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Der Konspirations-Illusionist

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25.02.2006
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Der Konspirations-Illusionist

Manchmal denke ich, ich sei verrückt. Nicht ganz der Norm entsprechend, ein wenig neben der Spur, bekloppt, wie man so schön sagt. Dann wieder überwältigt mich der Gedanke, der einzig verbliebene Rest Hirn in meiner näheren Umgebung zu sein.
Natürlich gebe ich gelegentlich vor, mich ernsthaft für das derzeit angesagte Thema zu interessieren, sei es der momentan bedeutungsvollste Krisenherd in Region XY oder das Privatleben irgend eines zugekoksten Chartstürmers. Ich reibe mir dann immer dezent den Nasenflügel oder greife mir mit der Hand in den Nacken um zumindest unterschwellig mein gefühltes Unbehagen zu signalisieren. Das interessiert mich alles einen verfluchten Scheißdreck, ihr angepassten Lemminge! Die Courage, so etwas laut zu äußern habe ich selbstverständlich nicht. Wie gesagt, ich bin nicht verrückt.

Letzte Woche haben sie eine gewisse Frau Meier abgeholt. Ich kannte sie nicht persönlich, nur flüchtig als zufällige Nachbarin im Call-Center. Eine resolute ältere Dame, immer höflich und mit einer Schachtel Pfefferminz-Drops bewaffnet, ganz in der ehrlichen Selbsteinschätzung, nach mehreren Stunden des Dauertelefonierens nicht mehr den allerbesten Atem zu haben. Kleinigkeiten wie diese machen den Unterschied. Anderen meiner Arbeitskollegen fehlt selbst dieses Minimum an Selbsteinschätzung und warum sollten sie sich auch damit belasten. Niemand spricht sie auf ihre zerzauste Frisur oder das fleckige Hemd an, niemand hustet gekünstelt in ihrer Gegenwart. Jeder ist sich selbst der Nächste und wer eben der Meinung ist, unrasiert oder mit verschwitzten Achselhöhlen auf Arbeit erscheinen zu müssen, bitteschön. Es ist ja nicht so, dass es irgendeinen Unterschied ausmacht. Unser Kapital ist unsere Stimme und selbst die wird dank neuester Datenschutz-Bestimmungen bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Offiziell geht es darum, ein repräsentatives Meinungsbild der deutschen Bevölkerung zu relevanten Themen zu erstellen. In Wirklichkeit horchen wir die privaten Wünsche und intimsten Gedanken von kritisch denkenden Individuen ab, quasi die Stasi 2.0 im Web 2.0.

Frau Meier hatte es gewagt, Fragen zu stellen. Ihre vorgeblich per Zufallsprinzip ausgewählten Interview-Partner hatten sie mitten im Gespräch erkannt. So etwas sollte laut internen Richtlinien unter allen Umständen vermieden werden, daher die Stimmenverfremdungs-Software. Für den Angerufenen sollte es sich wie gesagt nur um eine harmlose Umfrage handeln, nichts weiter. Er oder sie sollte auf keinen Fall Verdacht schöpfen. Welche Partei würden sie am Sonntag wählen, welche Krawattenfarbe bevorzugen sie, welchen Radiosender hören sie am liebsten. Harmlose Fragen zu harmlosen Allerweltsthemen. Das parallel aktivierte Computerprogramm analysierte unterdessen die Stimme des Interview-Partners und anhand dessen seinen derzeitigen Bewusstseinszustand. War er oder sie noch hellwach oder hatte er oder sie bereits „abgeschaltet“? Das war dann der Zeitpunkt, in dem die entscheidenden und mehr in den Privatbereich abzielenden Fragen „geschaltet“ wurden, für uns Interviewer in der Signalfarbe Rot gekennzeichnet. Wir wurden daraufhin geschult, diese Fragen möglichst beiläufig und in einer sonoren Tonlage zu stellen, um das angerufene Individuum unter keinen Umständen zu beeinflussen. Fragen nach der Vorliebe bei Sexualpraktiken wurden genauso gestellt wie die Einstellung zu Nachbarn, Freunden und Bekannten. Wenn jemand beispielsweise die Todesstrafe bei Kapitalverbrechen für legitim hielt, wurde nach gebohrt, ob man eventuell auch dem eigenen Chef diese angedeihen lassen würde. Sollte jemand das „demokratische Prinzip“ ablehnen, wurde weiter geforscht, welche Herrschaftsform ihm/ihr denn stattdessen genehm sei (worauf in der Regel mit Schweigen geantwortet wurde).

Je länger man als Interviewer dabei war, desto offensichtlicher wurde es, dass der Kreis der angerufenen Personen keinesfalls beliebig und anonym war sondern im Gegenteil nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe überhaupt telefonisch belästigt wurde. Meistens bekam man dann zu hören, dass solche Anrufe ja ständig kämen und man gar nicht verstehen könne, warum gerade die eigene Person ständig angerufen wurde. In diesem Fall lautete die standardisierte Antwort: „Es handelt sich um ein rein zufälliges Auswahlverfahren und es gibt keinerlei Einfluss darauf, welcher Anschluss in ihrem Bundesland ausgewählt wird. Es hätte genauso gut ihren Nachbarn treffen können.“ Eine glatte Lüge.

Am Beginn seiner Laufbahn war sich ein Interviewer der perfiden Tricks natürlich nicht bewusst und die meisten meiner Kollegen waren von den permanenten Reizen der Unterhaltungsindustrie bereits dermaßen verblödet, dass ihnen jedes eigenständige Denken vollständig abhanden gekommen war. Warum/Weshalb/Wieso bestimmte Umfragen zu bestimmten Themen zu bestimmten Zeiten in einer überschaubaren Region geschaltet wurden, interessierte niemanden. Selbst wenn es einen Polizeieinsatz am darauf folgenden Tag in eben jener Region gab und Personen verhaftet wurden, die sich zuvor kritisch einem bestimmten Thema gegenüber geäußert hatten, gab es keinerlei Fragen oder Diskussionen. Nur dieses dumpfe Empfinden, dass irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuging und verdammt nochmal, irgendwer irgendetwas dagegen unternehmen musste. In der Regel blieb es dabei und nichts geschah. Nur Frau Meier hatte es gewagt, Fragen zu stellen.

Zufällig habe ich mit angehört, wie sie unseren Supervisor, einen stets lächelnden kleinen Glatzkopf während der Arbeitszeit konfrontierte. Seine grinsende Visage geriet zu einer unwirklichen Maske und glänzende Schweißtropfen perlten an seinen Schläfen herab. Ab und zu nickte er, ohne seine erstarrte Maske auch nur für einen Augenblick fallen zu lassen. Nachdem Frau Meier ihren Monolog beendet hatte, legte er ihr seine rechte Hand um die Schulter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann entfernten sich beide zusammen aus dem Großraumbüro. Man hatte fast den Eindruck, ein altes Ehepaar hätte sich nach einer kleinen Meinungsverschiedenheit wieder versöhnt.
Am darauf folgenden Arbeitstag, ich glaube, es war ein Freitag, blieb Frau Meiers Platz leer. Nur ihr Namensschild erinnerte daran, dass sie heute nicht erschienen war. In der darauf folgenden Woche war auch das Namensschild verschwunden. Nur ein leerer Platz war zu besichtigen.

Am liebsten würde ich ihr Gesicht und jede Erinnerung an diese, mir eigentlich vollkommen fremde Person aus meiner Erinnerung löschen, aber es geht nicht. In nicht allzu ferner Zukunft wird so etwas wohl möglich sein.

 
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Hallo Marvin,

ich finde die Geschichte ganz in Ordnung mit tollen und vor allem wütenden Vergleichen und Beschreibungen. An einigen Stellen (um,zu) müssten Kommas gesetzt werden.

Ich frage mich nur, ob es "Horror" ist.

Sehr schön fand ich die Call-Center-Atmosphäre dargestellt. Da ich selbst in so einer Sträflingsanstalt knechten musste, kam mir doch gleich wieder die Galle hoch.

Lieber Gruß,

Vincent

 
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Moi Marvin,

ich finde Deinen Text unterhaltsam, allerdings für die gradlinige Handlung mit Pointe auch etwas zu lang.

Es gibt hier in Horror ja auch die Variante düsterer, gestörter Gedankengänge, muß ja nicht immer Zombiesplatter sein: aber ich muß mich Vincent anschließen - hier sehe auch ich den Horroraspekt nicht.

Je nachdem, wie die Intention war, würde ich den Text bei Gesellschaft oder Satire verorten. Dort hätte die Pointe auch mehr Knalleffekt, als hier, wo man was richtig Fieses erwartet. Ich war ziemlich enttäuscht, daß "nur" ein Überwachungssystem in der Mafo dahintersteckt, und nichts weiter groß passiert (für diese Rubrik, wohlgemerkt).

Es ist selbstverständlich Deine Entscheidung, wo der Text steht, aber schick mir ne PN, oder schrieb im Antwortkomm, falls Du die story verschieben lassen möchtest (und wenn: wohin).

Herzlichst,
Katla

Und auf Wunsch des Autors verschoben nach Gesellschaft :-)

 

Hallo Marv,

ein wenig neben der Spur gelegen

Kenne ich als "neben der Spur sein", ich bin ein bisschen neben der Spur, ich liege neben der Spur habe ich noch nie gehört.

„bekloppt“

Kenne ich von der Zeitung, dass jedes auch nur im Ansatz nach Umgangssprache klingende Wort in Anführungszeichen gesetzt wird. Nervt. Lass das doch.

warum sollten sie sich auch damit belasten.
War er oder sie noch hellwach oder hatte er oder sie bereits „abgeschaltet“.

Die müssten beide mit einem Fragezeichen enden.

Niemand spricht sie auf ihre zerzauste Frisur oder das fleckige Hemd hin an

Das "hin" sollte weg.

Seine grinsende Visage geriet zu einer unwirklichen Maske und glänzende Schweißtropfen perlten an seinen Schläfen herab. Ab und zu nickte er, ohne seine erstarrte Maske auch nur für einen Augenblick fallen zu lassen.

Stil ist gut, sehe da keine besonderen Stolpersteine. Die Geschichte ist ein bisschen zuviel Rahmen und zu wenig Story. Als würdest du bei Matrix nur die Grundbedingungen auflisten - die Maschinen haben übernommen, benutzen Menschen als Batterien, einige Menschen wehren sich - und Neo weglassen.

Du hast zwar einen Protagonisten und einen Konflikt, nämlich das Schicksal von Frau Meier, aber im Verhältnis zu dem Teil, in dem dein Prot über die Welt und was aus ihr geworden ist sinniert (= über seinen Job), ist das glaube ich nicht mal ein Drittel. Das würde ich umdrehen. Und um Spannung reinzubringen, könnten Prot und Meier sich nahe stehen.

Grüße
JC

 

Servus zusammen!

Mit Kritik wird hier nicht gespart (und das ist auch gut so) aber alles in allem scheint die Kg ja unterhalten zu haben. Freut mich.

vincentvoss

Genau, ist auch in erster Linie als interne (wenn auch dezent übertriebene) Abrechnung mit solchen "Sträflingsanstalten" gedacht. Nach einer gewissen Zeit wird man aufgrund des immer gleichen Frage-und-Antwortspielchens unweigerlich zum Zombie.

Katla

Zu lang finde ich den Text keinesfalls, im Gegenteil hätte ich noch deutlich mehr erzählen können. Kann ich wie gesagt nicht ganz nachvollziehen.

Aber dass es wohl nicht das Prädikat Horror verdient, verstehe ich schon.

Proof

Da ich eigentlich nicht Korrektur gelesen habe, war mir schon klar, dass es hier und da ein paar "Stolpersteine" gibt. Geschrieben und gepostet, sozusagen.

Das Fehlen einer ausgefeilten Handlung sehe ich aber nicht weiter dramatisch. Ich hab mir die Minimalstory mir Frau Meier auch nur ausgedacht, um zumindest halbwegs eine Kg zu schreiben (gehört sich hier ja auch so). Im Grunde wollte ich aber nur die Gedanken des Prots darlegen, der an seiner fehlenden Courage und dem Durchschauen der Abläufe letztendlich zerbricht/durchdreht.

Danke jedenfalls für eure ehrlichen Meinungen!

 
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Hallo Marvin,

nun weiß ich warum ich bei solchen sogenannten "Meinungsumfragen", ausgehend von Callcentern (wo ich nicht weiß, woher die nur meine Telefonnummer und Anschrift haben, obwohl ich nicht im Telefonbuch stehe) so ein mulmiges Gefühl habe.:D
Ich habe deine Geschichte mit Interesse verfolgt, weil ich selbst zeitweise sehr genervt von diesen Anrufern war, die erst einen auf Meinungsforschung gemacht haben und mir letztendlich zum Lohn eines ihrer Produkte, Lotterielose, Münzen usw. verkaufen wollten.

Gruß
Leia4e

 

Hi Leia4e,

kann ich gut nachempfinden, dass du von solchen Anrufen genervt bist. Glaub mir, die Interviewer sind es ebenfalls, nur schieben sie ihren Frust ihrerseits auf die Angerufenen ab (und nicht auf ihren Arbeitgeber).

Grundsätzlich sind Meinungsumfragen ja okay, nur ist das Ganze in den letzten Jahren irgendwie ausgeartet. Und deine Nummer ist alles andere als geheim, leider.

Danke fürs Lesen!

 

Hallo Marvin,

also erstmal ein Dämpfer vorneweg:

Da ich eigentlich nicht Korrektur gelesen habe, war mir schon klar, dass es hier und da ein paar "Stolpersteine" gibt. Geschrieben und gepostet, sozusagen.
mal abgesehen davon, dass ein solches Verfahren schon ein bisschen respektlos dem Leser gegenüber ist, finde ich es ziemlich frech, dass du es nicht mal für nötig hältst die gefundenen Fehler nachträglich auszubessern :rolleyes:

Soviel dazu.
Inhaltlich hat mir deine Geschichte gefallen. Schon erstaunlich, betrachtet man das Minimum an Handlung, was um die Abrechnung herumgebastelt wurde. Wäre dein Schreibstil nicht so angenehm flüssig zu lesen, sähe das schon anders aus.
Einen Widerspruch habe ich noch:

Wie gesagt, ich bin nicht verrückt.
Nein, das sagst du nicht. Manchmal ist es so, manchmal andersrum. Von daher passt dieser Satz nicht.
Alternative: Verrückt oder nicht, so dämlich bin ich auf jeden Fall nicht.
Oder etwas in der Art ;)

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Marvin,
ein atemloser, wütender Stil, eine echte Enthüllungsgeschichte! Habe sie mit Lust und Neigier gelesen und frage mich, ob das alles wirklich so funktioniert, dann wäre 'Big Brother' ja nur noch ein nasser Pups...,wird wohl so sein, fürchte ich.
Du kannst zweifellos schreiben, ich sehe Artikel von Dir schon in wichtigen Gazetten, so ordne ich diesen Text auch ein. Ganz bestimmt kannst Du auch 'richtige' KGs. Ehrlich gesagt, hat mich Frau Meier hier eher gestört, ihre Alibifunktion ist zu offensichtlich.
LG,
Jutta

 

@Weltenläufer

Hast Recht, das ist/war meiner Faulheit geschuldet. Sorry, hab die Anmerkungen von Proof jetzt soweit beherzigt (nur für Maske ist mir kein Aquivalent eingefallen).

Deinen Punkt mit dem verrückt sehe ich aber nicht so kritisch, für mich passt das. Dank dir jedenfalls für deinen wohlmeinenden Kommentar. :)

@Jutta Ouwens

Na, nicht ganz. Über das Internet kann man denke ich noch viel leichter an private Infos von Personen gelangen. Am Telefon antwortet man ja nicht immer unbedingt ehrlich. Trotzdem werden auch hier Meinungsbilder erstellt und vor allem das Wahl- und Konsumverhalten analysiert.

Was Veröffentlichungen angeht, gibt's leider zuviel (bessere) Konkurrenz. Ich schreibe in erster Linie, weil's mir Spass macht und darum geht's ja schließlich auch.

mfG, Marvin

 

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