Der Jäger
«Es dauert bestimmt nicht mehr lange», beruhigt Robert seine Schwester Anna. Er nimmt sie an der Hand und sie gehen weiter in die Dunkelheit des Moores. Der kalte Wind heult durch die Bäume und das Moor im Mondlicht wirkt wie ein Meer von Schatten. Nebelschwaden hängen zwischen den schwarzen Büschen.
«Wir haben uns verirrt», ruft Anna und bleibt stehen. «In einer Viertelstunde werden wir die ersten Häuser von Brachen sehen», behauptet Robert. Doch Anna weiss, dass dies nicht stimmt, sie fühlt es. Das Mädchen sieht hinter jedem Busch, hinter jedem Baum einen Dämonen. Sie zittert, versucht jedoch ihre Angstgefühle zu verheimlichen.
Robert sieht die Zweifel in ihrem blassen Gesicht, doch er reagiert nicht. Er weiss, dass seine Schwester Recht hat, doch sein Stolz verhindert es, seinen Fehler zuzugeben.
Auch er hat Angst, Angst vor dem Moor, vor der Dunkelheit, vor dem kalten Nebel vor ihm. Eine Wolke schiebt sich vor den Mond, es wird noch dunkler. Die Kerze in ihrer Laterne beginnt zu flackern, löscht aus. Nun sehen sie gar nichts mehr, nicht einmal den Weg, nichts.
Doch da, ein Licht, es kommt auf sie zu. Der Schrecken lähmt ihre Glieder, die Angst nimmt ihnen die Fähigkeit klar zu denken. Sie bleiben einfach stehen. Erst nach einer halben Minute erkennen sie eine Gestalt, einen riesigen, bulligen Mann mit einer Flinte in der Hand.
«Hinter die Bäume», flüstert Robert Anna zu, doch der Mann hat sie schon entdeckt. «Halt», ruft dieser, die Geschwister erstarren. Langsam kommt er näher, die Flinte im Anschlag.
Genau in diesem Moment kommt der blasse Mond wieder hinter den Wolken hervor. «Kinder? Hier? Mitten in der Nacht?» Erstaunt lässt der Mann seine Flinte sinken. «G..Gu..Guten Abend», stammeln die Beiden, «wer sind sie?» «Ich bin ... Jäger», antwortet er mit einer tiefen, rauhen Stimme,«und ihr? Wer seid ihr?» «Wir sind Geschwister und sollten schon längst in Brachen sein, aber wir haben uns verlau...» «Schweig!», fällt Robert seiner Schwester ins Wort. «Entschuldigen Sie, Anna ist müde, und sie hat Angst in der Nacht.» «Verständlich», nickt der Jägersmann, «und wenn ich euch Recht verstehe, wäret ihr froh, wenn ich euch nach Brachen bringen würde? In Ordnung, folgt mir.»
Er schreitet voran, die beiden Geschwister folgen. Seine Laterne erhellt den Weg nur schwach, doch der Jäger geht schnellen Schrittes in das nebelverhangene Moor hinein. Robert schliesst zu ihm auf, sie beginnen zu plaudern. Der Jäger will den Grund für ihren Ausflug nach Brachen wissen, und Robert erzählt, dass seine Grossmutter dort wohne. Diese sei krank und sie würden ihr Geld für die Arzneien bringen.
Die Augen des Jägers blitzen kurz auf, doch Robert bemerkt es nicht. Er hat inzwischen Vertrauen gefasst und erzählt weiter: Von der Grossmutter, von ihrem Apfelkuchen, vom lieben Hund, von der netten Magd.
Anna geht hinterher, der Abstand zwischen ihr und den anderen Beiden nimmt mit jedem Schritt zu. Ihr ist kalt. Sie kann kaum noch etwas sehen, das Licht ist immer weiter weg. Sie beginnt zu laufen. Hinter den Büschen sieht sie das Licht, rennt darauf zu, stolpert, fällt hin.
Als sich Anna wieder aufgerappelt hat, sieht sie gar nichts mehr, kein Licht, keinen Mond, nichts. Nebelschwaden kommen auf sie zu, langsam aber unaufhaltbar. Anna beginnt zu rufen, doch der Nebel verschluckt ihre Stimme. Sie schreit, dreht sich um, läuft zurück, schreit weiter, sinkt erschöpft zu Boden. Sie ist alleine, verlassen, sie schluchzt hoffnungslos.
Der Nebel verliert an Dicke, löst sich teilweise auf. Plötzlich hört sie ihren Bruder: «Nein! Lassen sie mich! Ich habe nichts getan! Nein! Es ist für die Grossmutter!» Anna sieht, wie er in ihre Richtung rennt.
«Bleib sofort stehen!», hört Anna den Jäger rufen. Dann ein Knacken. Es blitzt aus der Gewehrmündung und Robert fällt laut schreiend zu Boden.