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Der Klang des Meeres

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08.07.2012
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Der Klang des Meeres

Aasen atmete schwer unter der Last seines Rucksacks. Er hob den Kopf und betrachtete die Ruine des Brandenburger Tors. Die Reste der zerschossenen Attika ragten düster in den farblosen Himmel. Das Sandsteinrelief, auf dem noch immer die Ahnen des Apollon gegen lüsterne Zentauren kämpften, hatte die Farbe von Asche angenommen.
Aasen wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und wandte sich nach Osten. Immer in Bewegung bleiben, dachte er. Es widersprach der Vernunft, hier ohne Deckung über freies Gelände zu spazieren.
Bei jedem Schritt knirschte der Schutt herabgestürzter Säulentrümmer unter seinen Stiefeln. Ein Hundekadaver, über dem die Fliegen schwärmten, lag vor dem Eingang des südlichen Torhauses und verpestete die Luft.
Dort, wo vor einigen Jahren das Hotel Adlon gestanden hatte, trat eine Gestalt in zerlumptem Mantel aus dem Schatten eines Mauerbogens. Aasen ließ den Riemen des G36 über die Schulter gleiten. Während sich der Fremde näherte, entsicherte er das Sturmgewehr.
"Deine Flinte wirst du nicht brauchen, Conrad. Ich bin es, Straver."
"Woher kennst du meinen Namen?"
"Nun, es ist mein Job, Leute zu kennen, nicht wahr?"
Aasen musterte den Mann. Die Beschreibung, die man ihm von Straver gegeben hatte, passte.
"Gehen wir zum Torhaus", sagte er schließlich. "Ich stehe nicht gern auf offenen Plätzen herum."
Straver bewegte sich nicht.
"Ich ziehe es vor, das Geschäft hier abzuwickeln."
Aasen fasste ihn scharf ins Auge. Als Straver die Lippen zusammenpresste, hob er das Gewehr. In diesem Moment bemerkte er in einer der glaslosen Höhlen der Hotelfassade eine Lichtreflektion. Aasen ging in die Knie, schlug an und feuerte zwei Mal.
Nachdem das Echo der Schüsse verhallt war, herrschte Stille auf dem Platz.
Straver wandte sich um, aber er hielt inne, als Aasen hinter ihm sagte: "Mach einen Schritt, und du fängst dir die nächste Kugel."
Straver hob die Hände. "Wenn du mich tötest, wirst du Marena niemals finden."


Sie zog die Vorhänge zurück. Sonnenlicht durchflutete das Zimmer und umspielte ihren nackten Körper mit einem weichen Schimmer. Aasen betrachtete sie vom Bett aus. Durch das geöffnete Fenster war das Rascheln von Palmenblättern zu hören. Marena wandte sich zu ihm um, warf den Kopf zurück und raffte das Haar im Nacken zusammen. Nachdem sie einen Zopf gebunden hatte, lächelte sie ihn an. "Was unternehmen wir heute?", fragte sie, die Hände in die Seiten gestützt.
"Wir frühstücken auf der Alameda. Danach gehen wir an den Strand."
Als Marena vor dem Schrank stand und ihre weiße Bluse vom Bügel nahm, sagte Aasen: "Zieh keinen BH drunter."
Beim Frühstück im Café unweit der Strandpromenade war Marena die Sensation des Vormittags. Sie amüsierte sich über die Blicke, die ihr von allen Seiten zugeworfen wurden. Ein älterer Herr verschüttete seinen Kaffee. Marena steckte sich eine Zigarette an, beugte sich zu Aasen herüber und flüsterte: "Du bist ein Schwein."
Etwas später lagen sie auf dem warmen Sand einer Bucht und beobachten die heranrollenden Wellen.
"Du verbringst jeden Tag im Wasser", sagte Marena plötzlich. "Und wenn du eine Woche frei hast, fährst du mit mir ans Meer."
"Wieso, gefällt es dir hier nicht?"
Marena setzte sich auf. Den Blick auf den in der Ferne verschwimmenden Horizont gerichtet sagte sie: "Ich liebe das Meer. Aber es wäre schön, mal etwas zu machen, das nichts zu tun hat mit …" Sie verstummte.
Aasen zog sie zu sich heran. "Küss mich", sagte er und betrachtete ihr Gesicht, das über ihm schwebte.


Straver stieß einen Schrei aus, kippte vorn über und stürzte mehrere Meter in die Tiefe. Stöhnend blieb er auf einem Schutthaufen liegen. Als er das Knarren von Stiefelleder hörte, öffnete er die Augen. Aasens Gestalt mit dem kantigen, kurzgeschorenen Schädel setzte sich scharf vor dem bleiernen Himmel ab.
"Beim nächsten Mal stoße ich dich aus dem zweiten Stock", sagte Aasen. "Dann aus dem dritten …"
Straver würgte. "Ich habe dir doch schon alles gesagt."
"Bisher waren es nur Lügen."
Aasen zeigte auf den toten Schützen, der ein paar Meter entfernt auf der Straße lag, zu seinen Füßen das Gewehr mit dem zerschossenen Zielfernrohr. "Ich habe immer noch nicht verstanden, weshalb dein Freund mich abknallen wollte."
Ächzend richtete Straver sich auf.
"Ich hätte mir genommen, was ich brauche und deine Leiche verschwinden lassen. Ein gutes Geschäft ..."
Aasen schüttelte den Kopf. "Blödsinn. Es gibt einen anderen Grund."
Als er sah, dass Straver trotzig die Kiefer aufeinanderpresste, sagte er: "Gut. Gehen wir rauf in den zweiten Stock."
"Nein, bitte …" Straver hob die Hände. In seinem vierschrötigen Gesicht stand die Furcht.
"Deine Marena", begann er mühsam, "ist jetzt Handelsware." Aasen sah ihn verständnislos an.
"Es gibt Frauen", fuhr Straver fort, "mit denen man ein Vermögen verdienen kann. Gesundes, frisches Fleisch, verstehst du?" Er wischte sich mit dem Ärmel des Mantels Blut von der Wange.
"Ja, und es schadet dem Geschäft, wenn irgendein durchgeknallter Vater oder Bruder bei einem Kunden auftaucht und rumballert."
Aasen spürte, wie sich die Welt um ihn herum verdunkelte.
"Das ist vor zwei Jahren nämlich passiert", sagte Straver. "Und seitdem hält Bischoff die Augen offen, um Typen wie dir zuvorzukommen."
"Unmöglich", stieß Aasen hervor. "Das muss eine Verwechslung sein."
"Er hätte gut bezahlt für deinen Tod."
Aasen fasste sich. "Wer ist dieser Bischoff? Ein Menschenhändler?"
Straver nickte. Dann hustete er und spuckte blutig aus. "Lässt du mich gehen, wenn ich dir sage, wo er seine Mädchen anbietet?"
"Und riskiere, dass du ihn warnst?"
"Ich weiß, wie du Bischoffs Bunker ungesehen betreten kannst. Ist diese Information nicht ein Leben wert?"
Aasen richtete die Mündung des Gewehrlaufs auf Straver. "Das werden wir gleich herausfinden."


Ohne den Blick von der untergehenden Sonne abzuwenden, setzte Marena das Glas an die Lippen und trank. In der Luft lag der Duft des Meeres.
Sie lehnte sich in ihrem Liegestuhl zurück und sagte: "Ich wünschte, das würde niemals enden."
"Leben ist mehr, als Mojito trinken und Sonnenuntergänge betrachten", sagte Aasen.
Das Chiringuito war beinahe leer. Der Wind, der in einer Böe von der Uferpromenade her über den Strand wehte, brachte Bossa Nova-Klänge mit. Dann wurde es wieder still bis auf das zeitlose Rauschen der Wellen.
"Ach ja", sagte Marena. "Und was genau?"
"Einer sinnvollen Aufgabe nachgehen …"
"Als Elitesoldat bei der Marine zum Beispiel?"
Aasen sah sie an. Ihre Haut hatte den Kupferton des Abends angenommen.
"Ja, zum Beispiel", antwortete er.
Marena stellte ihr Glas zwischen die beiden Liegestühle in den Sand und sprang auf. Hinter der geschwungenen Linie ihrer Hüften stand der Horizont in Flammen. Sie legte die Hände auf Aasens Schultern und beugte sich zu ihm herab, so dass ihre Brüste ihn beinahe berührten. Er spürte ihre Lippen an seinem Ohr.
"Ich hasse den Krieg", sagte sie leise, aber voller Nachdruck, richtete sich wieder auf und drehte sich zum Meer. Aasen beobachtete, wie sie in den versinkenden Feuerball lief.


Vor den Trümmern der ehemaligen BND-Zentrale patrouillierten Männer mit vollautomatischen Gewehren. Aasen hatte in einer Seitengasse der einstigen Chausseestraße Stellung bezogen und observierte das Gelände hinter den Stacheldrahtrollen durch das Zielfernrohr. Undenkbar, Marena in den Bordellen des Bunkers aufzuspüren - Aasen vermochte kaum, sie sich anders vorzustellen als in einem Badetanga, an den Stamm einer Palme gelehnt. Doch obwohl er Stravers Aussagen misstraute, wollte er dieser Spur eine Chance geben. Es war die einzige Spur, die ihm blieb.
Aasen klappte die Blenden des Zielfernrohrs zu und zog sich in einen geschützten Winkel zurück. Es roch nach schimmelndem Mauerwerk und Verwesung. Während er auf den Anbruch der Dämmerung wartete und nach Stechmücken schlug, dachte Aasen erstmals über eine Frage nach, der er jetzt nicht mehr ausweichen konnte: Falls es ihm gelingen sollte, Marena zu finden - was wollte er danach tun?
Europa, das war nun wüstes Land - ein Kontinent, in dessen Ruinenstädten Menschen massenhaft der Cholera zum Opfer fielen. Welche Zukunft gab es für Marena und ihn in dieser zerstörten Welt? Welche Zukunft gab es überhaupt für irgendeinen Menschen?
Seit drei Jahren kämpfte er sich durch die Landschaften der Apokalypse – es waren Jahre der Einsicht und der Erkenntnis gewesen. Aasen erinnerte sich an etwas, das er früher, scheinbar in einem anderen Leben, über das Dilemma der Weisheit gelesen hatte: Wenn wir sie endlich erlangen, nützt sie uns nichts mehr. War dieses ganze Unternehmen nicht lediglich eine sentimentale Geste, der Versuch, eine Welt zurückzugewinnen, die er – als sie noch existierte – geringgeschätzt hatte?
Aasen musste sich eingestehen, dass er Marena kaum kannte. Eine gemeinsame Woche in Berlin, zwei Tage in Kopenhagen und die wenigen anderen Treffen außerhalb Spaniens hatten in seinen Erinnerungen keine Spur hinterlassen. Marena, das war der andalusische Sommer am Strand. Marena, das war der Klang des Meeres.
Auf einer Zeltbahn, die innerhalb weniger Minuten von einer Ameisenkolonne überrannt wurde, breitete Aasen den Inhalt seines Rucksacks aus. Er plante, nur leichtes Gepäck mit in den Bunker nehmen. Neben dem in Kunststofffolie verpackten Vorrat an Brot, Dosenfleisch, Kartoffeln, Äpfeln und sonstigem Proviant schienen ihm die beiden schweren Sprengsätze und das Dutzend Handgranaten vorerst entbehrlich. Er legte zwei Granaten in den Munitionsbeutel, den er am Gürtel trug. Nachdem er ein spärliches Nachtmahl zu sich genommen hatte, verstaute er Proviant und Ausrüstung wieder im Rucksack und versteckte diesen unter den Bruchstücken einer Hofmauer. Dann blieb nur noch das Warten.
Es mochte zwei Stunden vor Mitternacht sein, als Aasen sich erhob. Hin und wieder fielen Schüsse in der Finsternis, und man konnte das Heulen von Wölfen hören – wenn es dunkel wurde, kamen die klugen Tiere aus den Wäldern und holten, was schwach, krank oder tot zwischen den Ruinen lag.
In der ganzen Stadt gab es keinen einzigen Kanaldeckel mehr. Gusseisen war zu wertvoll, als dass man es auf der Straße verrotten ließ. Aasen näherte sich dem Schacht und roch die Ausdünstungen der Kloake. Er schwang sich hinunter, und mit den Händen an der Wand entlangtastend machte er sich auf den Weg zum Bunker. Die Ammoniakschärfe trieb ihm Tränen in die Augen.
Von Straver wusste er, dass hier ein Wartungsgang abzweigte, der zu einem Regenüberlauf führte. Dieses Regenbecken diente Bischoffs Leuten als Nutzwasserspeicher. Straver hatte behauptet, das Gewölbe des Wasserspeichers mit seinen schwer einsehbaren Winkeln wäre ein idealer Durchschlupf in den Bunker, insbesondere weil der Zugang über die Kanalisation nur wenigen Leuten bekannt sei. Als Aasen das Feuerzeug aufschnappen ließ, glänzten die schwarzen Panzer flüchtender Kakerlaken im Schein der Flamme. Er betrachtete das Speicherbecken und begriff, dass er zum gegenüberliegenden Rand schwimmen musste.
Angewidert vom Geruch des faulenden Wassers ließ er sich in den Überlauf gleiten. Er hielt das Gewehr mit gestrecktem Arm trocken und war mit ein paar Zügen auf der anderen Seite.


Nicht nach unten sehen, dachte Aasen und hob den Kopf. Mit lockerem Schwung warf er den Arm nach vorn, fasste das Wasser und zog sich kraftvoll durch die Wellen. Er wusste, dass Marena am Leuchtturm auf ihn wartete, eine Stoppuhr in der Hand, während er sich die etwa vier Kilometer lange Strecke - immer in Sichtweite des Strandes - gegen Strömung und Dünung vorankämpfte.
Allein im Meer zu schwimmen, löste bei ihm noch immer ein Gefühl der Beklemmung aus. Drei Jahre Training bei der dänischen Marine hatten daran nicht viel geändert. Noch immer beschäftigten ihn Phantasien, in denen torpedoförmige Kreaturen aus der Tiefe emporstießen, um ihn zu packen und in die Dunkelheit zu ziehen.
Es war sinnlos, Marena zu bitten, in den Touristenläden des Ortes einen Einkaufsbummel zu machen oder den Vormittag über nach Cádiz zu fahren. Sie lehnte diese Vorschläge stets mit einem Kopfschütteln ab und bestand darauf, an der kleinen Klippe auf ihn zu warten.
Während Aasen durch die Gläser seiner Schwimmbrille in das unerbittliche Grünblau des Atlantiks starrte, sah er Marena, wie sie im Sand saß, die Augen mit einer Hand schirmte und über das Meer schaute. Neunzig Minuten waren viel Zeit, um ihren Widerwillen gegen das zu pflegen, wofür das Bild des weitentfernten Schwimmers im schwarzen Neopren in ihren Augen stehen mochte: Frømandskorpset.
Es nutzte nichts, mit ihr über Sinn und Zweck zu streiten. Sobald Aasen begann, ernsthafte Argumente aufzuzählen, schüttelte sie den Kopf, lächelte traurig und betrachtete ihn wie einen Jungen, der einfach nicht verstehen wollte.
Die letzten Minuten waren wie immer eine Strapaze. Der Anzug hatte die Haut an Hals und Schulter blutig gescheuert. Die Arme schmerzten, Lippen und Zunge brannten vom Salz der See. Als Aasen sich im hüfthohen Wasser auf die Füße stellte, die Brille abnahm und den Verschluss des Anzugs öffnete, kam Marena ihm entgegen. Sie rief etwas, das er nicht verstehen konnte. Stöhnend zog er die Haube vom Kopf.
"Was hast du gesagt?"
"Fünfundachtzig Minuten", sagte sie. "Bestzeit."


Der schmale Gang wurde nur von einem grünlichen Schimmer erhellt. Der Schrei verebbte in den Tiefen des Bunkers, und für einige Augenblicke kehrte die Stille zurück. Dann vernahm Aasen erneut ein Klagen und Jammern und dann ein scharfes Klatschen, wie von einem Schlag mit der flachen Hand.
Einen Fuß vor den anderen setzend schlich Aasen den Gang entlang, das G36 vor der Brust. Im Bunker herrschte Sauerstoffmangel, die Luft schmeckte schal und verbraucht. Er gelangte zu einem Schott, dessen Eisentür eine Handbreit offenstand. Geräuschlos öffnete er die Tür, und als er die Gestalt eines fetten, alten Mannes sah, der ihm den Rücken zuwandte, entsicherte er das Gewehr.
Das nackte Mädchen, das vor dem Alten auf einem Tisch lag, war sehr jung und schien bewusstlos zu sein. Aasen konnte das Gesicht der Kleinen nicht erkennen, denn ihr Kopf lag zur Seite gedreht. Ihr Körper bebte unter Stößen, doch ihre Arme hingen schlaff über die Tischkante herab.
Aasen sagte mit einer Stimme, die in der kleinen Zelle schauerlich klang: "Geh weg von ihr, du Schwein!"
Der Alte zuckte zusammen und drehte den Kopf nach ihm um. "Verdammte Scheiße!"
"Zieh deinen Schwanz raus, und geh da rüber!" Aasen wies mit einer Bewegung des Kinns zur anderen Seite der Zelle, wo ein schäbiges, asselverseuchtes Bett stand. "Setz dich da hin!"
Nachdem der Alte sich auf das Bett gesetzt hatte, trat Aasen an den Tisch und tastete nach der Halsschlagader der Kleinen. Sie lebte.
"Wirf die Decke rüber", sagte er und betrachtete das blasse Gesicht des Mädchens. Die Augenlider waren eitrig verklebt und entzündet. Aus den Mundwinkeln tröpfelte Blut. Nachdem Aasen das Mädchen zugedeckt hatte, richtete er das Gewehr auf den Alten.
"Ich suche eine Frau", sagte er.
"Tja, das ist der Grund, weshalb man hierher kommt."
"Ich suche eine bestimmte Frau", sagte Aasen. "Etwa zwanzig Jahre alt, schlank, langes schwarzes Haar… "
Der Alte lachte böse.
Aasen dachte an das, was ihm Straver gesagt hatte.
"Es ist eine besondere Frau, sehr teuer."
Der Alte schüttelte den Kopf. "Wenn ich mir eine teure Hure leisten könnte, würde ich dann eine halbtote Fixerin vögeln?"
Aasen überlegte einen Moment lang.
"Wo hält Bischoff die Frauen fest?", fragte er schließlich. "Leben sie hier im Bunker?"
Der Alte nickte. "Aber es ist unmöglich, in ihre Nähe zu gelangen, so weit ich weiß."
"Sie werden bewacht? Wie viele Männer?"
"Zu viele", sagte der Alte, und mit einem Blick auf das Sturmgewehr fügte er hinzu: "So wirst du es nicht schaffen."


"Ach so?" Marena sah Aasen mit hochgezogenen Augenbrauen an, und er musste lachen, so perfekt spielte sie die Überraschte. In dem winzigen Scharwachtturm roch es nach Stein und Meerwasser. Vor der nordwestlichen Bastionsspitze des Castillo de Santa Catalina rauschte blutrot der Atlantik. Brandungswellen klatschen unten gegen die Mauern der Festung.
"Deshalb sollte ich also heute den Rock anziehen?"
Aasen hatte ihr Höschen herabgestreift, drehte sie mit sanftem Nachdruck herum und drückte sie gegen die Brüstung des Zinnenfensters, so dass sie sich mit beiden Händen abstützen musste. Nachdem er noch einmal hinter sich geblickt hatte, um sicherzugehen, dass sie die einzigen Besucher auf dem Wehrplateau waren, schob er mit dem Knie ihre Schenkel auseinander und schlang einen Arm um ihre Taille. Als Marena kurz darauf unter seinen Stößen keuchte, flüsterte er ihr ins Ohr: "Ich wünschte, das würde niemals enden."
Später am Abend fuhren sie auf der Fernstraße von Cádiz nach Süden. Marena schaute aus dem Fenster auf die hinter dem Sandstrand schimmernde Schwärze der See. Der Fahrtwind zauste in ihrem Haar.
Aasen liebte diese Momente der Stille und des Friedens. Was die Ekstase betraf, die er empfand, wenn sie miteinander schliefen – kein Glückzustand sonst konnte damit konkurrieren. Doch die Augenblicke gemeinsamen Schweigens kamen der Glückseligkeit sehr nahe.
Marena schien zu wissen, wie Aasen fühlte, und welcher Teufel sie auch reiten mochte, sie legte es immer häufiger darauf an, ihn in diesen Momenten mit ihren Bedenken zu quälen.
"Vor einigen Wochen habe ich etwas über eure Einsätze in Afghanistan gelesen."
Aasen seufzte leise. "Machst du dir Sorgen, mir könnte etwas zustoßen?"
"Klar", sagte sie, das Gesicht zum Meer gewandt. "Aber das ist nicht alles."
Die Straße machte einen Bogen nach Osten. Aasen beschleunigte, und nun jagten sie über flaches, verdorrtes Land.
"Ich finde, wir Europäer haben dort nichts zu suchen", sagte Marena. "So, wie wir im Irak nichts zu suchen hatten und auch nicht in Vietnam."
"Die Amerikaner waren in Vietnam."
"Und davor die Franzosen."
Als sie San Fernando erreichten, stritten sie heftig.
"Ich habe dir mehrmals zu erklären versucht, dass jeder militärische Konflikt neu betrachtet und bewertet werden muss", sagte Aasen. "Es ist naiv, grundsätzlich gegen Krieg sein zu wollen. Da könnte man auch grundsätzlich gegen Selbstverteidigung sein."
"Als Soldat hast du doch gar nicht die Möglichkeit, die Bedeutung eines Einsatzes zu analysieren und zu bewerten", erwiderte Marena. "Du befolgst Befehle."
"Ich verstehe nicht, was du von mir erwartest. Willst du, dass ich meinen Dienst quittiere? Das ist verrückt."
"Ich will, dass du anfängst, über das nachzudenken, was du tust."
Aasen antwortete nicht. Es brauchte nicht Marenas Attacken, um sich zu fragen, welcher Wert seinem Beruf über das unmittelbare Hier und Jetzt hinaus zukam. Was hatte er bei den Kampfschwimmern gelernt? Er wusste, dass man sich niederwerfen musste, um einer über den Boden rollenden Handgranate zu entkommen, die ihre Splitter bei der Explosion in flach ansteigendem Winkel verteilte. Er wusste, dass ein Projektil seines Scharfschützengewehrs Null Komma Acht Sekunden lang unterwegs sein würde, um einen fünfhundert Meter entfernt gehenden Gegner zu erreichen. Er wusste, dass er deshalb neunzig Zentimeter vorhalten musste, um zu treffen. Aasen hatte gelernt, wie man aus einem Helikopter ins Meer sprang, wie man fünf Minuten lang den Atem anhielt und wie man einem Menschen in einer fließenden Bewegung das Genick brechen konnte. Was würde er mit diesem Wissen anfangen, wenn seine Dienstzeit beendet wäre?
Spät in der Nacht erreichten sie den Küstenort Barbate. Sie ließen den Wagen an der Promenade stehen und gingen hinunter zum Strand. Marena steckte sich eine Zigarette an und sagte: "Wusstest du, dass man hier jedes Jahr im Frühling Orcas sehen kann?"
Aasen spürte, wie ein Schauer an seiner Wirbelsäule empor lief.
"Wie ich hörte, stehlen sie den traditionellen Fischern die Thune von den Angelhaken."
Gegen seine Prinzipien sagte Aasen: "Gib mir einen Zug." Er nahm die Zigarette zwischen die Lippen, inhalierte und blies langsam den Rauch aus. Vor ihm glitzerte das nächtliche Meer, und es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich die Schwertfinne eines Orcas vorzustellen, die in der Finsternis das Wasser durchpflügte.


Als drei Schläge gegen die Tür hämmerten, drückte sich Aasen in einen Winkel am Ende der düsteren Empfangshalle. Kaum war die Tür geöffnet, dröhnte eine Bassstimme durch das Foyer: "Na, Hartmann, wie geht’s?"
Aasen beobachtete, wie sich eine mächtige Gestalt in langem Ledermantel hereinschob – Bischoff. Aasen presste die Lippen zusammen. Dass Bischoff hier auftauchte, war kein gutes Zeichen. Gewöhnlich schickte er die Frauen mit Begleitschutz zu den Kunden, ging selbst aber nicht mit. Das hatte Hartmann bestätigt.
Er klappte die Blenden des Zielfernrohrs hoch und sah sich Bischoff genauer an. Alles an diesem Mann schien sein Treiben als Menschenhändler zu illustrieren: die massige, bullengleiche Körperform, der breite Nacken, das flache Gesicht mit den wulstigen Lippen und den winzigen, grausamen Augen, die Bischoff hinter einer metallgefassten Brille verbarg.
Er schüttelte Hartmann die Hand und sagte: "Ich hoffe, du hast ein paar Minuten, bevor wir das Geschäft abhandeln."
Hartmann stand bleich vor ihm. Es war ihm anzusehen, dass Bischoffs Besuch ihn überraschte.
"Natürlich", sagte er zerstreut. "Setzen wir uns. Ich hole Wein. Oder lieber Wodka?"
Während Bischoff in die lederbezogenen Polster eines Sofas sank, das mit zwei Sesseln und einem schmalen Tisch in der Nähe des Eingangs stand und den einstigen Luxus des Hauses ahnen ließ, führten drei bewaffnete Männer eine Frau herein. Aasen schaute durch das Zielfernrohr. Kein Zweifel – das war Marena.
Bischoff wischte ein paar Ameisen vom Sofa, klopfte auf das Polster zu seiner Rechten, und Marena nahm neben ihm Platz. Ihr Make-Up konnte kaum kaschieren, wie stark sie abgenommen hatte. Trotz des Rouge auf den Wangen wirkte sie blass und ausgezehrt. Sie trug ein schwarzes Kleid, einen goldenen Armreif, und ihr Haar war zu einem Zopf gebunden, der ihr bis zur Taille reichte.
Zwei der Bewaffneten hatten die Halle wieder verlassen und die Tür hinter sich geschlossen. Der dritte Leibwächter zog sich ans andere Ende des Foyers zurück.
Hartmann klapperte währenddessen an einem altmodischen Servierwagen. Mit einem Tablett, auf dem Gläser und eine geöffnete Flasche Rotwein standen, trat er kurz darauf an den Tisch.
"Du lässt es dir ja gutgehen", sagte Bischoff und beobachtete, wie Hartmann einschenkte.
"Nun, ich genieße einige Privilegien", stammelte Hartmann. Er setzte sich Marena und Bischoff gegenüber in einen Sessel und erhob sein Glas. Sie tranken.
"Sicher fragst du dich, weshalb ich hier bin", sagte Bischoff, nachdem er sein Glas auf den Tisch gestellt und ein Bein über das andere geschlagen hatte.
"Wenn es um Geschäfte geht, da habe ich immer ein offenes Ohr", erwiderte Hartmann schwach.
Bischoff lächelte unergründlich.
"Nein", sagte er, "der Grund meines Besuchs ist privater Natur."
Aasen bemerkte, dass Hartmann Marena kaum beachtete. Die Rolle des Freiers, die Aasen für ihn erdacht hatte, spielte er schlecht.
"Du hast in den letzten zehn Monaten etwa zwei Dutzend Frauen bei mir geordert", sagte Bischoff, und seine rechte Hand strich sanft über Marenas Wange.
"Mag sein. Ich zähle nicht mit… "
Bischoffs Finger streichelten Marenas Hals.
"Ich rühme mich", sagte er, "den Geschmack meiner Kunden genau zu kennen."
Hartmann wurde unruhig. Er rutschte auf dem Polster seines Sessels herum und konnte die Füße kaum stillhalten.
"Bisher entsprachen alle Modelle, die du geordert hast, einem klaren Muster", fuhr Bischoff fort. Seine Hand spielte am Träger von Marenas Kleid. "Kleine Titten, blondes Haar."
Bischoff streifte den Träger herab und entblößte Marenas Brüste. Danach drapierte er mit Sorgfalt ihren Zopf, so dass er sich wie der Körper einer Mamba von ihrem Nacken herabschlängelte.
Bischoff ergriff erneut sein Weinglas, trank und sagte dann: "Wie du siehst, entspricht dieses Modell ganz und gar nicht deinen üblichen Vorlieben."
Hartmann wollte etwas erwidern, doch Bischoff hob ruckartig das Kinn und sagte: "Wie es der Zufall will, wurde wegen dieser Frau gestern ein Mann erschossen."
Hartmann sah ihn mit einem Ausdruck echter Verblüffung an. Bischoff betrachtete ihn und sagte: "Ja, der Mann hieß Straver. Du hast vielleicht von ihm gehört."
Hartmann nickte.
Bischoffs dunkle Hand strich über Marenas Brüste. Aasen beobachtete es ohne Regung. Die letzten drei Jahre hatten ihn verändert. Er hatte Menschen brennen gesehen, hatte in den am schlimmsten betroffenen Gebieten erlebt, wie Kinder ihre Lungen stückchenweise hervorwürgten und elendig erstickten. In den Städten schossen plündernde Milizen zum Spaß auf jeden, der ihnen über den Weg lief. In den Dörfern herrschte solche Not, dass einige Verzweifelte damit begannen, Menschenfleisch zu verzehren.
Aasens Gedächtnis barg erschütternde Bilder, wie die einer Vergewaltigung, bei der zehn Männer eine Frau und ihre minderjährige Tochter schändeten und danach in Stücke hackten – der Anblick von Bischoffs Hand auf den weißen Brüsten von Marena löste nichts in ihm aus.
Bischoff lehnte sich zurück und sagte mit einem Blick auf Marena: "Ein gewisser Aasen scheint sich sehr für diese Schönheit zu interessieren. Ein Mann aus der Vergangenheit. Ein Mann, der keine Zukunft hat, auch wenn er es noch nicht weiß."
Marena saß da, als ginge sie das alles nichts an. Von Zeit zu Zeit nippte sie am Wein, schlug ein Bein über das andere und lehnte sich wieder zurück in die Polster. Ihren Blicken ließ sich nicht entnehmen, ob sie verstand, was da gesprochen wurde, nicht einmal, ob sie überhaupt zuhörte. Es schien, als spielte ihr Körper die überlebensnotwendige Rolle, während ihre Gedanken in einer anderen Sphäre weilten. Die rot geschminkten Lippen lächelten das ewige Konkubinenlächeln - unbewegt, leer, freudlos.
"Da ich weiß, wie gut du dein Haus schützen lässt", meinte Bischoff, "sollte ich mir keine Sorgen machen."
"In der Tat", stimmte ihm Hartmann zu.
"Ich habe draußen fünf Männer gesehen, und ich nehme an, hier im Haus werden sicher weitere… "
"Du musst dir wirklich keine Sorgen machen", fiel ihm Hartmann ins Wort. "Hier kommt niemand ungesehen rein." Offenbar hatte die Neuigkeit von Stravers Tod Aasens Drohungen Nachdruck verliehen. Hartmann bewies jetzt jenen engagierten Opportunismus, dem er einen Großteil seines Reichtums verdankte.
"Es wäre verrückt anzunehmen, dieser Mann könnte hier auftauchen."
Bischoff betrachtete ihn aufmerksam.
"Und was meine ungewöhnliche Bestellung betrifft", fuhr Hartmann mit einem Blick auf Marena fort, "tja, ich wollte wohl einfach mal etwas Neues ausprobieren."
Ein Augenblick angespannter Stille folgte. Aus einem ihm unbekannten Grund befürchtete Aasen plötzlich, Bischoff könnte Marena etwas antun. Er hatte das Reflexvisier des G36 eingeschaltet. Der Rotpunkt glühte matt auf dem halbdurchlässigen Spiegel der Zieloptik und schob sich über Bischoffs Kopf. Aasen machte sich bereit, einen Feuerstoß abzugeben.
Bischoff erhob sich abrupt. "Wenn das so ist", sagte er, "gibt es hier für mich nichts mehr zu tun."
Er strich den Ärmel seines Mantels zurück und schaute auf die Uhr. "Wie immer, zwei Stunden?"
Hartmann nickte erleichtert. Er war aus dem Sessel geschnellt und reichte Bischoff die Hand. Als dieser seine Rechte hob, sah Aasen die Pistole. Ein Schuss krachte durch die Halle, und Hartmann kippte gerade nach hinten. Mit Getöse stürzte sein Körper auf den Cafétisch, Gläser klirrten, die Weinflasche fiel auf den gefliesten Boden und zerbrach mit einem Knall.


"Wunderbar", sagte Marena, und Aasen sah, dass ihre Augen glänzten. Auf dem mit Blumen und Girlanden geschmückten Platz beleuchteten unzählige Lampions eine anrührende Szene: Zu den Klängen einer Kapelle tanzten Männer, Frauen, Mädchen und Jungen. Sie bewegten sich im Kreis, in einer Stimmung feierlicher Heiterkeit, standen nach Drehungen und Volten einander in Paaren gegenüber und tanzten dann für eine kurze Weile jeweils zu zweit. Dabei traf Mädchen auf Greis, Knabe auf ehrwürdige Doña, Fischer auf Kellnerin, wie es der Zufall mischte.
In diesem Miteinander lag eine solch ungewöhnliche Zärtlichkeit, eine so verblüffende Natürlichkeit und Anmut, dass sich Marena und Aasen auf eine Bank setzten, um das Treiben der Fiesta zu beobachten.
Später in der Nacht, als sie einander in einem Restaurant bei Kaffee und Wein gegenübersaßen, sagte Marena: "Für mich ist das, was wir auf dem Platz gesehen haben, die Antwort auf die Sinnfrage."
Aasen sah sie überrascht an.
"Das Leben, das ich mir wünsche, hat viel von diesem Gefühl… " Sie suchte nach Worten. "Diese Menschen zu sehen, hat mich glücklich und traurig zugleich gemacht. Es war wunderbar, das zu sehen, und schrecklich, dabei eine Fremde zu bleiben."
Sie steckte sich eine Zigarette an, und Aasen bemerkte, dass ihre Hände zitterten.
"Vermisst du das in Berlin?"
Sie nickte. "Ja. In der Stadt wird es immer schlimmer. Irgendwann werden die Leute aufeinander schießen."


Vor dem Haus stotterten Sturmgewehre und Maschinenpistolen. Kurz darauf stürzten Bischoffs Männer in die Halle. Aasen zählte ein Dutzend Schwerbewaffnete. Sie trugen taktische Westen und hielten Sturmgewehre und Schrotflinten schussbereit vor der Brust.
"Fünf nach oben", kommandierte Bischoff. "Durchsucht das Haus, erledigt Hartmanns Leute und bringt mir Aasen! Ich weiß, dass er sich hier versteckt."
Die Männer zogen ab. Aasen beobachtete, wie sie sich gegenseitig sicherten. Das waren gut ausgebildete Söldner. In einem Feuergefecht gegen ein Dutzend dieser Männer hatte er allein keine Chance. Bischoffs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
"Habe ich dir erlaubt, dich anzuziehen?", hörte er ihn brüllen. Marena war aus ihrer Absenz erwacht, als Hartmanns Blut über das Schachmuster der Fliesen gespritzt war. Jetzt stand sie zitternd vor dem Sofa und nestelte an ihrem Kleid.
"Hände weg, habe ich gesagt!", schrie Bischoff noch einmal und versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht, so dass sie von der Wucht des Hiebes zu Boden geschleudert wurde und hinter dem Cafétisch liegen blieb.
Bleib unten, sagte Aasen leise, zog den Stift und ließ die Handgranate über das Schachbrettmuster rollen. Bischoff hörte das unheilvolle Klirren, fuhr herum und starrte auf die Granate, die einige Meter vor ihm eine letzte Drehung vollführte.
Aasen sah, wie Bischoff und seine Männer innerhalb eines Sekundenbruchteils von einem Stoß aus Licht, Qualm und Staub davon gefegt wurden. Die Explosion hatte ihn taub gemacht; bis auf ein sonderbares Rauschen herrschte Stille in der Halle. Aasen sprang auf die Beine, rannte zum Eingang des Foyers und zog unter Möbeltrümmern und Leichenteilen Marenas Körper hervor. Sie war bewusstlos, aber sie atmete.
Langsam kehrte sein Gehör zurück: In der oberen Etage fielen Schüsse. Bischoffs Söldner waren auf Hartmanns Männer gestoßen. Aasen ging zur Tür und spähte hinaus. Dann lud er Marena auf seine Schulter und schleppte sie aus dem Haus.


"Sind wir jetzt endlich da?", fragte Marena. "Mir ist heiß, und ich bin müde."
"Einen Augenblick noch." Aasen führte sie zum Rand des Steinbeckens. Das Rauschen war jetzt so laut, dass er seine Stimme hob, als er sagte: "Stell es dir erst vor, bevor du schaust."
Marena hielt einen Moment lang lächelnd inne, und Aasen sah, wie sich ihre Augen unter den geschlossenen Lidern bewegten.
Es war beinahe ein geheimer Ort. Touristen kamen nicht hierher, und auch Einheimische ließen sich nur selten blicken. Es mochte daran liegen, dass die Kaskaden in keinem Reiseführer erwähnt wurden und nur durch einen mühevollen Aufstieg zu erreichen waren – dieser einsame Platz schien aus der Zeit gefallen zu sein.
Marena öffnete die Augen und starrte auf das Wunder. Der Wildbach stürzte weiß und blendend über einen mehr als dreißig Meter hohen Katarakt herab, sammelte sich in mehreren Gumpen und floss dann in einer steinigen Rinne talwärts durch den Wald. Die Luft war erfüllt vom Klang der sprudelnden Becken und von der Frische zerstäubten Wassers.
"Los, lass uns reingehen", rief Aasen, warf seinen Rucksack und seine Kleider auf den Waldboden und ließ sich in das größte der steinernen Becken gleiten. Marena lachte, zog sich aus und folgte ihm.
Umschäumt vom gurgelnden Quellwasser bespritzten sie einander, lachten und spielten wie die Kinder.
Später am Nachmittag saßen sie beim Picknick auf einer Decke und betrachten den Wasserfall.
"Hier wäre ein idealer Platz für ein Haus", sagte Marena mit vollem Mund.
Aasen wackelte unentschieden mit Kopf. "Ich weiß nicht", sagte er. "Zu weit vom Strand entfernt."
"Hm, und wahrscheinlich würde uns auch niemand besuchen, wenn man dafür erst den Berg raufsteigen muss."
"Uns?", sagte Aasen und hob gespielt vorwurfsvoll die Brauen.
"Keine Angst", erwiderte Marena lachend. "Ich spinne nur rum."
Sie schwiegen, und in der Ruhe des Waldes stieg der Gedanke einer gemeinsamen Zukunft empor. Aasen hatte bisher nie über die Gründung einer Familie nachgedacht. Wenn aber doch, so ging es ihm durch den Sinn, während er Marena betrachtete, dann wäre sie die Richtige.


Aasen erwachte von einem scharfen Klicken – ein Magazin rastete ein, dann wurde eine Pistole durchgeladen. Er fuhr hoch und sah Marena im fahlen Schein des dämmernden Tages. Sie kauerte in einem Winkel des Raumes, den Lauf ihrer Pistole im Mund.
Er hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde. In den Wochen nach Marenas Befreiung aus Bischoffs Gewalt war ihm klargeworden, dass sein Plan einen gravierenden Fehler aufwies: Er hatte sich nie gefragt, ob sie überhaupt befreit werden wollte.
Anfangs hegte er die Hoffnung, ihre Distanziertheit und dieses entnervende Schweigen wären lediglich Symptome einer vorübergehenden Verwirrung. Doch Monate vergingen, und Aasen verstand, dass Marena innerlich zerbrochen war. Sie redete nur, wenn er sie direkt ansprach, und selbst dann waren es nie mehr als ein paar Worte. Sie weinte nicht, sie lächelte nicht. Ihr Gesicht kannte nur den einen, immer gleichen Ausdruck – die Miene eines Menschen, der sich in sein Schicksal fügte.
Widerstandlos ließ sie sich von Aasen in die grundlegenden Techniken des Überlebens einweisen: Bewegung in offenem und verdecktem Gelände, Nahrungssuche, Waffengebrauch, Bau von Notunterkünften, Identifizieren von Feinden, Navigation, Wasseraufbereitung. Marena lernte, woran man ein gesundes Tier erkannte, wie man es erlegte, zerteilte und zubereitete. In den Städten existierten Märkte, auf denen Lebensmittel als Tauschware gegen Munition, Diesel oder Batterien angeboten wurden. Aasen zeigte Marena, worauf sie beim Handeln achten musste.
Ohne Interesse rekapitulierte sie die Prozeduren der Reinigung und Pflege von Gewehr und Pistole und übte sich im Schießen auf Flaschen und Blechbüchsen. Aasen brachte ihr bei, die Stellungen der Milizen zu umgehen, die überall im Land Stützpunkte errichtet hatten.
Doch über diesen gemeinsamen Aktivitäten lag schwer Marenas Schweigen, und ihr Unvermögen, sich aus der Erstarrung zu befreien, brachte Aasen beinahe um den Verstand. Da aber alles Zureden wirkungslos blieb und es auch nichts nützte, Marena zu drängen, verlebten die beiden ihre Tage in zermürbender Sprachlosigkeit.
So würde ihre gemeinsame Reise nun enden, mit der obszönen Geste einer tödlichen Fellatio.
Aasen senkte den Blick. "Warte bitte einen Moment. Ich möchte das nicht sehen."
Er erhob sich von der Lagerstatt, durchquerte den Raum und sagte: "Mein Bedarf an traurigen Bildern ist gedeckt, es reicht für drei Leben."
Als er die Tür erreichte, hörte er Marenas Stimme: "Du hast ernsthaft geglaubt, wenn du mich da raus holst, wird alles wieder gut." Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung. Aasen wandte sich um. Marena hatte die Waffe gesenkt und sah ihn an.
"Überleben ist das Wichtigste", sagte er.
"Nein", sagte Marena mit Tränen in den Augen. "Da irrst du dich."
Aasen setzte sich auf die Schwelle. "Ich verstehe dich nicht. Erkläre mir bitte, was du meinst."
Marena machte eine Geste, die den staubigen Raum, das zerfallene Haus, die Ruinen vor dem Fenster, die ganze zu Grunde gerichtete Welt zu umfassen schien. "Schau dir das hier an", sagte sie. "Du bringst mir bei, wie man einen Hund tötet, zerlegt und zubereitet. Du lehrst mich, Vergewaltigern eine Klinge in die Nieren zu stoßen. Glaubst du, das ist die Welt, in der ich leben will?"
"Es ist die einzige Welt, die uns bleibt. Mit meinen Fähigkeiten werden wir es schaffen."
"Was schaffen, Conrad? Du hast so viel Zeit auf das Training deiner Fähigkeiten verwendet und dabei übersehen, dass ein Leben, in dem man sie täglich anwenden muss, wertlos ist."
Aasen schüttelte den Kopf. "Das sehe ich aber nicht so."
"Worauf hoffst du, Conrad?"
Die beiden schwiegen eine Weile. Durch die Fensterlöcher strömte Brandgeruch, vermutlich räucherte eine Gang irgendwo in der Nähe ein Haus aus.
"Und wie ging es dir in den letzten Jahren?", sagte Aasen. "War das Leben als Bischoffs Sklavin besser?"
Marena sah ihn an, und getroffen von der schrecklichen Erkenntnis dieses Moments sagte sie: "Ja, dieses Leben war besser." Sie suchte nach Worten. "Wenn wir nicht bei Bischoffs Kunden waren, ließ man uns in Ruhe."
Aasen starrte sie ungläubig an.
Marena sagte: "Wir tranken, rauchten, nahmen Tabletten, haben für ein paar Stunden alles vergessen."
Aasen wollte etwas erwidern, doch Marena schüttelte den Kopf. "Geh jetzt bitte raus."
Als er auf die Straße trat, dachte er an ihre gemeinsame Zeit in Spanien. Er sah Marena still im Licht des Morgens am Fenster stehen, während sich hinter ihr Palmenblätter sanft bewegten. Einzigartige Details ihres Körpers – ein Muttermal an der Innenseite des Oberschenkels, die ovale Form der Brustwarzen, die pfirsichfarben schimmernde Vulva – standen jetzt so deutlich vor seinen Augen, als hätte er sie gerade eben erst betrachtet.
Er dachte an einen Nachmittag, den sie damit verbracht hatten, von einem Felsen ins Meer zu springen, erst aus Spaß, dann wie im Rausch. Er dachte an einen menschenleeren Strand in der Nähe von Tarifa, wo sich Marena - nackt bis auf eine Sonnenbrille – mit einer Zigarette zwischen den Lippen vor ihm in die Düne gelegt und masturbiert hatte, bis ein kräftiger Orgasmus ihr Becken wie ein Fieber schüttelte.
Aasen sah Marena ekstatisch tanzend bei der Feria de Agosto in Málaga, und er sah sie lachend auf einem Surfbrett balancieren, bei ihrem einzigen Versuch, das Wellenreiten zu lernen. Es waren Erinnerungen aus einem anderen Leben. Wie viel hätte er dafür gegeben, nur einen einzigen Tag lang in dieses Leben zurückzukehren.
Im dunstigen Licht des Morgens huschte ein Schatten durch die Trümmer. Aasen entsicherte und legte an, doch dann ließ er das Gewehr sinken. Der Wolf schaute ihn an und es war, als erblickte Aasen sich selbst in den Augen des Tiers.

 

Hallo Achillus,

leider habe ich versehentlich meine ganzen Textanmerkungen wieder gelöscht, daher beschränkt sich meine Kritik jetzt auf ein paar allgemeine Gedanken zu deiner Kurzgeschichte. Aber vielleicht habe ich Lust und suche sie in den nächsten Tagen nochmal heraus.

Ich beginne mal mit meinem Gesamturteil:
Insgesamt habe ich deine Geschichte gerne gelesen. Ich mochte die beiden unterschiedlichen Erzählstränge. Die Liebesgeschichte war schön erzählt (wenn ich an der einen oder anderen Stelle etwas beliebig) und die Befreiungsaktion fand ich durchaus spannend.

Ich denke, Marena steht für Aasen für das bessere Leben. Ob er sie wirklich liebt? Keine Ahnung. Aber ich hatte den Eindruck, dass er wirklich glaubt, dass er sich sein altes Leben wieder zurückholen kann, wenn er die Sache mit ihr wieder in Ordnung bringt. Dass sie so etwas wie eine Urlaubsbeziehung hatten - immer das Schöne, das Leichte - verstärkt diesen Effekt sicherlich noch. Er klammert sich an dieser Traumvorstellung fest.

Es wird ja selbst im Paradies klar, dass sie im Grunde völlig unterschiedliche Lebenseinstellungen haben. Sie ist Humanistin und Pazifistin, während er Soldat ist. Und natürlich hat er da einen anderen Blick auf die Welt. Sie hingegen kann das, was er tut, nicht rechtfertigen. Dass sie zusätzlich Angst um ihn hat, macht das ganze nicht erträglicher.

Als er sie schließlich befreit, offenbart sich ja auch das Problem:
Ihm geht es um das nackte Überleben. Der zweckt heiligt ihm alle Mittel. Sie hingegen möchte nicht nur überleben, sondern sie möchte in einer Welt leben, die sie als lebenswert erachtet. Der Konflikt, der am Meer als Streitgespräch begonnen hat, spitzt sich zu, als sie in einer harten Realität damit konfrontiert sind. Sie kann dieses Leben nicht führen.

Wenn Menschen etwas Schlimmes erleben, tragen sie Traumata davon. Ich habe mich aber erst am Wochenende gefragt ob das, was wir als "schlimm" empfinden, sich im Laufe der Zeit geändert hat. Wenn ich z. B. einer Hinrichtung beiwohnen müsste, würde das bei mir sicherlich Spuren hinterlassen. Aber wenn so etwas an der Tagesordnung wäre, könnte man sich am Abend wahrscheinlich trotzdem gemütlich auf´s Ohr hauen.
Und so geht es auch Aarsen - er hat zu viel gesehen und erlebt, hat sich dadurch eine gewissen Panzer geschaffen. Aber wahrscheinlich ist es nicht nur ein Panzer, sondern eben auch Gewöhnung. Ich denke, manches ist ihm schlichtweg egal geworden.
Marena hingegen nimmt das alles immer noch wahr - sie gewöhnt sich nicht an das Leid, an das Töten. Und deshalb sieht sie den Tod für sich als Ausweg.

So, jetzt ein paar Dinge, die mir so aufgefallen sind:

Das Szenario: Ich weiß, es wäre eine andere Geschichte, aber mich hat eben trotzdem interessiert, warum es eigentlich so weit gekommen ist. Was ist passiert, dass die Welt in dem Zustand ist, in dem sie nun einmal ist? Mir ist es schwer gefallen, das einfach so hinzunehmen ... ich wollte einfach wissen, was passiert ist. Mal sehen, wie die anderen Leser das empfinden.

Das Ende: Das Ende ist meines Erachtens der Schlüssel zu deiner Geschichte.
Und gemessen am Rest deiner Geschichte ist der Schluss für mich viel zu kurz erzählt. Das finde ich bedauerlich, denn ich sehe da noch sehr viel Potential. Ich weiß zwar nicht, ob das mit den beiden Erzählsträngen noch so gut funktionieren würde, wenn du das ausbaust ... aber ich wollte dir das auf jeden Fall mal mit auf den Weg geben. Für mich könnte die Geschichte ab dieser Stelle bestimmt nochmal so lang sein. ;)

Deine Protagonisten hast du schön gezeichnet, ich habe sie mir gut vorstellen können, ihre ganze Handlungsweise erschien mir schlüssig. Selbst die Nebenfiguren hast du toll skizziert - mir gefällt das total gut, wie du das machst. Das hat mir auch schon bei deiner letzten Geschichte (in der dein Protagonist Vater wird) total gut gefallen. Ich werde mir das auch gezielt nochmal angucken, weil ich hoffe, davon etwas lernen zu können.

Sprachlich hat´s mir gut gefallen. Es lässt sich sehr flüssig lesen und es sind einige tollen Formulierungen dabei. Du beschreibst Schauplätze etc. auch sehr toll, das finde ich auch gut. In dier Liebesgeschichte ist jetzt - auch sprachlich - nicht so wirklich viel Neues dabei, aber es ist auch unglaublich schwer, da noch großartig neue Formulierungen zu finden.

Alles in allem hab ich´s - mit einigen Abstrichen - gerne gelesen.

Viele Grüße
Bella

 

Hallo Achillus

Zunächst einmal finde ich die Geschichte sehr schön erzählt. Ich glaube, das ist von all deinen Texten, die ich gelesen habe, stilistisch die Beste. Die Sprache finde ich abwechslungsreich, vor allem in den Absätzen aus der Vergangenheit (vor der Katastrophe) auch den Szenen angemessen - etwas blumig, etwas verträumt, aber nie so, dass es kitschig wird. Die Absätze der Apokalypse hättest du dementsprechend (noch) karger, düsterer beschreiben können - ich denke, da wäre noch etwas Potential gewesen, aber insgesamt waren auch diese Szenen gut geschrieben.

Die Figuren sind interessant angelegt - vielleicht auch hier einen Tick zu unterschiedlich, die etwas naive, pazifistisch veranlagte Marena und der knallharte Elite-Soldat. Insgesamt ist das eine Geschichte der Gegensätze, was ja auch am Aufbau erkennbar wird. Im einen Absatz sind wir an einem exotischen Stand, im nächsten in einem dunklen Bunker. Das Spiel mit den Gegensätzen hat durchaus seinen Reiz, da sind auch einige gute Übergänge dabei (bieten sich bei diesen Themen und diesem Aufbau ja geradezu an) - ich habe dabei aber das Problem, dass gerade die Szenen aus der Vergangenheit zu bemüht die heile Welt beschreiben. Mir war das dann auch ehrlich gesagt nach dem dritten Absatz oder so zu viel, weil ich da kaum eine Entwicklung sehe. Zwar wird ein Konflikt angedeutet - der sich ja allein schon aus der Ideologie der beiden Figuren ergibt - aber der Text geht dem Konflikt recht gekonnt aus dem Weg. Die Absätze aus der Vergangenheit, da geht es ums Schwimmen, ums Tanzen, ums nackt in einem See baden - ja, das sind so Fantasien eben, so Hochglanz-Bilder aus der Werbung, wirklich nah dran an Klischees. Und die ganze Zeit hab ich das Gefühl, der Autor will damit eigentlich nur zeigen, wie grauenhaft doch die Gegenwart ist und was der Protagonist alles verloren hat.

Versteh mich nicht falsch: das hat schon seine Berechtigung, und ich habe hier schon unter so viele Texte geschrieben, dass man die Figuren besser kennenlernen, etwas aus ihrem Leben erfahren muss, um mitzufiebern - du machst genau das, aber schießt dabei etwas über das Ziel hinaus. Also um es auf den Punkt zu bringen: die Szenen aus der Vergangenheit fand ich zwar schön geschrieben, aber leider auch recht langweilig. Da plädiere ich doch dafür, entweder den Konflikt der beiden auszuweiten (im Ansatz hast du ihn ja drin), oder die Stellen zu kürzen.

Demgegenüber dann die apokalyptischen Szenen aus der Gegenwart. Wie gesagt, auch gut geschrieben, spannend auch, nur - es geht halt alles so einfach. Wie er sich da in den Bunker schleicht, dann auch so schnell dem Bischoff begegnet und der auch noch Marena dabei hat (woher wusste er eigentlich, dass Straver wegen ihr sterben musste?) - und dann alle bis auf sie durch die Handgranate umkommen, also ich bin sicher, du hast mit diesem Kritikpunkt gerechnet, aber du machst es deinem Protagonisten schon vergleichsweise einfach. Es passiert halt so, wie es passieren muss, damit die Geschichte vorangeht. Also besonders die Stelle, wo die Granate hochgeht und alle zerfetzt bis auf Marena, weil die hinter einem Kaffeetisch liegt - ja, du hast zwar davor erwähnt, dass man so einer Granate aus dem Weg gehen muss, und vielleicht stimmt das ja, aber ich fand es unrealistisch. Fand ich bisschen schade dann auch, weil man merkt, dass du gut recherchiert hast oder dich auskennst bei den Elite-Soldaten und ihrer Ausrüstung - da ist das Ende dann ein wenig zu einfach.

Ich muss Bella recht geben: der Schluss wäre eigentlich interessant gewesen. Da taucht dieser alte Konflikt wieder auf, in neuem Gewand natürlich jetzt und deutlich verschärft, aber wieder gehst du einer wirklichen Auseinandersetzung aus dem Weg. Dass der Prot. die Marena sich einfach erschießen lässt - nachdem er solche Mühen auf sich genommen hat, sie zu retten? Das kommt halt alles ein wenig schnell, weil du den Teil auf knapp einer Seite zusammenfasst, allein dieser Teil hätte eigentlich eine eigene Geschichte verdient, und je nachdem wie viel du daran noch arbeiten möchtest, würde ich ins Auge fassen, den Schluss auszubauen und dafür an den anderen Teilen etwas wegnehmen. Ich denke, dass es sich lohnt, weil es echt interessante Fragen sind, die da gestellt werden, über den Wert des Lebens in einer solch düsteren Welt, das kann man glaube ich sehr gut ausarbeiten. Aber wie gesagt, ist nur ein Vorschlag, du bist routiniert genug und hast dir sicherlich auch bei der jetzigen Aufteilung etwas gedacht.

Was die Apokalypse selbst angeht - ich finde es gut, dass du da nicht ins Detail gehst. Das ufert dann schnell mal aus, irgendwo hast du was mit Cholera erwähnt, ich würde sogar das streichen. Die Welt ist, wie sie ist - wie sie dazu wurde finde ich für das, was du erzählen möchtest, nicht von Belang.

Und ein Punkt noch:

Die letzten drei Jahre hatten ihn verändert. Er hatte Menschen brennen gesehen, hatte in den am schlimmsten betroffenen Gebieten erlebt, wie Kinder ihre Lungen stückchenweise hervorwürgten und elendig erstickten. In den Städten schossen plündernde Milizen zum Spaß auf jeden, der ihnen über den Weg lief. In den Dörfern herrschte solche Not, dass einige Verzweifelte damit begannen, Menschenfleisch zu verzehren.*
Aasens Gedächtnis barg erschütternde Bilder, wie die einer Vergewaltigung, bei der zehn Männer eine Frau und ihre minderjährige Tochter schändeten und danach in Stücke hackten – der Anblick von Bischoffs Hand auf den weißen Brüsten von Marena löste nichts in ihm aus.

Ich bin der Meinung, das kannst du streichen. Das Problem bei solchen knappen Beschreibungen ist, dass sie den Schrecken dahinter nicht transportieren können, und dann wirkt es effekthascherisch. Also bei so etwas, entweder szenisch beschreiben, oder weglassen - aber mal schnell zusammenfassen, da rate ich davon ab.

Wenn ich meinen Kommentar jetzt nochmal durchlese, wirkt er negativer, als ich die Geschichte beim Lesen empfunden habe. Ich finde das ein ambitioniertes Thema, ich finde den Aufbau auch durchdacht und klug gewählt, aber ich sehe eben auch so ein paar zentrale Schwächen, bei denen es sich lohnen würde, vielleicht nochmal dran zu schrauben. Also vor allem mehr Gewicht auf die Zeit nach Marenas Rettung legen und ein bisschen tiefer in diesen zentralen Konflikt eintauchen.

Soviel mal von meiner Seite,
Grüsse Schwups

 
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Hallo Bella,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich denke auch, dass Aasen keine Liebe im klassischen Sinne empfindet – doch, was ist das eigentlich? Er hat nie den Alltag mit Marena geteilt, sondern immer nur den paradiesischen Ausnahmezustand mit ihr erlebt und genossen. Was ihn jetzt umtreibt – und das ist sicher auch eine Spur autobiografisch – ist die Erkenntnis, dass er vieles als selbstverständlich betrachtet hat, das in Wahrheit ein Geschenk des Lebens war. Und Du hast völlig recht, er will davon etwas zurückerobern, indem er Marena sucht. So empfinde ich es jedenfalls, aber sicher sind auch andere Lesearten plausibel.

Deine Überlegungen zum Thema der Abstumpfung kann ich absolut nachvollziehen, es scheint kein grundsätzliches Maß zu geben, das klärt, was ein Mensch als grausam erlebt und empfindet – Sozialisierung spielt da sicher die größte Rolle. In jedem Falle hat aber ein hohes Maß an Abstumpfung negative Konsequenzen für das persönliche Lebensglück.

Ich habe die Ursachen der Apokalypse nicht beschrieben, weil ich der Ansicht war, dass es für die Situation der Menschen kaum eine Rolle spielt. Wenn die Zivilisation wegbricht, wenn das staatliche Ordnungsgebilde kollabiert, dann beginnt eine Selbstorganisation der Überlebenden, und die funktioniert ganz anders, als wir das gewohnt sind. Trotzdem verstehe ich Deine Neugier auf die Gründe der Katastrophe.

Du empfindest das Ende als zu kurz. Mir ist beim Schreiben aufgefallen, dass da am Schluss wirklich einiges passiert, das im Grunde hochdramatisch ist und der gesamten Geschichte einen besonderen Dreh verleiht. Das mag den Eindruck erwecken, dieser Abschluss könnte ein bisschen mehr Zeichnung vertragen. Vielleicht stimmt das. Ich werde darüber eine Weile nachdenken.

Bella, vielen Dank für Deine Hinweise. Habe mich über Deinen Kommentar gefreut.

Beste Grüße
Achillus


Hallo Schwups,

wunderbar, dass Du Zeit für die Geschichte gefunden hast und auch für Deinen hilfreichen Kommentar. Ich habe mich bei dieser Geschichte einem zermürbenden Prozess stilistischer Verfeinerungsarbeiten unterworfen: Wortdopplungen rausgestrichen, ominöse Vergleiche gekillt, langatmige Sätze kleingehackt, Adjektive und Adverbien gejagt.

Das hat auf jeden Fall Früchte getragen, auch wenn ich immer noch nicht ganz zufrieden bin. Besonders irritierend finde ich die Tatsache, dass ich beim Neulesen immer wieder dieses oder jenes Wort umändern will – ich frage mich, wie lange ich das so treiben könnte, und ob der Text bei dieser Arbeitsweise irgendwann mal fertig wird.

Ich weiß nicht, ob man so weit gehen kann, Marena als naiv zu bezeichnen. In jedem Fall, da hast Du sicher recht, sieht sie die Dinge ganz anders als Aasen. Meine Idee war, dass ihre Beziehung primär auf erotischer Anziehung beruht und die verschiedenen Grundanschauungen nur hier und da durchscheinen.

Was die Erlebnisse in Spanien betrifft, da habe ich aus eigenen Erinnerungen geschöpft und mir ist schon klar, dass das eben eine Reise-Idylle darstellt. Es ist eine Gegenwelt zur Apokalypse, aber letztlich genau so falsch. Weder in der einen noch in der anderen Welt kann man sich als Mensch in seinem ganzen Potenzial entfalten. Die Idee war aber, dass Aasen erst in der dystopischen Welt versteht, wie wenig Wertschätzung er für diese Ausflüge in die Leichtigkeit des Seins hatte. Das Thema ist also Reue, wenn man es so will, auch wenn das nicht im Vordergrund steht.

Vielleicht kürze ich in diesen Abschnitten noch mal. Ich werde da noch ein paar andere Einschätzungen abwarten. Vielleicht empfinden das ja auch andere Leser als langweilig.

Was die Befreiungsaktion betrifft, da hast Du schon recht – das ist kein strategisches Meisterstück, sondern eher eine Variante, die aus dem Zufall geboren wurde und mit viel Glück funktionierte: Aasen hatte ja eigentlich geplant, Bischoff würde Marena mit ein paar Leuten Begleitschutz zu Hartmann schicken. Er hätte Marena dann befreit, wenn sie mit Hartmann allein gewesen wäre.

Bischoff erweist sich aber als ziemlich schlau. Er versteht, dass es einen Zusammenhang zwischen dem toten Straver, seinem Komplizen und dem Auftrag gibt, Aasen zu erschießen. Als dann Hartmann seine ungewöhnliche Anfrage macht, folgert er, dass Aasen dahintersteckt, um Marena aus dem Bunker zu locken und zu befreien.

Der Clou der Idee basiert auf der Wirkung der Handgranate, die im Umkreis von mehreren Metern (je nach Bauart zehn bis zwanzig Meter) jeden Gegner, der steht, umhaut. Marena entkommt, weil sie am Boden liegt. Vielleicht hast Du recht. Vielleicht ist diese Idee zu trivial. Darüber mache ich mir noch Gedanken.

Du findest auch, wie Bella, dass der Schluss zu schnell abläuft. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass ich den Schwerpunkt der Geschichte nicht optimal austariert habe. Ich frage mich aber, wie sehr man das ausbauen kann ohne den Aufbau (Wechsel von Vergangenheit und Gegenwart) zu gefährden. Es wäre inkonsequent, am Ende mit diesem Konzept zu brechen. Auch wenn ich die Vergangenheitstexte etwas kürze – was kein größeres Problem wäre – müsste ich ein paar weitere Szenen einführen, falls ich das Ende mehr aufsplitte. Keine Ahnung, ob das geht, aber ich denke darüber nach.

Was den erläuternden Rückblick betrifft, da hast Du sicher recht. Vielleicht nehme ich diesen Absatz raus. Ich mache mir aber Gedanken darüber, ob ohne diese Rückschau plausibel ist, dass Aasen beim Anblick von Bischoff und Marena so ruhig bleibt.

Vielen Dank, Schwups, für Deine Hilfe!

Beste Grüße
Achillus

 

Die Zweigleisigkeit dieser Geschichte hätte was Schönes sein können, Achillus, wenn der Liebesgeschichtezug ebenso viel zum Erfolg beitrüge wie der soldatische. Aber das ist leider nicht der Fall. Er bringt zwar viele unnütze Details – wen interessieren die Namen der vielen dort genannten Orte? -, aber nichts Essentielles. Er hätte z.B. den Hintergrund zum Zusammenbruch der Zivilisation liefern können, die offenbar ganz plötzlich, innerhalb von max. 2 Jahren zusammen brach (Marena ist ja zu diesem Zeitpunkt um die 20 Jahre und schon einige Zeit in Händen von Bischoff).

So etwas geht nicht von heute und morgen, so etwas kündigt sich an und das muss in der Geschichte zumindest ein Echo finden. Die romantisch/erotischen Momente wirken auf mich ein wenig bemüht und naiv. Die Motivation ihres Zusammenseins wurde mir nicht klar, denn wenn es nur Sex war, dann scheint die selbstmörderische Befreiungsaktion* ebenso überzogen wie der Selbstmord Morenas. Viel eher wäre ungehemmter Sex wahrscheinlicher, was Morena auch andeutete. Aber selbst dann könnten sie versuchen zu dem einen Ort mit dem Wasserfall zu gelangen, wo Morena das Wort „uns“ benutzte. Dann wäre auch der Titel „Der Klang des Meeres“ irgendwie gerechtfertigt.

Natürlich ist die geschilderte Situation auch möglich, jedoch aufgrund des Motivationsmankos wenig wahrscheinlich. Insgesamt finde ich aber die Geschichte mit richtigen Sprachmitteln gut erzählt.

* Apropos Befreiung: Es stimmt zwar, dass man liegend bei der Explosion einer Handgranate eine größere Überlebenschance hat, aber das gilt vor allem im Freien, womöglich auf unebenen und weichen Boden, nicht aber in Innenräumen mir festen und glatten Böden, die den Splittern keinerlei Widerstand leisten. Eine Möglichkeit des Überlebens böte in diesem Fall ein kistenartiges, festes Cafétisch.

 
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Hallo Dion,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Deine Hinweise konzentrieren sich auf die Spanien-Episoden, die Du in zwei Punkten mangelhaft findest, wenn ich Dich richtig verstehe: Erstens wird in ihnen nichts zu der sich anbahnenden Katastrophe gesagt, zweitens findest Du die Beziehung, die zwischen Marena und Aasen geschildert wird, unglaubwürdig.

Zu Punkt eins: Ich kann mir das durchaus als ein spannendes Konzept vorstellen, in den Spanien-Episoden die Bedrohung anzudeuten. Da hast Du recht. Das würde den Fokus der Geschichte allerdings enorm verschieben, denn dann bekäme auf einmal die Frage nach den Ursachen der Apokalypse ins Spiel. Diese Ebene habe ich aber bewusst rauslassen wollen, weil das für die Sache, die zwischen Marena und Aasen abläuft, unwichtig ist. Finde ich zumindest. Dein Vorschlag würde ein zweites Thema eröffnen, und ich bezweifle, dass ich das bewältigen könnte.

Punkt zwei: Ich bin nicht sehr geübt im Beschreiben von Liebesbeziehungen und erotischen Geschichten. Aus dem Grunde befasse ich mich jetzt mit dem Thema. Dass Du die Schilderungen als bemüht und naiv empfandest, führe ich darauf zurück, dass da Topics wie "Sex in der Öffentlichkeit" und "Geheime Orte" beschrieben werden, die ja im Grunde so Klassiker – man könnte auch sagen Klischee – in der Erotikliteratur sind. Liege ich da richtig? Oder fandest Du die Charaktere unglaubwürdig?

Du hast geschrieben, die Motivation der beiden Figuren wäre nicht klar: Warum geht Aasen für Marena das Risiko der Befreiung ein, wenn er sie nicht "wirklich" liebt? Ich empfinde es so, dass Aasen unter der Einsicht leidet, die Zeit vor der Apokalypse nicht ihrem wahren Wert gemäß gelebt zu haben. Jetzt will er ein Stückchen dieser verlorenen Welt zurückholen. Warum will sich Marena töten? Marena leidet ja bereits vor der Apokalypse unter der Kälte der Großstadt, wie sie sagt. In der Gefangenschaft blendet sie die Realität aus. Nach der Befreiung kann sie das nicht mehr. Sie kann weder ihr Missbrauchstrauma in einer vertrauenswürdigen Umgebung aufarbeiten, noch kann sie in der verwüsteten Welt auf irgendetwas hoffen. Das könnten Gründe für Selbstmord sein.

Deine Idee, zum geheimen Ort zurückzukehren, finde ich schön. Das wäre dann wieder eine andere Geschichte, mit einer anderen Sinngebung.

Weil Schwups und Du das Thema der Handgranate angesprochen haben, dazu eine kurze Erklärung:

Bei heranfliegenden Splittern oder sonstigen Geschossen ist es immer wichtig, so wenig wie möglich Fläche zu bieten. Wer am Boden liegt, kann nicht von so vielen Splittern/ Geschossen getroffen werden, wie jemand der steht.

Wenn eine Handgranate in der Luft (über Kopfhöhe z.B.) explodiert, streut sie ihre Splitter kugelförmig in alle Richtungen. In diesem Fall ist das zu Boden werfen nicht so effektiv, weil ein Teil der Splitterwolke von oben herabgeschossen kommt.

Explodiert eine Handgranate am Boden, verteilt sie ihre Splitter halbkugelförmig. Dabei werden die Splitteranteile, die abwärts fliegen an der Bodenoberfläche reflektiert und prallen aufwärts ab. Auf ihrem Weg treffen sie auf andere Splitter und lenken diese von ihrer Flugbahn ab. Alles in allem ergibt sich so ein leicht ansteigender Winkel. Das heißt, die Splitter fliegen nicht ebenerdig durch die Gegend, sondern auf einer leicht ansteigenden Bahn.

Dieser Winkel ist sehr flach, zunächst nur ein paar Zentimeter, aber wer sich in einiger Entfernung befindet, hat vielleicht eine Chance. Ein anderes Thema sind die Splitter, die von anderen Gegenständen (im Raum) zurückprallen sowie Fragmente von Objekten und Menschenkörpern, die bei der Explosion zerfetzt werden und nun ebenfalls als Geschosse gefährlich werden können.

Neben der Splitterwirkung gibt es auch die Druckwirkung, die man nicht unterschätzen darf. Auch hier gilt, dass man weit genug von der Explosion entfernt sein muss, um zu überleben.

Im Fall der Geschichte fangen Bischoff und seine Männer einen Großteil der Splitter ab, den sie explodiert genau vor ihnen. Marena liegt weiter hinten, niedergestreckt von einem Schlag, hinter einem (geschlossenen) Tisch. Ihre Chancen sind die besten.

Aasen entschließt sich dazu, weil es sonst zu einem Feuergefecht mit Bischoffs Leuten gekommen wäre, das er nicht überleben konnte.

Beste Grüße
Achillus

 

Zunächst einmal ist das mit der Handgranate ein zu vernachlässigendes Aspekt. Aber das mit einer unangekündigten Katastrophe ist ein echtes Manko, zumal die beiden Protagonisten in der Zeit davor vorkommen/leben und diese gemeinsam verbrachten Wochen der Grund für den zweiten Handlungsstrang – Befreiung Morenas – ist. Es muss ja nicht minutiös erzählt werden, was sich da zusammenbraut, aber ein paar Worte über die zunehmend bedrohliche weltpolitische Lage können die beiden schon verlieren, schließlich ist er Soldat und erfährt/erlebt das aus nächster Nähe.

Für mich müsste der Liebesstrang der Geschichte den Grund für den Befreiungsstrang liefern. Aber diese Liebesbeziehung ist nur eine behauptete. Trotz aller Romantik entsteht da bei mir nie das Gefühl, die beiden leben zusammen oder wollen das irgendwann tun – das Wörtchen „uns“, das da einmal fällt, ist zu wenig. Liebende verhalten sich anders. Gut, die Motivation für das Ganze erscheint mir jetzt, nach deiner Erklärung, etwas klarer. Aber das habe ich in der Geschichte nicht oder nicht deutlich genug gefunden.

 

Ja, Dion, das finde ich eine gute Idee - ich überlege mal, die drohende Apokalypse zumindest ansatzweise in die Gespräche der beiden in Spanien einzuflechten. Vielen Dank für Deine hilfreichen Hinweise. Gruß Achillus

 
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Hallo Achillus,
als kleines Dankeschön für deinen Kommentar bei der Frieda habe ich mir mal deine neue Geschichte vorgeknöpft.

Im dunstigen Licht des Morgens huschte ein Schatten durch die Trümmer. Aasen entsicherte und legte an, doch dann ließ er das Gewehr sinken. Der Wolf schaute ihn an und es war, als erblickte Aasen sich selbst in den Augen des Tiers.

Mir gefällt das Ende sehr gut. Es ist ein tolles Bild. Und es ist sehr symbolisch, zeigt es doch, dass Aasen nun merkt, dass er sich die ganze Zeit etwas vorgemacht hat, dass er verändert ist, zu einem Tier geworden, das nur um das Überleben kämpft, und zwar nicht erst, seit die Apokalypse über Europa hereingebrochen ist, sondern schon vorher.
Ich finde das überhaupt ein schönes Thema, und auch die Idee, eine gerettete Frau findet das erbärmliche Leben in ihrer Gefangenschaft besser als die Befreiung. Das ist ja eine sehr harte Aussage.
Also was du da machst, ja,ich mag das.
Auch sprachlich finde ich es schön. Deine Mühe, die du immer für deine Texte aufwendest, die lohnt sich.

Aber zu einem wichtigen Punkt. Erst dachte ich, Dions Vorschlag, die Ursachen für die dystopischen Veränderungen in die Rückschauen mit Marena einzubauen, würde deiner ursprünglichen Intention zuwiderlaufen. Aber ich bin nach einigem Nachdenken jetzt anderer Meinung. Vielleicht ist es wirklich eine ganz interessante Sache. Und wenn ich mir das Ende der Geschichte anschaue und mich da so ein bisschen reinfallen lasse, dann spricht das Wolfsende eirklich dafür. Er hatte den Wolf schon in sich als Elitesoldat, abgerichtet auf Krieg und Töten, genauso wie die Welt in ihrer scheinbaren Idylle den Keim zu ihrer Vernichtung in sich trug.
Ich bin gespannt, wie du das dann machst.
Mein Grund: In den Rückschauen geht es mir so, dass ich an einigen Stellen, obwohl deine Sprache schön ist und überhaupt nicht kitschelig, dass ich es dennoch als zu idyllisch empfand. Also die ganze Welt. Das gibt sich so heilund widerspruchsfrei, wenn man mal von den Gesprächen zwischen den beiden Liebenden absieht.
Klar, du wolltest zeigen, dass er sein altes Leben, die alte Welt, nicht genug geschätzt hat, aber er war da schon Soldat, die Gründe für massive Konflikte, für seine persönliche Veränderung, die kommen da auch schon alle vor. Die Wirkung der reinen Idyll für mich war, dass einige Situationen was Künstliches hatten, da empfand ich die tanzenden Dorfbewohner und Marenas Hüfte vor einem flammenden Sonnenuntergang zu schön gezeichnet, um wahr zu sein. Die Ursachenandeutungen würden das ein bisschen brechen und dass er als Elitesoldat nicht mehr zu einer heilen Welt zurückkehren kann, das fände ich dennoch oder gerade deswegen machbar. Deine Intenton kannst du also trotzdem bewahren, wenn du es sparsam dosierst, wird es nicht zu sehr in die Richtung "Wie ist denn das Inferno entstanden" gedrückt, sondern ich könnte mir vorstellen, dass es deine Geschichte einfach noch interessanter macht, sein Wunsch, zu einem Traum zurückzukehren, zu einer heilen Welt wird dadurch nicht gestört, sondern ich finde, es kiregt eine neue, noch fiesere Ebene.

Etwas ganz anderes:
Ich hatte Probleme mit dem Hartmann. Ich hatte überhaupt nicht verstanden, wer das ist, woher der kommt, was der mit Aasens Plan zu tun hat. Ich bin da gestolpert und hab immer überlegt, ob da vorher was stand und ob ich einfach nur unaufmerksam war. Tja, wäre ich die erste gewesen, die hier kommentiert, ich hätte emsig um eine winzige Hartmanneinführung gebeten. :) Aber scheinbar hatte nur ich die Probleme. :shy: Aber du kannst es ja mal im Hinterkopf behalten.

Ja, Achillus, deine Geschichte fand ich sehr lesenswert. Sehr schön geschreiben. Abwechslungsreich durch die parallelen Handlungen. Ich mochte besonders gerne die düsteren Schilderungen in dem Kanal, aber auch den Anfang, wenn da ein Hundekadaver liegt oder die Folterung stravers. Das sind genau die shows, die einem die neue Welt zeigen, aber auch die verrohte Seite Aasens, die er ja auch hat, obwohl er nicht negativ gezeichnet ist.
Ich kann mir vorstellen, dass die G. nach der Veränderung noch einen ganz neuen Touch kriegt. Jedenfalls bin ich gespannt und lass dir gesagt sein, spannend ist sie auch jetzt schon.

Viele Grüße von Novak

 
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Hallo Novak,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich habe mich sehr darüber gefreut. In der Geschichte steckt eine ganze Menge persönlicher Erfahrungen. Ich habe beruflich auch mit Waffen, Schießen, Kämpfen zu tun und denke, dass das die Sicht auf das Leben und die Welt prägt.

Wenn ich so meine Mitmenschen beobachte, kommt mir ziemlich oft der Gedanke, dass viele davon ein Leben in so einer Welt, die ich in der Geschichte schildere, nicht durchstehen würden. Neben der Tatsache, dass viele Menschen in den reichen Ländern vergessen haben oder nicht begreifen, wie gut es ihnen – im geografischen und historischen Maßstab - eigentlich geht, ist es meinem Eindruck nach auch so, dass die Mehrzahl der Menschen fett und bequem geworden ist.

In der Geschichte arbeite ich mich auch durch mehr oder weniger bewusste Vorstellungen von Männlichkeit, in dem Sinne, wie Aasen darüber denkt und teilweise ich selbst auch – wenn Männer mit vierzig einen Bauch angesetzt haben, nicht mehr in der Lage sind, eine Stunde lang zu laufen oder zu schwimmen, dann finde ich das erbärmlich und unmännlich.

In der Geschichte erfährt diese Grundidee nun aber die Wendung, dass all das Training nicht viel nutzt, wenn ein anderer Aspekt fehlt: Das Verständnis, sinnvoll mit der Zeit des Lebens umzugehen, befriedigende Beziehungen aufzubauen, Sinn zu schaffen, der über die eigene Existenz hinausgeht. Aasen mag überleben, doch es nützt ihm nicht viel…

Was die Ursachen der Apokalypse betrifft, das ist natürlich eine interessante Frage. Aber ich habe immer noch ein bisschen das Gefühl, dass das vom Thema ablenkt. Außerdem ruft das im Leser sofort den Logiker auf den Plan, der dann fragt, wie wahrscheinlich ist es, dass es aus diesem oder jenem Grund zur Katastrophe kommt. Darum geht es mir aber eigentlich nicht in der Geschichte. Ich werde es bei der Überarbeitung aber miteinflechten und schauen, wie es wirkt.

Zur Hartmann: Er wird nicht erwähnt, bis er in der Geschichte auftaucht. Ich wollte, dass der Leser kombiniert. Aasen hat erfahren, dass er die Frauen im Bunker nicht erreichen kann. Er muss es also draußen versuchen. Zu diesem Zweck bringt er in Erfahrung (wie wird nicht gezeigt) welche Klienten Bischoff bedient. Vielleicht presst er es aus dem Alten im Bunker raus, vielleicht beobachtet er die Aktivitäten des Bunkers. In jedem Fall schleicht er sich bei Hartmann ein, lässt ihn Marena "ordern", um sie zu befreien, wenn sie und Hartmann allein sind.

Vielen Dank fürs Lesen!

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus,

ich habe deinen Text gerne gelesen. Oder nein, das stimmt nicht. Gern lesen wäre so mit wohligem Gefühl. Wohligem Schauer meinetwegen. Aber Ich mag solche Szenen mit Menschenhändlern nicht. Das geht mir immer wieder aufs Neue nah, wenn es glaubwürdig daherkommt. Erschreckend finde ich, wie inflationär mit solchen Misshandlungsthemen umgegangen wird. Kaum was drunter vermag die Leute anscheinend noch genug zu schockieren. Was natürlich nicht gegen die Geschichte geht, ja eher für sie spricht, dass mich dieser Punkt berührt.
Und letztlich müsstest du die Geschichte komplett umschreiben, wenn der Aspekt nicht auftreten soll.
Ein bisschen fragwürdig ist die Moral schon, also, sie, die den Krieg verabscheut, wird dessen Opfer und fügt sich dem, weil es ihr damit besser geht. Aber da sollen sich spitzfindigere Menschen dran stoßen.
Gelungen finde ich die Thematik des Funktionierens bei Aasen. In gewisser Weise stellt er sich ja mit seinem Weltbild über Marena, letztlich aber muss er einsehen, dass es ihm nichts einbringt. Nur so lange er einen Auftrag hat, ein Ziel, ergibt alles einen Sinn. Sobald dieses erreicht ist (er weigert sich ja auch, überhaupt darüber nachzudenken, was wird, wenn es erreicht ist), steht er im Leerlauf.
Das Abschlussbild ist sehr passend. Filmisch. So wie die gesamte Geschichte an Vorbilder aus Hollywood erinnert. Aber solche Film-Themen nimmst du dir ja äußerst gern vor. Und ich für meinen Teil lese sowas auch immer wieder mal gern. UNetrhaltungstechnisch kommt man zumindest voll auf seine Kosten.

Was die Ursachen der Apokalypse betrifft, das ist natürlich eine interessante Frage. Aber ich habe immer noch ein bisschen das Gefühl, dass das vom Thema ablenkt. Außerdem ruft das im Leser sofort den Logiker auf den Plan, der dann fragt, wie wahrscheinlich ist es, dass es aus diesem oder jenem Grund zur Katastrophe kommt. Darum geht es mir aber eigentlich nicht in der Geschichte. Ich werde es bei der Überarbeitung aber miteinflechten und schauen, wie es wirkt.
Meine Meinung hierzu: Lass es draußen. Das funktioniert doch super so, darum geht es doch nicht in der Geschichte. Eine Erklärung wäre nur notwendig, wenn sie der Geschichte eine Richtung geben würde, aber ich denke, dass würde eher ablenken. Damit stößt man so Türen auf, die in der Regel in Räume führen, aus denen einem arg verbrauchte Luft entgegenschlägt.

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Weltenläufer,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Schön, von Dir zu hören. Du hast auf jeden Fall recht, was die Häufigkeit des Misshandlungsthemas in den Medien betrifft. Dem mag einerseits eine Gier des Publikums zugrunde liegen, das sich am Leiden einer Figur ergötzen will. Es mag andererseits auch damit zusammenhängen, dass Unrecht, Rache und Vergeltung ewige Themen im menschlichen Denken sind.

Im Fall meiner Geschichte basiert alles auf der Annahme, dass die Welt ohne Ordnungsstruktur auf das Niveau des Faustrechts zurückfällt. Es mag Argumente geben, die dafür sprechen und gleichwertige, die in eine andere Richtung gehen. Falls es aber so ist, wie in der Geschichte beschrieben, würde das Marenas Überzeugungen auf eine harte Probe stellen.

Die Prämisse der Geschichte ist in meinen Augen, dass es für das persönliche Lebensglück nicht ausreicht, stark zu sein. Aasen ist stark, er wird überdauern. Doch was hat er davon?

Du hast den Aspekt des Funktionierens angesprochen. Das finde ich auch sehr wichtig. Es ist ja so ein Charakteristikum des Militärs, die Funktion einer Einheit aufrechterhalten zu wollen, egal, was geschieht. Aber man hat das auch in anderen Bereichen: bei Rettungsdiensten beispielsweise, wo sich Helfer in höchste Gefahr begeben, um ihren Job zu machen. Dabei steht dann im entscheidenden Moment nicht die Frage nach dem Sinn des Ganzen, sondern nur danach, ob man das tut, was man als Pflicht ansieht.

In abgeschwächter Form betrifft es aber uns alle - wir halten Routinen aufrecht, die oft schon längst ihren Sinn verloren haben, kämpfen Tag für Tag auf Schlachtfeldern, die ohne Bedeutung sind. Die einzige Möglichkeit, das zu vermeiden besteht darin, sich von Zeit zu Zeit hinzusetzen und zu fragen: Warum tue ich das alles?

Aasen weicht dieser Frage aus, aber es ist zu erwarten, dass ihn die Erfahrung mit Marena verändern wird.

Was die Frage nach den Ursachen der Apokalypse betrifft, da nährst Du meine Zweifel, ob man das ansprechen soll. Dion hat ein wichtiges Argument ins Spiel gebracht: Wirkt es nicht unglaubwürdig, wenn die Apokalypse ohne Vorzeichen, die von Marena und Aasen bemerkt werden, auf die Zivilisation trifft? Ich grüble über diese Frage schon eine ganze Weile und bin noch zu keinem Ergebnis gekommen.

Vielen Dank für Dein Lob zum Text, Weltenläufer.

Beste Grüße
Achillus


Hallo Vagant,

vielen Dank für Deine Hinweise. Ich finde es sehr aufschlussreich, dass Du die Sommerszenen gern noch ein bisschen weicher und verspielter gesehen hättest, während andere Kritiker es bereits zu blumig fanden. Ich schätze, das ist ein Zeichen dafür, dass hier der persönliche Geschmacks ins Spiel kommt.

Was die Präsenserzählweise betrifft, da bin ich kein Freund von. Ich weiß nicht genau, woran es liegt. Vermutlich ist es ein Vorurteil: Ich meine, wenn ich etwas beschreibe, das in diesem Moment passiert, kann ich nicht reflektiert darüber berichten. Ich kann es nicht werten, sondern nur schildern. Die auktoriale Erzählweise, die ich benutze hält sich zwar mit Wertungen zurück, aber sie ordnet und interpretiert schon ein wenig, was da passiert.

Der Showdown ist sehr kurz, das hast Du recht. Ich denke, da muss ich etwas mehr an der Balance feilen. In meiner nächsten Geschichte werde ich etwas an dieser Schraube drehen.

Noch kurz zu den Fischern: In der Gegend um Tarifa und Barbate dürfen die spanischen Fischer mit traditionellen Methoden Thune fangen (Leinen mit Angelhaken) während moderne Fangflotten riesige Netze verwenden.

Vielen Dank für Deinen Kommentar, Vagant!

Beste Grüße
Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo,

ja schade, dass Texte hier nach einer Woche schon auf Seite zwei weggespült werden ... Ich schreibe mal so mit, was mir auffällt.

Aasen atmete schwer unter der Last seines Rucksacks. Er hob den Kopf und betrachtete die Ruine des Brandenburger Tors.
Ich finde, du wählst immer sehr ungewöhnliche Namen, Aasen, Lasse. Das meine ich durchaus positiv, die bleiben im Gedächtnis. Der zweite Satz ist sehr gut. Der wirft die Frage beim Leser auf, was da passiert ist, das motiviert zum Weiterlesen.

"Deine Flinte wirst du nicht brauchen, Conrad. Ich bin es, Straver."
Ich finde es schlecht, dass Aasen hier Conrad genannt wird. Das verwirrt mich als Leser irgendwie, ich weiß schon wer gemeint ist, aber trotzdem ist es hinderlich im Lesefluss, empfinde ich zumindest so

Aasen ließ den Riemen des G36 über die Schulter gleiten.
Was mir noch auffällt: Du schreibst irgendwie viel über Berlin und Waffen; ich nehme mal an, weil das Dinge aus deinem Leben sind?

Aber es wäre schön, mal etwas zu machen, das nichts zu tun hat mit… "
vor drei Punkten gehört normalerweise ein Leerzeichen

brachte Bossa Nova - Klänge mit.
Bossa Nova-Klänge, oder?

"Einer sinnvollen Aufgabe nachgehen… "
"Als Elitesoldat bei der Marine zum Beispiel?"
Ich finde es nicht gut, dass sie das so direkt heraussagt. Ich habe gelernt, dass guter Dialog so funnktioniert, dass die Figuren das, was sie sagen wollen, indirekt sagen - und ich finde, das stimmt schon. Wenn sie sagen würde: Auf einem Panzerschiff herumfahren, und somalische Fischer filzen zum Beispiel? fände ich das viel viel besser.


So kurzes Zwischenfazit: Ich finde, das ist sauber geschrieben. Zwar bin ich ein Freund davon, keine Synonyme von sagen bei wörtlicher Rede zu verwenden, sondern echt immer nur sagte er usw., weil alles andere irgendwie wertend vom Erzähler ist - aber trotzdem sauber geschrieben. Was ich schade finde: Im Prinzip finde ich die Zeitsprünge schon gut, aber mir fehlt eine packende Handlung in der vorapokalyptischen Zeit. Wenn Zeitsprünge nur dazu dienen, den Ist-Zustand zu erklären, finde ich das schade. Hätten beide eine packende Handlung, würde deine Story einiges gewinnen.

Während er auf den Anbruch der Dämmerung wartete und nach Stechmücken schlug, dachte Aasen erstmals über eine Frage nach, der er jetzt nicht mehr ausweichen konnte: Falls es ihm gelingen sollte, Marena zu finden - was wollte er danach tun?
Seit drei Jahren kämpfte er sich durch die Landschaften der Apokalypse – es waren Jahre der Einsicht und der Erkenntnis gewesen.
Das beißt sich etwas, finde ich. Die beiden Aussagen. Ich glaube, jemand wie Aasen, der ist kann zwar jahrelang darauf fokussiert sein, sein Mädchen wiederzufinden, aber ich fände es sehr gut, wenn er so ein weiteres Ziel hätte: Afrika. Oder: Amerika. Kein Plan, wie man dahin kommt, aber: Amerika. Irgendwie. Wenn alles hoffnungslos scheint, dann brauchen die Menschen einen Lichtblick, irgendwas, an das sie sich klammern können, sonst gehen sie unter. Und so etwas wird auch Aasen gebraucht haben. So für mein Menschengefühl. Wenn er einfach ein weiteres Mal darüber grübeln würde, also in der Vergangenheit schon darüber nachdachte, dann würde meine Kritik natürlich einfach wegfallen.

Nicht nach unten sehen, dachte Aasen und hob den Kopf. Mit lockerem Schwung warf er den Arm nach vorn, fasste das Wasser und zog sich kraftvoll durch die Wellen. Er wusste, dass Marena am Leuchtturm auf ihn wartete, eine Stoppuhr in der Hand
Ach, das ist gut gemacht. Weil davor die Szene ist, in der er durch die Kanalisation schwimmt.

Bischoff lehnte sich zurück und sagte mit einem Blick auf Marena: "Ein gewisser Aasen scheint sich sehr für diese Schönheit zu interessieren. Ein Mann aus der Vergangenheit. Ein Mann, der keine Zukunft hat, auch wenn er es noch nicht weiß."
Also das Unterstrichene klingt schon sehr nach Autor, finde ich

Hartmann bewies jetzt jenen engagierten Opportunismus, dem er einen Großteil seines Reichtums verdankte.
Also ich weiß nicht, aber fällst du der Erzähler hier gerade aus seiner eigentlichen Rolle? Bis jetzt war der Erzähler ein auktorialer, der allerdings in Aasens Gedanken blicken kann - jetzt blickt er allerdings das erste Mal in die Vergangenheit einer anderen Person. Das machte der Erzähler vorher nicht

Der Wolf schaute ihn an und es war, als erblickte Aasen sich selbst in den Augen des Tiers.
Guter Schlusssatz.

Ja, wie gesagt, das ist ordentlich geschrieben. Da möchte ich auch gar nichts sagen. Was man der Geschichte allerdings vorwerfen könnte, ist, dass sie schon ein bisschen rambomäßig erzählt wird. Der taffe Einzelkämpfer, der Elitesoldat, der dann alle Männer alleine ausmerzt, um sein Mädchen zu retten - ähm, ja. Da sind schon viele Details und so drin, dass ich dir das voll und ganz abkaufe, dass er ein Elitesoldat ist, gar keine Frage - aber wie gesagt, das ist schon sehr rambomäßig, und irgendwie hatte ich auch zu keiner Zeit Bedenken daran, dass Aasen es nicht schaffen wird - das geht halt auch auf Kosten der Spannung. Diese Befreiungsaktion - die hätte halt etwas besser gemacht sein können. Ich meine, das ist schon Meckern auf hohem Niveau, aber mir hätte es eben gefallen (gerade, weil Aasen ein Elitesoldat ist), wenn er das Mädchen irgendwie total klug befreit hätte - so Fallen aufgestellt, den Zuhälter in einen Hinterhalt gelockt, und dann bricht die krasse Schießerei aus, ein C4 zündet nicht, weil es zu alt ist, Aasen gerät unter starken Beschuss, muss flüchten, wird dann durch Wälder verfolgt, ist verwundet, blutet, aber im letzten Augenblick kann er mit einer total geistreichen Idee seine Verfolger erledigen und das Mädchen retten - sowas hätte mir saugut gefallen. Aber okay, ist deine Story. Und ja, die Zeitsprünge - habe ich weiter oben schon geschrieben: Mir hätte das viel besser gefallen, wenn die Vergangenheitsszenen eine eigene Handlung gehabt hätten, so dienen sie ja bloß dazu, den Jetzt-Zustand zu erklären und Aasens Motivation zu erläutern. Aber soviel Kritik ich in meinem Fazit auch geschrieben habe, möchte ich nochmal hervorheben, dass das schon sehr sauber und echt gut geschrieben ist, ich bin nirgends gestoplert oder habe Längen empfunden. Habe ich schon gerne gelesen, ich denke, du bist auf einem guten Weg.

Gruß

 

Hallo Zigga, vielen Dank für Deinen Kommentar. Schön, wieder von Dir zu hören.

Ich fange in der Antwort mal mit Deinen zusammenfassenden Hinweisen an. Die Verbindung Aasen und Rambo kann man natürlich ziehen, weil hier wie dort ein Einzelkämpfer seine mehr oder weniger gesichtslosen Gegner mit militärischen Mitteln plattmacht. Ich finde aber, dass Kampf und Action bei meiner Geschichte nicht im Vordergrund stehen. Was die späteren Rambofilme (den ersten fand ich gut) fragwürdig macht, ist ja nicht das Einzelkämpferthema oder Spannung und Action, sondern Schwulst, Pathos, antikommunistische Propaganda, Geschichtsklitterung und die schlichte Tatsache, dass eine dumme, flache Geschichte im Grunde nur die Actionorgie rechtfertigen soll.

Ich habe beim Entwurf der Geschichte den Schwerpunkt nicht auf Kämpfen und Schießen gelegt, sondern es eher wie eine gefährliche Suche gestaltet. Du hast natürlich recht, wenn Du anmerkst, dass die Befreiungsaktion ausgeklügelter sein könnte. Aber ich habe mich für einen mehr realistischen Zugang entschieden, weil elaborierte Taktikkunststückchen in den meisten Fällen Autorenphantasien darstellen. Realer Kampf läuft recht prosaisch ab.

Ich denke, die entscheidende Wendung in der Geschichte ist ja, dass Marena mit der Befreiung nicht klar kommt. In diesem Punkt werden Aasens Bemühungen zwiespältig. Er mag der Mann sein, der Marena befreien kann. Aber er ist nicht der Mann, der ihr das Leben zurückgeben kann. Dazu reichen seine Fähigkeiten nicht.

Was die Rückblicke betrifft, sehe ich da schon ein bisschen mehr, als nur die Erklärung von Aasens Motivation, Marena zu suchen. Es wird gezeigt, dass da ein Konflikt zwischen den beiden ist – nämlich der Sinn des Soldatseins – und die folgende Apokalypse fragt dann diesen Sinn noch einmal ab. Aasen, der Krieger, kann überleben. Marena, die Pazifistin, kann es nicht. Ob es sich lohnt, in dieser Welt zu überleben, ob überleben ausreicht – das ist dann der zweite Teil dieser Problemkonstellation.

Deine Rechtschreibhinweise habe ich gleich umgesetzt. Insbesondere diese neue Dreipunktregel nervt mich sehr, sind wohl die einzigen Satzzeichen, die man erst nach Leerschlag setzt.

Deinen Hinweis zum Dialog finde ich gut. Das werde ich zukünftig im Hinterkopf behalten.

Was diese Stelle betrifft: Hartmann bewies jetzt jenen engagierten Opportunismus, dem er einen Großteil seines Reichtums verdankte. - Beim Schreiben fand ich es okay, weil der Autor ja nicht Hartmanns Perspektive einnimmt. Über die Vergangenheit wird ja auch in anderen Zusammenhängen geschrieben (ehemaliges Hotel, ehemaliges BND-Zentrum etc.) Trotzdem hast Du recht, es ist ein kleiner Bruch, was die Personendarstellung betrifft.

Dann abschließend zum Thema der Inquit-Formel: "Zwar bin ich ein Freund davon, keine Synonyme von sagen bei wörtlicher Rede zu verwenden, sondern echt immer nur sagte er usw., weil alles andere irgendwie wertend vom Erzähler ist …"

Das leuchtet mir überhaupt nicht ein. Ich habe diese Forderung bisher nur einmal auf einer Blogseite gelesen, aber ich konnte die Argumentation nicht nachvollziehen.

Es gibt zu sagen durchaus nicht-wertende Alternativen wie antworten, meinen, erwidern, die man einsetzen kann, um das ewige sagen mal abzuwechseln. Zwar wurde in dem erwähnten Blog behauptet, dass der Leser das sagen nicht mitliest, wenn er Anführungszeichen sieht, aber dieser Logik zufolge braucht man auch in der Ecke hinter der Tür nicht zu putzen, weil niemand hinschaut. Permanent wiederholte Lautähnlichkeiten sind unschön, das gilt auch im Fall von sagen.

Ein zweiter Punkt ist, dass es oft auch wichtig ist, zu beschreiben wie jemand etwas äußert: sagen ist neutral, aber man kann auch flüstern oder schreien oder brummen. Damit ändert sich dann der Sinn des Gesagten manchmal völlig.

Ein dritter Punkt in meiner Überlegung zu diesem Thema ist, dass kein Autor, den ich kenne, nur sagen benutzt. Wer schreibt denn so? Vielleicht muss ich das einfach mal lesen, um mir ein Bild zu machen. Autoren, die ich schätze, wie LeCarré, Greene, Márquez benutzen immer auch Synonyme für sagen.

Mich interessiert deshalb sehr, wie Du zu Deinen Ansichten zu diesem Thema gekommen bist.

Vielen Dank für Deine Zeit, Zigga.

Beste Grüße
Achillus

 
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Hi Achillus,

Dann abschließend zum Thema der Inquit-Formel: "Zwar bin ich ein Freund davon, keine Synonyme von sagen bei wörtlicher Rede zu verwenden, sondern echt immer nur sagte er usw., weil alles andere irgendwie wertend vom Erzähler ist …"
Das leuchtet mir überhaupt nicht ein. Ich habe diese Forderung bisher nur einmal auf einer Blogseite gelesen, aber ich konnte die Argumentation nicht nachvollziehen.
Mich interessiert deshalb sehr, wie Du zu Deinen Ansichten zu diesem Thema gekommen bist.
Okay, ich versuche mal meine Gedanken zu ordnen, und sie dir zu äußern. Vorab möchte ich dir aber sagen, dass ich keineswegs beabsichtigt hatte, dass du diesen reinen sagen-Stil übernehmen solltest oder so - ich finde das total in Ordnung, wenn du sagst: Nee, ist nicht meins, ich nehme Synonyme. Ist im Prinzip echt auch nur Geschmackssache; aber ich wollte dir diesen Gedanken von mir mit der Inquit-Formel eben nicht vorenthalten.

Also ich habe da so eine Theorie, was das mit dem sagen angeht: Ich habe mich mal eine Zeit lang mit Psychologie und dem Aufnehmen von Information ins menschliche Gehirn und so beschäftigt, einfach, weil ich's interessant finde, und ich bin für mich zu dem Entschluss gekommen: In normalen Gesprächen immer nur sagen verwenden. Wegen dem Lesefluss.

Das menschliche Auge und das menschliche Gehirn sind so geschaffen, dass jedes Wort, das gelesen wird, kurz verinnerlicht wird und dann auf die innere Leinwand des Lesers geworfen wird. Das läuft alles innerhalb von Millisekunden ab, aber beeinflusst trotzdem auf sensible Art den Lesefluss. Hast du jetzt einen längeren Dialog, und verwendest erwiderte er, antwortete sie, meinte er, dann halte ich das für eine unnötige Anstrengung des Gehirns und der "Übersetzung", damit der Leser im Prinzip das gleiche Bild auf seiner inneren Leinwand bekommt, als würde er sagte, sagte, sagte lesen - denn hat er mal das Wort sagte für sich übersetzt, dann wird der Leser über dieses Wort hinwegfliegen, er wird es gar nicht bewusst wahrnehmen, aber trotzdem die richtigen Bilder im Kopf haben. Verstehst du, was ich meine? Ich weiß, das klingt alles ziemlich abgehoben, und da gibt es bestimmt auch keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, und wer sagen will: Das ist doch totaler Schwachsinn!, der soll das sagen, mir egal, ich denke eben so. Wirkliche Synonyme zu "sagen", wie meinen, antworten, usw., das strengt das Gehirn eben unnötig an und hemmt somit den Lesefluss, es flutscht nicht so gut. Meine Meinung. Was man allerdings nicht miteinbeziehen darf, und was ich selbst auch gern verwende, sind Synonyme, die den Klang des gesagten Wortes anders beschreiben, wie schreien oder brummen; stell dir vor, du liest folgendes:
sagte, sagte, sagte, sagte, sagte, schrie sie; da sticht das Schreien total heraus, und vorher bist du über die sagte nur so hinweggeflogen, und hattest immer das gleiche Bild vor Augen. Dagegen die andere Variante:
antwortete, meinte, erwiderte, schlussfolgerte, beschwichtigte, schrie sie; das ist doch viel sperriger zu lesen, und du musst dir kurz zu jedem Wort unnötig Gedanken machen, obwohl sie in einem Dialog die gleichen Bilder vor's innere Auge des Lesers werfen würden, oder? Und das schrie sie, das sticht auch nicht so hervor, also, das ist kein Höhepunkt im Dialog, so rein vom Lesen her, wenn jemand dann das Schreien anfängt.

Wie gesagt, wenn du Synonyme für sagen magst, ich will dir das nicht ausreden. Das ist vollkommen in Ordnung, das ist bloß so eine Theorie von mir, ich will das keinesfalls jemanden aufzwingen, das schwebt mir gar nicht vor. Aber ich denke, an meiner Theorie ist schon was dran. Ich hoffe du hast verstanden, wie ich das meinte. Wenn du Lust hast, kannst du mir gerne darauf antworten, ich finde das Gespräch interessant.

Grüße

 

Hey Zigga, Deine Theorie leuchtet mir grundsätzlich schon ein, aber ich finde, Du legst den Schwerpunkt zu sehr auf das Thema "Lesefluss". So ein Fluss des Textes ist zwar viel wert, aber nur dann, wenn auch andere Faktoren stimmen wie beispielsweise Klang, Rhythmus und Tempo. Wenn ich statt Synonymen immer wieder das selbe Wort verwende, mag der Text schnell zu lesen sein, aber er klingt schlecht.

Ich stimme mit Dir darin überein, dass es gerade in den Inquitformeln bei einigen Autoren zu Übertreibungen kommt. Man sollte nicht krampfhaft versuchen, jedes "sagen" durch ein anderes Wort zu ersetzen. Aber wenn man hin und wieder variiert, erhöht das nach meinem Empfinden die Klangqualität des Textes.

Und noch einmal das Autoritätenargument: Wenn es literarisch wirklich besserer Stil wäre, immer nur "sagen" zu verwenden, warum haben sich daran bisher Autoren wie Eco, Conrad, Hemingway, Márquez nicht gehalten – sie alle streuen gelegentlich ein "er begann:" / "knurrte er" / "erwiderte er" / "stimmter er zu" in die wörtliche Rede. Mit leuchtet nicht, weshalb das heute schlecht sein soll, wenn es jahrzehntelang gut war. Orientierst Du Dich beim Schreiben nicht an Vorbildern?

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

mich erinnert der Grundkonflikt dieses Textes an "The Road", bzw an die Ehefrau des Protagonisten, die dann nachher einfach nackt in den Wald rennt. Sie will auch nicht einfach nur überleben. Aasen kennt das, er ist darauf trainiert, er überlebt, weil er es kann, weil er diese Disziplin verinnerlicht hat. Man könnte annehmen, er fragt sich nicht einmal, ob das nicht einfach nur Aktionismus ist. Mit dem Text stellst du ja auch implizit die Frage, was denn 'gutes und richtiges Leben' ist, welche Merkmale es aufweist.

Mir kommt dieses dystopische Szenario nicht bedrohlich genug vor, ich nehme das dem Text nicht ab. Natürlich brauchst du dies, um den Konflikt schärfer hervortreten zu lassen, aber dafür ist mir die Gesamtsituation zu weit weg, zu unwirklich. Du fasst das zusammen, er erinnert sich an ein paar Grausamkeiten, und dann rechnest du damit, dass der Leser sich den Rest dazudenkt. Seuche, Festung Europa gibt es nicht mehr, Gewalt, Kannibalismus - let's go! So funktioniert das nicht, zumindest nicht bei mir. Hier ist eindeutig zu viel tell drin, und zu wenig show.

Ich finde, deine Sprache sorgfältig, aber oft bemüht. Du hast so Beschreibungen drin, die sollen gut klingen, die sollen bildhaft sein, (wie die Mamba), die wirken aber oft hölzern und gewollt, als hättest du die in einem anderen Zusammenhang schon einmal gelesen, und etwas verändert wiedergegeben. Man spürt regelrecht, dass hinter all dem deine eigene Stimme steckt, und die will auch unbedingt raus, aber du hast da glaube ich eine bestimmte Form im Kopf, und in die möchtest du alles gießen. Trenn dich doch mal davon und schreib einfach los.

Ich würde die zweite Ebene streichen, und zwar restlos. Verkürze das Ding, oder aber mach sie dreimal so lang, mit Exposition, und dramatischem Finale. So wirkt sie wie die Zusammenfassung eines Romans, denn den Stoff dafür hättest du ja. Ich würde dir raten, dich auf einen Aspekt zu beschränken. Wenn du diesen nihilistischen Grundgedanken von ihr darstellen möchtest, dieses sich-aufgeben, dann würde ich mich darauf beschränken. Diese Militäraktion, diese Befreiungsaktion, die nimmt einfach zu viel Raum ein, die lenkt ab.

Ich gebe zigga uneingeschränkt Recht, was die Kennzeichnung wörtlicher Rede angeht. Hemingway hat übrigens auch fast immer nur 'sagen' verwendet, so auch Elmore Leonard und andere. Zigga hat da vieles schon zu gesagt, aber noch eine andere Sache; der Autor mischt sich ein. Der Leser braucht auch keine Angaben wie leise, laut, brüllen oder sonstwas: Das ist die Aufgabe des Autoren, den Charakter so glaubhaft zu zeichnen, dass der Leser weiß - jetzt schreit er, jetzt flüstert er. Alles andere ist der Autor, der sich da reindrängt in diese Ebene zwischen Text und Leser, der da rumfuchtelt und noch schnell Aufmerksamkeit erheischen will. Nüchtern, klar, ist besser.

Dialoge. Die klingen wie geschrieben. Elmore Leonard sagte, wenn es wie geschrieben klingt, schreib es neu. Deine Figuren sprechen reinstes Schriftdeutsch, selbst im Angesicht einer totalen Katastrophe - ich nehme denen das nicht ab. Es müsste viel knapper, rotziger, aggressiver sein, im Angesicht dieser Bedrohung, dieser Gesamtsituation.

Du solltest dich entscheiden, entweder, du haust hier rein, 20 000 Wörter, oder mehr, oder du verkürzt es auf das Notwendigste.

Gruss, Jimmy

 

Hi,

ich finde, Du legst den Schwerpunkt zu sehr auf das Thema "Lesefluss". So ein Fluss des Textes ist zwar viel wert, aber nur dann, wenn auch andere Faktoren stimmen wie beispielsweise Klang, Rhythmus und Tempo.
Da stimme ich dir schon zu, das darf nicht auf der Strecke bleiben. Weißt du, ich denke, es ist wie beim Musikspielen: Da kann man auch nicht sagen, spiel alles im Shuffle, dann hast du automatisch einen guten Blues. Da gehört auch noch Klangkörper, Anspieltechnik, Saitenart und und und dazu. Z.B. bei einem sehr schlicht gehaltenen Schreibstil mit knappen Dreiwortsätzen, wenn der gut ist, baut er vielleicht auf Synonyme für sagen auf, einfach, weil sie gut im Textfluss klingen und es passt. Dann ist es ja okay. Es gibt keine Patentformel. Aber hier in deinem Text, wie gesagt, ich hätte es mir gut vorstellen können. Klar, ich hab schon Vorbilder beim Schreiben, einfach Autoren, deren Zeug ich beim Lesen gefeiert habe und mir dachte: Wieso kannst du sowas nicht? Salinger, Herrndorf, Fitzgerald, Böll, die würden mir jetzt spontan einfallen, die haben mich in der letzten Zeit geflasht. Hemingway habe ich früher viel gelesen, und weil ich hier gerade Wem die Stunde schlägt auf dem Tisch liegen habe, habe ich mal reingeschaut: Der benutzt auch immer sagte, so zu 80%. Den Rest fragte oder rief. Aber gut, wie gesagt, du musst den Stil finden, den du selbst gut findest, da kann dir keiner reinreden.

Grüße

 

Hallo Zigga, danke nochmal für Deine Antwort. Wir stimmen in dem Punkt überein, dass krampfhaftes Suchen nach Alternativen zu "sagen" in der Inquitformel zu unguten Resultaten führt. Wenn Du schreibst, dass es keine Patentregel gibt, dann heißt das für mich auch, dass eine Regel, nach der man immer nur "sagen" verwenden sollte, Quatsch ist. Und Hemingway schrieb nicht nur "fragte", "rief" etc., sondern auch:

"But you have the same name," Mrs. Braddocks insisted cordially.

oder

Brett smiled at him. "I've promised to dance this with Jacob," she laughed.

oder

"He went home with Frances," Mrs. Braddock put in.

Und was die anderen von Dir genannten Autoren betrifft:

und schließlich murmelte er: »Machen Sie mir doch einen Vorschlag, Herr Schnier.« Böll

»Ich bin völlig steif«, klagte sie. »Ich habe auf diesem Sofa gelegen, solange ich denken kann.« Fitzgerald

Der Jüngere, der eigentlich ganz nett aussieht, schüttelt den Kopf und wiederholt: « Fünfzehn ist Quatsch. Vierzehn. Mit vierzehn bist du strafmündig. » Herrndorf

"Mother," the girl interrupted, "I just told you. He drove very nicely. Under fifty the whole way, as a matter of fact." Salinger

Natürlich kann man fragen, ob diese Beispiele nicht Ausnahmen darstellen. Das tun sie sicher. Rechnet man aber noch die viel häufigere Verwendung von "rufen", "fragen" und "schreien" dazu, wird klar, dass diese Autoren auf keinen Fall ständig oder nur "sagen" verwenden.

Ich hoffe, in diesem Exkurs ist nicht untergegangen, dass ich Deinen Kommentar zur Geschichte sehr zu schätzen weiß. Diese Inquit-Sache ist ja nur ein Nebenschauplatz. Vielen Dank für Deine Zeit und Deine Mühe.

Beste Grüße
Achillus

Hallo Jimmy, ich fand es schön, dass Du was zu meiner Geschichte geschrieben hast – ist, glaube ich, der erste Kommentar von Dir zu einer meiner jüngeren Sachen überhaupt, und das hat mich natürlich sehr gefreut.

Für mich läuft Dein Kommentar inhaltlich auf drei Bereiche hinaus: Es gibt Argumente, denen ich vorbehaltlos zustimmen kann. Es gibt auch Sachen, die ich für eine Frage des Geschmacks halte, die nicht so viel mit Textkritik zu haben, aber trotzdem eine wertvolle Rückmeldung darstellen. Und dann gibt es noch einen dritten Bereich, wo wir in unseren Überzeugen komplett auseinander liegen.

Von vorn: Du hast sicher recht, wenn einige Bilder und Dialoge noch verbesserungswürdig sind. Das sehe ich selbst auch so. Ich stimme Dir außerdem auch darin zu, dass man mit Synonymen zu "sagen" in der wörtlichen Rede noch sparsamer umgehen kann, wenn gleich "fast immer nur" im Fall von Hemingway sicher nicht stimmt. Insbesondere Deine Überzeugung "Der Leser braucht auch keine Angaben wie leise, laut, brüllen oder sonstwas" trifft für Hemingway sicher nicht zu. Lies Dir mal diese kurze Leseprobe durch, da taucht allein schon drei mal "schreien" statt "sagen" in der wörtlichen Rede auf. Zum Nicht-Einmischen-Thema komme noch zurück, denn das halte ich für ein Fehlkonzept.

Teil zwei: Dir ist die dystopische Landschaft zu wenig dystopisch. Das werte ich als Geschmacksurteil. Ich finde es wichtig, das zu hören, denn es zeigt mir, wie der Text auf unterschiedliche Leser wirkt. Andere Leser empfinden es aber nicht so, was zeigt, dass es hier nicht um einen Aspekt des Handwerklichen geht, sondern um persönliche Vorlieben. Einige Leser mögen es sehr eindringlich und drastisch, andere bevorzugen es etwas zurückhaltener.

Deine Argumentation, der Mangel an Eindringlichkeit liege daran, dass zu viel zusammenfassende Beschreibung verwendet wurde, kann ich nicht nachvollziehen: Ich habe ausgerechnet, dass der Anteil an beschreibender Erzählung im dystopischen Teil bei etwa 15 Prozent liegt. Das kann man kaum als übertrieben bezeichnen. Von diesen 15 Prozent abgesehen, bewegt sich die Erzählung immer im Konkreten, immer im Szenischen mit ziemlich düsteren Details wie Ruinenlandschaften, Schusswechseln, Menschenhandel, Menschenmissbrauch und sexueller Ausbeutung, Ungeziefer, Gestank, Armut, gnadenlosen Verhaltensweisen, Heimtücke, ethischer Verwahrlosung, Mühsal, Hoffnungsarmut, Zynismus, Brutalität und Agonie. Wenn ich das so aufzähle - für jeden Aspekt könnte ich Dir die entsprechende Textstelle zeigen - frage ich mich schon, weshalb Dir das nicht genügt. Davon abgesehen habe ich auch Leser gehört, denen es stellenweise zu viel und zu düster war.

Dritter Teil: Ich habe mich in den letzten Monaten viel mit diesem Konzept "Der Autor darf sich nicht einmischen, darf nicht bewerten" herumgeschlagen. Ich weiß nicht, bis zu welchem Grad Du diese Sicht vertrittst. Ich nehme an, Du übertreibst es manchmal ein bisschen in der Argumentation, so nach dem Motto "Übertreiben macht anschaulich." Trotzdem war das für mich der Anlass, Deine Texte nicht mehr zu kommentieren, denn ich hatte das Gefühl, dass ich Dir für diese Richtung, in die Du strebst, nichts mehr zu sagen habe.

Ich halte das Konzept des wertungsfreien Erzählers für feige, charakterlos und in intellektueller Hinsicht für naiv. (Nur um Missverständnisse auszuschließen: Ich beziehe mich damit nicht auf Dich, aber das ist hoffentlich klar.) Fangen wir beim intellektuellen Aspekt an: Es ist grundsätzlich unmöglich eine Geschichte wertungsfrei zu erzählen, denn wenn uns die Moderne auch eine Menge Scheiß eingebrockt hat, so wissen jetzt zumindest zweifelsfrei, dass es eine wertungsfrei Sicht auf die Dinge nicht geben kann. Bereits die Auswahl des Betrachteten birgt eine Wertung. Umso mehr gilt das für Beschreibungen und Schilderungen: Jedes Wort ist bereits eine Theorie, auch wenn manche das nicht wissen. Sich einzubilden, man könne irgendetwas wertungsfrei beschreiben, ist gänzlich naiv.

Darüber hinaus ist es feige: Literatur hat ja meist mit der Darstellung von Konflikten zu tun. Der Erzähler stellt den Konflikt möglicherweise sachlich, unaufgeregt, zurückhaltend dar, aber er kann nicht anders, als den Konflikt auch zu werten. Er wertet ihn bereits, indem er ihn erwähnenswert findet. Er wertet ihn darüber hinaus, indem er Kausalketten beschreibt. Wie geht es einem Mörder nach der Tat? Geht es ihm gut? Das ist eine Wertung und ein Urteil des Erzählers. Geht es ihm schlecht. Das ist ebenfalls ein Urteil. Fühlt er gar nichts? Wiederum ein Urteil. Autoren, die behaupten, sie bewerten nicht, sind nur zu feige, Stellung zu beziehen.

Es gab mal Experimente zum Thema absichtsloser Kunst, bei der mit Digitalkameras zufallsgesteuert Aufnahmen vom Großstadtleben gemacht haben. Der Fotograf konnte nicht vorhersehen, wohin die Kamera schaut, welches Licht vorherrscht, welche Szene sich gerade abspielt. Ich würde nicht so weit gehen, diese Fotos als wertlos zu bezeichnen, aber für mich sind es lediglich interessante Experimente. Kunst ist für mich ein Prozess, der durch das menschliche Bewusstsein strukturiert und gefiltert wird. Absichtslose Kunst gibt es nicht. Ein Text, der nichts behauptet, ist beliebig und wertlos.

Das alles soll heißen: Ich will, dass der Erzähler sich einmischt. Ich will, dass man den Erzähler als Charakter wahrnimmt, denn das ist er: eine Figur der Geschichte. Dabei soll er zurückhaltend vorgehen, denn es geht nicht um die Darstellung einer Privatmeinung, die zu jedem Tisch und jedem Stuhl und jedem Lächeln zu sagen hat, ob das schick, gut gewählt oder zauberhaft ist. Aber das, was wir lesen, ist und bleibt, die Welt aus den Augen des Erzählers geschildert. Es ist keine irgendwie "objektive Wirklichkeit", die es ohnehin nicht geben kann.

Sorry für den langen Exkurs, aber ich fand es passend, weil Du es erneut angesprochen hast und mir auch in Bezug zu Deinen Texten wichtig war.

Vielen Dank für Deine Mühe und Zeit. Trotz meiner Vorbehalte habe ich mich über Deinen Kommentar gefreut.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus,

ich bezweifel nicht, dass der Autor immer eine Intention hat. Sicher hast du auch hier, in diesem Text, eine Intention gehabt. Das sage ich ja auch: Für mich stellt der Text nicht nur eine Frage, sondern gleich einen ganzen Komplex. Was ist uns wichtig? Was macht einen Menschen zum Menschen? Was ist 'das Menschliche' und gibt es das überhaupt? Wichtige Fragen. Gibt der Text darauf eine Antwort? Ich finde, er macht es ungenügend. Du reduzierst diese Fragestellung auf ein persönliches Schicksal, vor einem düsteren Hintergrund. Das ist ein geschickt gewähltes Setting, in dem es aber bis auf die Befreiung, die dann ja an sich ein egoistischer Akt gewesen ist, nichts passiert. Das meine ich auch vielleicht mit zu wenig dystopisch. Mir fehlt das Gefühl, dass es sich hier um eine echte Grenzsituation handelt. Die wirken mir noch zu menschlich, die haben noch Umgangsformen, trinken Wein, das klingt fast schon dekadent. Man spürt, das hinter diesem Text, so wie er aktuell ist, etwas ganz Anders liegt; ein viel härterer Text, ein unmittelbarer Text. Das empfinde ich jedenfalls so.

Ist vielleicht nicht durchgekommen: Ich finde den Text gut. Da liegt aber noch mehr drin. Einerseits glaube ich, möchtest du in deinen Geschichten immer etwas zeigen, du hast da einen Anspruch, das spürt man richtig, aber dann wiederum ist es dieser Anspruch, dieses Rationale, das die Emotionen einschränkt. Das ist schwer zu erklären, ich hoffe, es kommt nicht falsch an.

Wenn du einen Erzähler haben möchtest, der sich einmischt, benötigst du eine Rahmenhandlung, du musst ihn dann verorten - das nimmt dieser Geschichte hier den Drive, finde ich. Das ist aber natürlich deine Sache.

Gruss, Jimmy

 

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