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Der Konspirations-Illusionist
Manchmal denke ich, ich sei verrückt. Nicht ganz der Norm entsprechend, ein wenig neben der Spur, bekloppt, wie man so schön sagt. Dann wieder überwältigt mich der Gedanke, der einzig verbliebene Rest Hirn in meiner näheren Umgebung zu sein.
Natürlich gebe ich gelegentlich vor, mich ernsthaft für das derzeit angesagte Thema zu interessieren, sei es der momentan bedeutungsvollste Krisenherd in Region XY oder das Privatleben irgend eines zugekoksten Chartstürmers. Ich reibe mir dann immer dezent den Nasenflügel oder greife mir mit der Hand in den Nacken um zumindest unterschwellig mein gefühltes Unbehagen zu signalisieren. Das interessiert mich alles einen verfluchten Scheißdreck, ihr angepassten Lemminge! Die Courage, so etwas laut zu äußern habe ich selbstverständlich nicht. Wie gesagt, ich bin nicht verrückt.
Letzte Woche haben sie eine gewisse Frau Meier abgeholt. Ich kannte sie nicht persönlich, nur flüchtig als zufällige Nachbarin im Call-Center. Eine resolute ältere Dame, immer höflich und mit einer Schachtel Pfefferminz-Drops bewaffnet, ganz in der ehrlichen Selbsteinschätzung, nach mehreren Stunden des Dauertelefonierens nicht mehr den allerbesten Atem zu haben. Kleinigkeiten wie diese machen den Unterschied. Anderen meiner Arbeitskollegen fehlt selbst dieses Minimum an Selbsteinschätzung und warum sollten sie sich auch damit belasten. Niemand spricht sie auf ihre zerzauste Frisur oder das fleckige Hemd an, niemand hustet gekünstelt in ihrer Gegenwart. Jeder ist sich selbst der Nächste und wer eben der Meinung ist, unrasiert oder mit verschwitzten Achselhöhlen auf Arbeit erscheinen zu müssen, bitteschön. Es ist ja nicht so, dass es irgendeinen Unterschied ausmacht. Unser Kapital ist unsere Stimme und selbst die wird dank neuester Datenschutz-Bestimmungen bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Offiziell geht es darum, ein repräsentatives Meinungsbild der deutschen Bevölkerung zu relevanten Themen zu erstellen. In Wirklichkeit horchen wir die privaten Wünsche und intimsten Gedanken von kritisch denkenden Individuen ab, quasi die Stasi 2.0 im Web 2.0.
Frau Meier hatte es gewagt, Fragen zu stellen. Ihre vorgeblich per Zufallsprinzip ausgewählten Interview-Partner hatten sie mitten im Gespräch erkannt. So etwas sollte laut internen Richtlinien unter allen Umständen vermieden werden, daher die Stimmenverfremdungs-Software. Für den Angerufenen sollte es sich wie gesagt nur um eine harmlose Umfrage handeln, nichts weiter. Er oder sie sollte auf keinen Fall Verdacht schöpfen. Welche Partei würden sie am Sonntag wählen, welche Krawattenfarbe bevorzugen sie, welchen Radiosender hören sie am liebsten. Harmlose Fragen zu harmlosen Allerweltsthemen. Das parallel aktivierte Computerprogramm analysierte unterdessen die Stimme des Interview-Partners und anhand dessen seinen derzeitigen Bewusstseinszustand. War er oder sie noch hellwach oder hatte er oder sie bereits „abgeschaltet“? Das war dann der Zeitpunkt, in dem die entscheidenden und mehr in den Privatbereich abzielenden Fragen „geschaltet“ wurden, für uns Interviewer in der Signalfarbe Rot gekennzeichnet. Wir wurden daraufhin geschult, diese Fragen möglichst beiläufig und in einer sonoren Tonlage zu stellen, um das angerufene Individuum unter keinen Umständen zu beeinflussen. Fragen nach der Vorliebe bei Sexualpraktiken wurden genauso gestellt wie die Einstellung zu Nachbarn, Freunden und Bekannten. Wenn jemand beispielsweise die Todesstrafe bei Kapitalverbrechen für legitim hielt, wurde nach gebohrt, ob man eventuell auch dem eigenen Chef diese angedeihen lassen würde. Sollte jemand das „demokratische Prinzip“ ablehnen, wurde weiter geforscht, welche Herrschaftsform ihm/ihr denn stattdessen genehm sei (worauf in der Regel mit Schweigen geantwortet wurde).
Je länger man als Interviewer dabei war, desto offensichtlicher wurde es, dass der Kreis der angerufenen Personen keinesfalls beliebig und anonym war sondern im Gegenteil nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe überhaupt telefonisch belästigt wurde. Meistens bekam man dann zu hören, dass solche Anrufe ja ständig kämen und man gar nicht verstehen könne, warum gerade die eigene Person ständig angerufen wurde. In diesem Fall lautete die standardisierte Antwort: „Es handelt sich um ein rein zufälliges Auswahlverfahren und es gibt keinerlei Einfluss darauf, welcher Anschluss in ihrem Bundesland ausgewählt wird. Es hätte genauso gut ihren Nachbarn treffen können.“ Eine glatte Lüge.
Am Beginn seiner Laufbahn war sich ein Interviewer der perfiden Tricks natürlich nicht bewusst und die meisten meiner Kollegen waren von den permanenten Reizen der Unterhaltungsindustrie bereits dermaßen verblödet, dass ihnen jedes eigenständige Denken vollständig abhanden gekommen war. Warum/Weshalb/Wieso bestimmte Umfragen zu bestimmten Themen zu bestimmten Zeiten in einer überschaubaren Region geschaltet wurden, interessierte niemanden. Selbst wenn es einen Polizeieinsatz am darauf folgenden Tag in eben jener Region gab und Personen verhaftet wurden, die sich zuvor kritisch einem bestimmten Thema gegenüber geäußert hatten, gab es keinerlei Fragen oder Diskussionen. Nur dieses dumpfe Empfinden, dass irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuging und verdammt nochmal, irgendwer irgendetwas dagegen unternehmen musste. In der Regel blieb es dabei und nichts geschah. Nur Frau Meier hatte es gewagt, Fragen zu stellen.
Zufällig habe ich mit angehört, wie sie unseren Supervisor, einen stets lächelnden kleinen Glatzkopf während der Arbeitszeit konfrontierte. Seine grinsende Visage geriet zu einer unwirklichen Maske und glänzende Schweißtropfen perlten an seinen Schläfen herab. Ab und zu nickte er, ohne seine erstarrte Maske auch nur für einen Augenblick fallen zu lassen. Nachdem Frau Meier ihren Monolog beendet hatte, legte er ihr seine rechte Hand um die Schulter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann entfernten sich beide zusammen aus dem Großraumbüro. Man hatte fast den Eindruck, ein altes Ehepaar hätte sich nach einer kleinen Meinungsverschiedenheit wieder versöhnt.
Am darauf folgenden Arbeitstag, ich glaube, es war ein Freitag, blieb Frau Meiers Platz leer. Nur ihr Namensschild erinnerte daran, dass sie heute nicht erschienen war. In der darauf folgenden Woche war auch das Namensschild verschwunden. Nur ein leerer Platz war zu besichtigen.
Am liebsten würde ich ihr Gesicht und jede Erinnerung an diese, mir eigentlich vollkommen fremde Person aus meiner Erinnerung löschen, aber es geht nicht. In nicht allzu ferner Zukunft wird so etwas wohl möglich sein.