein Geschenk für seine kleine Schwester gesucht und da stand Andrea auf einmal vor ihm, schön wie ein Engel und knubbelte einem roten Stoffdrachen die Schuppen zurecht. Sie sahen sich in die Augen, ein Lächeln - das Übliche halt. Der Abend verlief dann auch ziemlich klischeehaft und wie aus einer schlechten Seifenoper entsprungen. Auf jeden Fall standen sie irgendwann mitten in der Nacht in Andreas Klotür und unterhielten sich über Schwangerschaften. Und so fing es an.
Er hatte alles für sie aufgegeben: Seinen Job ("Ich mag es nicht, wenn du diese süßen Pferde schlachtest"), seine Freunde ("Leute, die Austernpilze essen, sind mir suspekt"), seine Leidenschaft ("Warum Bier, wenn man auch Schwarztee haben kann?") und schließlich sogar seine Marotten ("Rechtshänder sollten ihre Uhren links tragen. Das gehört sich einfach so"). Zum Ausgleich schenkte sie ihm ihre Spontanität. Ob nun die bereits nach kurzer Zeit geplante Hochzeit in Las Vegas im Freddy Kruger Kostüm, das gegenseitige Geschichtenvorlesen in der Achterbahn, ihr Faible für lange Autofahrten auf kurvigen Straßen oder ihre Idee, den Tisch im Wohnzimmer doch einfach mal mit den Beinen nach oben zu stellen - irgendwie alles ziemlich nutzlos, aber es brachte Schwung in sein Leben.
Und dann... naja, dann tat sie etwas, was für Friedrich einfach eine Spur zu weit ging. Sie waren chinesisch Essen. Das ist an sich ist noch nichts Schlimmes, auch dann nicht, wenn man den Chinesen kennt, aber als Andrea seine giftgrüne Kokossoße tatsächlich mit Gift versetzte, hörte für ihn der Spaß auf. Erst der Spaß und dann ihre Beziehung.
Und jetzt stand Friedrich hier mit den Händen am kalten Brückengeländer und starrte auf den fließenden Verkehr unter sich. Die Autofahrer wussten noch nicht, dass sie Teil einer perversen Art des Russisch Roulette waren, aber das würde sich in wenigen Augenblicken ändern. Friedrich kletterte auf das Geländer, holte einmal tief Luft und ließ sich nach vorne fa...
"Leck mich doch! Das mache ich ganz bestimmt nicht."
"Naja... du hast es schon gemacht." Ich deutete mit meinem Stift auf die entsprechende Textstelle. Und tatsächlich war der Herr Meier schon im Begriff, seinen Körper der Schwerkraft zu übereignen.
"Ey, lass den Scheiß!"
"Kann ich nicht. Gesprungen ist gesprungen. Physik und so."
"Aber... das wird weh tun."
"Du bist Kummer gewöhnt. Stell dich hier mal nicht so an." Der Herr Meier war eigentlich ein ganz netter Kerl. Bereitwillig schlüpfte er immer wieder in meine Geschichten, spielte die Rollen, die ich ihm schrieb und löffelte sich durch die Suppen, die ich ihm einbrockte. Und das waren eine Menge Suppen gewesen. Ob nun die Geschichte, in der er in einem Lavastrom ertrunken war, diese sehr interessante Sache, als er von diesem Klavier erschlagen wurde oder die unzähligen Male, an denen ich ihn seine Seele verkaufen ließ - der Herr Meier hatte immer alles mitgemacht. Bis jetzt.
"Kannst du mal die Zeit anhalten? Ich würde das gerne diskutieren."
"Nein, das ist gegen die Regeln."
"Scheiß auf die Regeln! Die haben dich noch nie interessiert." Da hatte er Recht. Ich schwang meinen Bleistift und im selben Moment blieb die Zeit für den Herrn Meier stehen. Er hing einfach so in der Luft, Gesicht nach unten, mit Blick auf einen herannahenden LKW.
"Erzähl", forderte ich.
"Na gut. Also, was möchtest du mit dieser Geschichte bezwecken?"
"Weiß nicht. Gesellschaftskritik vermutlich..."
"Indem ich mir den Hals breche? Was ist daran kritisch?"
"Naja... du bist nun mal ein Opfer der Gesellschaft. Durch das soziale Raster gefallen und so."
"Red keinen Müll hier! Ich bin durch kein Raster gefallen, sondern von einer Brücke. Nein, eigentlich hast du Arschloch mich gestoßen."
"Du bist gesprungen, weil das Leben für dich keinen Sinn mehr hat, nachdem Andrea dich vergiften wollte", beharrte ich.
"Ach ja, das Reismädchen... Reismädchen... wohl mit Abstand der beschissenste Kosename, den ich je gehört habe."
"Soll ich dich loslassen? Denk dran, dass dein Leben derzeit an meinem Radiergummi hängt. Das ist kein Kosename, sondern eine vollkommen logische Bezeichnung."
"Auf die du wie kommst?"
"Naja... also... wenn du nicht angehalten hättest, wäre ich da schon noch drauf zu sprechen gekommen. Ganz sicher... ja..."
"Gut, aber das hat nichts Gesellschaftskritik zu tun."
"Aber klar. Es geht darum, dass man sich die Frage stellt, wie es nur soweit hat kommen können. Das interessiert die Leute."
"Mich nicht."
"Du wirst nicht gefragt."
"Natürlich werde ich nicht gefragt. Und genau darum geht es. Du fragst mich nie. Ich meine, du denkst dir hier irgendeine Scheiße aus und ich muß dann da durch."
"Ja. Wie gesagt, die Leute verlangen nach Geschichten über die Abgründe der menschlichen Psyche. Und nach Selbstmord. Sei froh, dass ich dir keine Alkoholikereltern angehängt habe, die früher deinen Stoffteddy für eine Flasche Rum an irgendeinen Trucker als Sexspielzeug verkauft haben."
"Sowas wollen die Leute lesen?"
"Anscheinend."
"Kacke Mann! Warum nicht mal was nettes? Warum müsst ihr verschissenen Autoren uns arme Helden immer so durch die seelische Hölle jagen?"
"Frag mich nicht", sagte ich, "Ich folge nur dem Strom."
"Früher warst du viel cooler."
"Danke. Übrigens könntest du langsam mal anfangen."
"Womit?"
"Dein Leben an deinem geistigen Auge vorbeiziehen zu lassen."
"Dann ist dir das hier echt ernst?"
"Klar." Ich ließ den Herrn Meier ein paar Zentimeter tiefer fallen. "Denkst du, ich alber hier nur rum? Immerhin reden wir hier über gesellschaftsrelevante Themen."
"Den Mist glaubst du doch selber nicht, oder? Ey, die Haube von dem LKW hat mich gleich."
"Ich sehe es, danke. Übrigens hab ich vergessen zu erwähnen, dass es ein saukalter Tag ist." Tatsächlich pfiff dem Herrn Meier ein eisiger Wind in den Nacken. Kalter Regen tropfte ihm in den Nacken, lief an seinem Gesicht herunter und sammelte sich an der Nasenspitze, von wo aus er auf die Straße tropfte.
"Mein Hass dir gegenüber hat soeben eine neue Dimension erreicht", knurrte der Herr Meier.
"Schon wieder?"
"Dann gib mir wenigstens einen Grund. Ich meine, wegen einer Frau bringt sich doch keiner um."
"Wegen dieser Frau schon. Okay, willst du lieber Alkoholikereltern?"
"Kann ich nicht nur ne alkoholkranke Mutter haben?"
"Tja, das Leben ist kein Wunschkonzert. Können wir weitermachen?"
"Bitte nicht", flehte er. "Ey, wenn du mich auch nur ein bisschen gern hast, dann blas diese Scheiße ab hier."
"Alles klar." Ein kurzer Zeitsprung in die Vergangenheit und los gings.
...
Friedrich kletterte also auf das Geländer, holte einmal tief Luft und ließ sich nach vorne fallen. Sein ganzes Leben zog noch einmal an seinem inneren Auge vorbei, wie ein Film. Er erinnerte sich, wie seine Eltern damals seine elektrische Eisenbahn auf dem Flohmarkt versetzt hatten, weil sie sich Schnaps kaufen wollten. Wie seine kleine Schwester geschlagen wurde, wenn sie keine Kippen holen wollte. Er sah Frauen vor seinem geistigen Auge. Viele Frauen. Sie alle wandten sich von ihm ab und irgendwelchen erfolgreichen, gut aussehenden Anwälten zu. So war es immer gewesen.
Und dann dachte er an Andrea. Seine Andrea, das Reismädchen. Vielleicht, so dachte er, war es ein Fehler, wegen dieser Sache Schluß zu machen. Vermutlich hatte sie nur Spaß machen wollen damals. Ja, in diesem Moment, in dem ihn nicht mehr viel vom gnadenlosen Asphalt trennte, sehnte er sich nach Andrea. Seinem Reismädchen.
Und wäre er nicht zufällig auf der Ladefläche eines vorbeifahrenden LKW voller Kissen gelandet, wäre er wohl nie zu ihr zurückgekehrt.
Ich bin ja nicht so...