Der Himmel über Sonnenstraße 7
Der Himmel war hell und klar. Ein wunderschöner Abend eines wunderschönen Tages. Der Wind hauchte seinen frischen, aber behaglichen Atem über den Großbau.
Es hätte der perfekte Tag sein können. Wäre da nicht die ärgerliche Sache mit Weltuntergang und dem Ende allen Seins.
Ein Haus, ein Wohnblock, ein Bunker. 2000 m², 62 Personen und deren Gäste, und alle erleben ihre letzten Minuten.
Apartment 104: Eine Menschenmenge versammelt. Die Boxen dröhnen. Die Menschen noch mehr. Die Stimmung beschissen. Der versprochene Alkohol und die ganzen Drogen, als ob es kein Morgen geben würde, gingen vor zwei Stunden schon aus. Außerdem spielt der DJ nie die gewünschten Lieder. Vielleicht weil er ein Arschloch ist. Vielleicht auch weil er mit verschränkten Händen in der Ecke sitzt und weint.
Apartment 402: Ein alter Mann sitzt am Fenster. In der einen Hand das zweite Glas Wein, das er sich all die Jahre selbst verwehrt hat. In der anderen ein altes, vergilbtes Hochzeitsfoto. Eine Träne rinnt seine Wange hinab, während eine Vorfreude seinen Körper hinaufsteigt. Ein hoffnungsvolles Grinsen fährt über sein Gesicht, während der fast genauso alte, graue Labrador neben ihm mit einem scheelen Blick auf ihn leise winselt.
Apartment 801: Ein nackter Mann steht am Fenster. Die teure Champagnerflasche in der Hand. Es ist schon die zweite. Die erste liegt halb in Scherben auf dem Boden, halb im 85“ Fernseher, für die nicht vorhandene Nachwelt auf eine nicht vorhandene Ewigkeit eingerammt.
Apartment 303: Verlassen. Das Essen noch halb auf dem Tisch. Die Schränke offen, der Herd auf Stufe 5, vergessen auszuschalten. Die Tür doppelt abgesperrt, weil man es so schon tausendmal gemacht hat. Den Mercedes aus dem wohnungsinbegriffenem Doppelstellplatz mit Frau und Kind in aller Früh losgefahren, auf dem Weg nach nirgendhin. Den Blick im Abendrot auf das Unausweichliche gewandt. Melancholie im Stau auf der A3.
Apartment 501: Ein Mann hängt von der Decke. Sein letzter Gruß liegt am Teppich unter ihm. Im Eck, im Schatten seines Körpers, zwei kleine Kinder. Beide weinen. Das kleine tröstet das ältere.
Apartment 103: Eine Frau schlägt mit dem Besenstiel gegen die Wand neben ihr. Ein bisschen Ruhe vor der Ruhe einfordernd. Anschließend kniet sie sich am Bett nieder, einen Gott anflehend, der sie entweder ignoriert oder auch einfach nur hasst.
Apartment 70: Ein Mann und eine Frau vögeln gegen das Armageddon um die Wette. Er gewinnt. Sie nicht mehr.
Apartment 201: Eine Frau raucht die nun wirklich, wirklich allerletzte Zigarette am Fenster. Ein nackter Mensch fällt plötzlich aus dem Nichts herab vor ihre Füße. Ein lautes, unappetitliches FLATSCH, dann kurze Stille. Plötzlich aus ihrem Mund ein leises Lachen. Was soll man auch sonst machen, außer Lachen. Das immer lauter und länger werdende Lachen schwillt langsam an zu einem wundervollem Crescendo, bittersüß endend in einer infernalen Hysterie.
Und der Himmel scheint weiterhin über der Sonnenstraße 7. Die Wände beginnen langsam zu beben. Es wird unerträglich warm. Und ein schwarmintelligenter, letzter Gedanke: War es das wirklich wert? Sonnenstraße 7. 2000m². 62 Personen und deren Gäste. Und alle unglaublich einsam.