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Der Krämer und die Spieluhr
Er war von Norden gekommen. Von Norden über die Berge, von Norden aus der Kälte. Und den ganzen Weg hatte er den Karren gezogen, und jetzt zog er ihn immer noch.
Der Karren war beladen mit der Ware; er war recht klein. Töpfe und Pfannen hingen an einem schlecht dahin genagelten Dach, über das eine Plane gespannt war, halb zerissen; er war müde geworden sie zu flicken. Während der letzten Meilen war er müde geworden.
Der Karren trug noch mehr: Unter Decken, vor der bellenden Sonne versteckt, zwischen Wasserkrügen und Holzspielzeug , gab es Schmuck in Säcken, Ketten und Reife, es gab ein paar Pelze und Gewürze, es gab Bücher. Der Schmuck war Blech und Draht, und die Pelze waren Futter für die Milben. An Lederschnüren wackelten seltsame Bündel vom Dach, schwarz und grün, Talismane mit Vogelfüßen; Fetische.
Scheppern, Klappern und Rasseln, das waren die Stimmen des Karrens; und Quieken. Vor Meilen hatte eines der Räder zu quieken begonnen. Er hatte zu ziehen aufgehört und war um den Karren gelaufen, dabei hatte er geschrien, aber es war kein Vogel dort gewesen. Die Vögel waren in den Bergen, es war nur das Rad, das quiekte.
Die Räder waren hart, aus Holz, mit dickem Leder besohlt.
Der Weg war steinig und endlos; die Steppe.
Ein totes Land lag vor ihm. Seit er die Berge verlassen hatte, war er selbst kaum so lebendig wie das Flimmern, sein ständiger Horizont.
Als endlich der Wind kam, wurde es dunkel, und der Karren stand still.
Der Mann aus Norden entfachte sich ein Feuer. Nachts wurde es kalt, immer nachts. Aber das Feuer hält auch Gespenster fern, und Vögel.
Unweit seines Lagers stand ein Baum.
Der erste Baum, den er gesehen hatte seit den Bergen. Es gab nur Felsen, Büsche mit Nadeln, Steppengras; Skorpione und Schlangen, blanke Schädel; und jetzt den Baum.
Er nahm einen Schluck Wasser aus dem Krug, es war warm und staubig. Das Gefäß schmeckte nach Erde. Er hatte die Krüge an einem Wasserloch gefüllt, so schlammig, dass er sein Spiegelbild nicht erkennen konnte; das war vor zwei Tagen gewesen. Der Baum hat kein Wasser, dachte er, vielleicht braucht er keins, vielleicht ist er tot. Er glaubte einen Hund zu hören, ein krankes Bellen irgendwo. Aber dann kam der Nachtwind an sein Ohr, dass er erschauderte; der Nachtwind klang manchmal genauso. Der Mann stand vom Feuer auf und ging zum Karren, der wie ein treues Tier in der Dunkelheit wartete. Er tauchte seine Hände in die Decken und kramte im Gebirge aus Schund und holte etwas hervor. Er trug es zum Feuer, verbarg es aber noch. Nur einen Augenblick noch, und dann wurde es hell.
Ein goldener Schimmer durchstach die Finger seiner schwarzen Hände. Glanz machte das Gesicht des Mannes strahlen, ein erotischer Glanz, der einem kleinen wahnsinnigen Ding ausströmte, das er in seinen Händen hielt. Er bemerkte nicht, dass er aufstöhnte. Seine Finger begannen sich um den kleinen Körper zu schließen, zu streicheln. In seinen Händen hielt er eine Spieluhr. Ein Zylinder aus Gold; ein sprühendes Dach, getragen von Säulen, in deren Mitte etwas verborgen war; ein Zauber.
Der Mann stellte die Spieluhr schwer und behutsam in den Sand. Seinen Hut legte er ab. Seine Zunge befeuchtete die aufgeplatzten Lippen, er war unsicher. Jedesmal kurz davor war er unsicher. Dann löste er die Rechte aus dem Schoß und tastete an die Hinterseite des Zylinders. Dort fand er eine winzige Schraube, einen Stern, an dem er drehte. Sofort zog er die Hand zurück, kam sich ungezogen und ertappt vor. Der Wind hörte zu wehen auf.
Dann begann sie zu spielen.
Die Säulenhalle drehte sich. Darinnen glänzten Stufen aus Marmor. Samtene Tücher begannen zu wehen. Die Decke zeigte ein Fresko mit unbeschreiblichen Gestalten. Klänge wurden sichtbar und in der Mitte des Platzes tanzte Sie barfuß. Und dann nahm Sie seine Hand.
Er erwachte weil die Sonne zu schreien begonnen hatte.
Sand rieselte aus den Falten seiner Kleider, aus den Falten seiner Haut. Sand lag auf seiner Zunge, knirschte zwischen den Zähnen; manchmal glaubte er, dass er sogar Sand in den Adern hatte. Er trank, es war der Rest. Nachdem er gepisst hatte, stemmte er den Griff des Karrens und zog weiter.
»Ich bin der Krämer. Ich wandere über den Planeten. Bringe Euch meine Ware und die Geschichten meiner Reise-« Er hustete. Lange schon hatte er nicht gesprochen. Es schmerzte in der Kehle. » - und die Geschichten meiner Reise. Gebe Euch alles: mein Gut, meine Worte-«
Nur eines nicht, dachte er.
Eine Lampe hatte er eingetauscht. Das war noch vor den Bergen gewesen. Er hatte die Lampe abgegeben und den Hut dafür bekommen. Der Andere hatte gelacht, aber er wusste von der Wüste, von der Sonne hinter den Bergen. Es war ein guter Tausch gewesen. Irgendwo hinter den Bergen hockt jetzt ein Mann ohne Licht wenn es finster ist, denn die Lampe funktionierte nicht.
Der Baum war unlängst im Flimmern verschwunden. Eine lange Narbe zeichnete die Steppe und an ihrem Ende ging der Krämer. Der heiße Wind verwischte den Anfang, und immer wieder den Anfang. Die Welt voraus war konturenlos und leer.
Als die Sonne über ihm stand, hielt er inne.
Vor ihm im Sand lag ein kleiner schwarzbrauner Haufen. Getrockneter Mist. Der Mann lächelte im Schatten unter dem Hut, das hatte er lange nicht getan. Er schlug seinen Mantel zurück und setzte sich vor den Haufen mit gekreuzten Beinen. Seine Hände gruben in den weiten Taschen des Mantels, wechselten von einer in die andere und gruben weiter. Dann brachte die Linke eine kleine Blechdose hervor. Der bronzene Deckel war üppig verziert. Einmal war sie die Tabakdose eines Königs gewesen. Jetzt war es seine, die eines Krämers. Als er sie öffnete stach kurz die Sonne in sein Gesicht, die sich gespiegelt hatte in ihrem Innern. Ein Knäuel Tabak lag darin und etwas Sand. Unter dem Tabak schimmerte bleiches Papier. Er zog ein Blättchen heraus und hielt es gen Himmel. Darin erschien das schwache Bild einer Frau. Von dem trockenen Mist vor sich nahm er etwas und streute es in das Papier, dann gab er von dem Tabak dazu. Kurz verschwand der Schatten aus seinem Gesicht als er zum Himmel aufsah. Er lächelte nicht mehr. Ihm war die Sonne ein monströser Daumen, der auf ihn nieder drückte. Der Schatten kam zurück, er leckte das Papier an und rollte sich seine erste Zigarette seit den Bergen. Er benutzte ein Streichholz. Der Mist streckte den Tabak, war scharf. Die Frau verbrannte genüsslich. Die Sonne näherte sich dem Horizont als der Krämer weiterzog.
In der kommenden Nacht ließ er sie wieder spielen.
Sie machte, dass er nicht mehr durstig war. Sie vertrieb die Gespenster, die Vögel. Aber Vögel gab es hier nicht, er hatte noch keine gesehen. In den Bergen waren sie. Dort hatte er sie besiegt. Hier unten in der Steppe könnten sie ihn kriegen, das wusste er. Aber hier gab es keine Vögel. Der erste kam immer allein, hockte mit Abstand da, neigte den Kopf, beobachtete. Dort oben lag Schnee. Der Vogel folgte ihm einige Tage. Manchmal konnte der Krämer seine Augen im Feuerschein leuchten sehen in der Nacht. Eines Morgens dann waren es drei. Elstern, Raben, Schnabelmonster. Denn er machte einen Fehler. Eines Abends zeigte er die Spieluhr. Danach befand er sich im Krieg. Die Vögel rissen an ihm, zerschnitten seine Hände, mit denen er vor seinem Gesicht herumfuchtelte. Sie stürzten sich auf den Karren, durchwühlten die Decken; sie kamen zu hunderten, ihre schwarzen Augen Habgier rollten wild. Die Spieluhr stürzte in den Schnee. Die Vögel saßen auf dem Krämer, er war in flatternde Federn gekleidet. Blutend warf er sich auf die goldene Uhr. Schnäbel pickten in seinen Rücken, knabberten an seinen Ohren. Dann rollte er sich zur Seite, sein Kiefer malmte, dass ein Schneidezahn brach. Er hatte die Spieluhr aufgezogen und streckte sie den Vögeln entgegen. Was dann geschah war unglaublich. Für einen Augenblick schienen die Tiere still zu stehn, in der Luft still zu stehn. Dann, zu den Klängen der Euphorie, fielen sie. Wie schwarzer Hagel fielen sie in den Schnee, wo sie liegen blieben, mit weiten Augen, aus denen alles Schwarz verschwunden war. Und dann tanzte der Krämer mit Ihr zwischen diesen Leibern. Als das Spiel zu ende war, lagen die Vögel noch immer benommen da. Der Krämer wartete nicht darauf, dass der Zauber sie entließ. Er rannte zu dem Karren und fand ein Messer. Dann nahm er sich jeden Vogel einzeln vor. Im Rausch stach er in jedes Tier, mehrere hundert Male stach er zu. Der Schnee war fast schwarz, als der Abend kam. An diesem Abend zog er nicht weit. Auf einem niedrigen Felsenplateau, das der Weg durchquerte, machte er Rast und weinte.
Doch in der Steppe gab es keine Vögel. Als die Säulen still standen unter Decken, schlief er ein.
Es war noch dunkel als er die Augen öffnete. Der Hund, dachte er. Der Wind hielt still. Der Mann stand auf, um ihn herum gab es nichts außer Nacht. Und dann hörte er es wieder. Das war ein Hund, der da bellte, ganz in der Nähe. Der Krämer hockte sich hin und wartete auf den Tag. Er hatte geträumt. Ein Vogel fraß ihn in dem Traum, sein Kopf lugte aus dem verschmierten Schnabel, dann hörte er den Hund.
Ich bin der Krämer, wandere über den Planeten. Bringe Euch meine Ware und die Geschichten meiner Reise.
Jetzt, als er so dasaß, auf den Tag wartete, mit dem Funken Hoffnung, fragte er sich, wann er das wieder vor Menschen ausrufen dürfte, und ob überhaupt. Ich will doch gar nicht viel, dachte er, und überlegte, was er wollte: Wasser, ein Bett? Eine Heimat.
Das Heulen des Hundes durchschnitt den Nebel seiner Gedanken wie das Nebelhorn eines Schiffes. Gar nicht so weit weg, dachte er. Der Horizont hatte sich verändert. Es gab dort etwas; Konturen, wo vorher gar nichts war. Als habe sich über Nacht dort vorne etwas aufgebaut. Der Krämer stand auf und spähte in den Morgen hinein, gen Süden, zu den schwarzen Silhouetten. Er zog den Mantel über, auf dem er geschlafen hatte, und hob den Griff auf, brachte den Karren in die Waagerechte. Er schien leichter geworden, aber das war die neue Kraft, die Hoffnung mit sich bringt.
Die Sonne stand dicht über den Hütten als der Krämer inne hielt. Eine Siedlung war vor ihm aufgetaucht. Lehmhütten in der Farbe der Wüste. Er steuerte geradewegs auf einen Torbogen zu. Und er war sich sicher, das niedrige Gemäuer vor dem Tor musste ein Brunnen sein. Wasser. Die nackte Idee tröpfelte von seiner Stirn. Wasser. Fester stemmte er die Füße in den Sand und zog weiter. Bald konnte er erkennen, dass Rauch aufstieg. Menschen, dachte er.
Es war tatsächlich ein Brunnen. Darüber in einer Winde aus Holz hing ein Seil. Jetzt entdeckte der Krämer, dass neben dem Brunnen jemand saß. Ein Kind. Es sah ihn an.
Er legte den Griff zu Boden, ging langsam auf den Kleinen zu. Ein Junge, etwa acht oder neun Jahre alt, mit strohblondem Haar, das die Ohren versteckte. Der Mann blieb stehen. Jetzt, da er fast den Brunnen einsehen konnte, fürchtete er sich. Der Junge blickte den Krämer streng mit großen blauen Augen an.
»Ist da Wasser in dem Brunnen?« fragte der Krämer. Er fürchtete die Antwort.
»Ja«, sagte der Junge.
Der Krämer bedankte sich unhörbar. Trotzdem er sich in das Wasser schmeißen wollte, hemmungslos, tat er es nicht. Der Junge sah ihn an, bar jedweder Überraschung, bar jeglichen Interesses. Der Krämer ging zu dem Karren zurück und nahm zwei Wasserkrüge, trug sie heran. Neben dem Brunnen entdeckte er den Schöpfeimer am Ende des Seils. Er ließ den Eimer im Brunnen sich füllen und schüttete das Wasser in die Krüge. Er füllte sie beide ohne zuvor einen einzigen Schluck zu nehmen; seine Hände zitterten dabei.
»Wer bist du?« fragte der Junge.
»Ich bin der Krämer.«
Sie schwiegen wieder. Der Mann führte einen Krug zum Mund und trank. Er spürte das Wasser in seinen Körper plätschern, er spürte, wie es aufgesogen wurde von dem Schwamm, der er war.
»Was tust du hier?« fragte der Junge.
Er setzte ab und nahm den Hut vom Kopf. Sand rieselte zu Boden. »Ich tausche und erzähle«, sagte er.
Der Junge rümpfte die Nase. »Wovon erzählst du?« fragte er.
Jetzt überlegte der Krämer. »Nun, von meiner Reise erzähle ich, von anderen Orten, von -« Er setzte den Hut wieder auf und rückte den Schatten in seinem Gesicht zurecht. » -von anderen Orten.« Dann sah er den Jungen an, der sah zufrieden aus. »Und, wie heißt du?« fragte er den Kleinen.
»Ich bin Carl.«
Der Krämer hielt dem Jungen seine Hand hin. »Guten Tag, Carl«, sagte er.
Carl schnappte die große Hand und schüttelte sie. »Tag, Krämer.« Er lächelte nicht. Der Junge sah erwachsen aus.
»Kommst du mit?« fragte der Krämer und nickte zum Tor. Carl schüttelte den Kopf. Der Krämer trug die Krüge zum Karren und schlug die Decke darüber. Für einen Moment glitzerte die Spieluhr auf dabei. Abrupt schaute der Krämer zu dem Jungen herüber; der saß am Brunnen wie zuvor, pickte kleine Käfer aus dem Sand. Der Krämer nahm den Griff und zog den Karren zum Stadttor hinein. Carl sah nicht auf, als er ihm zuwinkte.
Das erste was der Mann bemerkte, war dieser Geruch.
Etwas brannte. Hinter entfernteren Dächern stieg Rauch auf. Es war ein süßer, in den Schleimhöhlen kratzender Geruch. Auf unangenehme Weise roch es aber auch appetitlich.
Zu beiden Seiten der Straße, auf der er nun wanderte, ragten verfallene Hütten aus dem Sand. Ihre ovalen Fenster glotzten schwarz wie kranke Augen; keine Menschen waren auf der Straße, nichts war zu hören außer der Stimmen des Karrens und dem Hund, der manchmal bellte.
Er blieb stehen. »Ich bin der Krämer«, rief er und die Worte wurden vom Lehm der Wände verschluckt.. »Ich wandere über den Planeten!« Er sah sich um, nichts regte sich. »Ich wandere über den Planeten!« Nichts. Er ließ ab und zog den Karren.
Doch dann bog er um eine Ecke.
Jetzt hörte er etwas anderes. Menschliche Stimmen kamen aus den Hütten, klagende Stimmen, Stöhnen und Jammern. Der Geruch und die Stimmen. Der Krämer bekam Angst, dachte an die Vögel, eine Stadt von Vögeln. Die Straße blieb leer. Aber er näherte sich der Rauchsäule. Etwas Furchtbares passierte hier, das verstand er, und jetzt wünschte er, keinem dieser Menschen, keinem Klagenden zu begegnen. »Carl!« rief er zurück. Und wie zum Echo klagte es aus den dunklen Öffnungen der Hütten: »Caaaarllll.«
Vor einer der Hütten entdeckte er etwas. Ein unheimlicher Haufen lag im Eingangsbogen, schwarz und grün, mit orangenen Ballons daran. An Luftballons erinnerten ihn diese Blasen. Er wagte es kaum dort hin zu sehen, denn plötzlich wurde ihm bewusst, dass dieser Haufen lebte. Die Ballons zogen sich zusammen, dehnten sich; der Haufen atmete. »Carl!« rief der Krämer verzweifelt, »Was ist hier los, verdammt?«
Er steuerte auf die nächste Kurve zu. Über ihm verjüngte sich die Rauchsäule in den Himmel, ihm schien, dass sie im Augenblick bevor er aufgeschaut hatte, gewachsen war. Er bog in die Kurve ein und dann stoppte er.
Vor ihm öffnete sich ein Platz, der wohl das Zentrum der Siedlung war. In seiner Mitte war ein gewaltiger Scheiterhaufen aufgeschichtet. Tiefgrauer Qualm wirbelte in ungezählten Säulen empor, die sich über der Stadt vereinten.
»Carl!« rief der Krämer.
Unweit des Scheiterhaufens stand ein Kind. Der Krämer ließ vom Karren ab und wollte dorthin rennen, da bemerkte er, dass das Kind eine Fackel hielt. Er verharrte, halb wahnsinnig. Schreibtische, Stühle, Schränke und Betten verbrannten in dem Feuer, und darüber auf einem berstenden Gestell, schwarz und dampfend in den Flammen brannte ein Mensch.
Der Krämer taumelte zurück, fiel an den Karren, hielt sich fest. Im Gebrüll des Feuers sackte er zusammen. Dort am Boden blieb er.
Die Nacht kam und es war still als er aus einer Taubheit zurückkehrte, die ihm lieb und friedlich war. Er schaute auf die Glut, die noch redselig glomm am Grund des Platzes. Dann sah er auf. Über ihm stand Carl.
»Sie sind alle krank hier«, sagte er.
»War er noch lebendig?« fragte der Krämer. Wieder fürchtete er sich vor der Antwort.
»Nein«, sagte Carl und setze sich vor ihn. »Diese Stadt ist krank.«
»Und du, bist du auch krank?« fragte der Krämer.
»Ich nicht, nein. Deswegen muss ich sie verbrennen. Denn ich bin der einzige, sonst ist keiner da.«
Der Mann richtete sich auf. »Woran?« fragte er, »Ich meine, woran sind sie erkrankt?«
»Das Wasser«, sagte Carl.
Der Krämer lachte. Er hatte davon getrunken. »Natürlich«, sagte er. Und es war ihm leicht. Sein Blick ging nach innen, suchte die Seuche zu spüren. Von Norden war er gekommen; von Norden über die Berge, von Norden aus der Kälte. Und jetzt war er angekommen. Der Mann war einverstanden.
Er stand auf, im tieforangenen Schein der Glut und ging um den Karren. »Weißt du, ich kann nicht hier bleiben.«
»Dann nimm mich mit.«
Mit einem Knäuel aus Decken in den Händen kam der Krämer zurück und hockte sich zu dem Jungen. »Ich habe hier etwas für dich.«
»Was ist es?«
»Ein Zauber«, sagte der Mann, »Damit kannst du von hier weggehen.«
»Ich will mit dir gehen.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Du weißt, dass ich krank werde, und dann musst du mich verbrennen.« Er gab dem Jungen die in die Decke eingeschlagene Spieluhr. »Sieh es dir erst an, wenn ich die Stadt verlassen habe.« Er strich Carl durch das strubbelige Haar; als er aufstand knirschte der Sand, dann nahm er seinen Hut und setzte ihn dem Jungen auf. »Adieu«, sagte er.
»Was bedeutet das?« fragte Carl.
»Leb wohl«, sagte der Krämer. Die scheppernde Stimme des Karren erklang als der Mann zu ziehen begonnen hatte; er verließ den Jungen, die Glut, die kranke Stadt, er ließ die Spieluhr zurück.
Er war in eine Gegend gezogen, in der das Gras höher wuchs. Es gab hier lichte Bäume; er hatte Füchse gesehen. Wie viele Tage er gegangen war, seit er der Stadt den Rücken gekehrt hatte, wusste er nicht. Manchmal geriet er in einen fremden Zustand, in dem er nicht mehr bei sich war. Er zog dann nur den Karren, eine Maschine; ein tauber Geist, der nur die Richtung weiß.
Jetzt war der Abend da, die Welt war tiefblau. Der Krämer hatte sich ein Feuer entfacht und saß an den Stamm gelehnt unter einem Baum. Irgendwo hinter dem Horizont, dachte er, da ist Carl, mein kleiner Carl. Er war schwach. Trotzdem er sich der Seuche bewusst war, hatte er von dem Wasser getrunken, immer wieder seit der Stadt. Seine Wade juckte, dass er Lust hatte, sein Bein abzuschneiden. Unter der Hose pochte es, ein Symptom pochte an den Stoff. Er war sich sicher, dass er einen kleinen orangenen Ballon entdecken würde, würde er die Hose zerreißen. Jetzt würde er einfach die Spieluhr nehmen und tanzen; auf Marmorboden, unter wehenden Schleiern, mit Ihr; Sie würde ihn davontragen und heilen, und machen, dass es nicht mehr wehtut, nicht mehr juckt. Hitze war in ihm, eiskalte Hitze. Die dürren Äste des Baums standen über ihm am Himmel; schwarze Finger auf blauem Grund. Seine Finger holten die Königsdose hervor, begannen Rauchwerk zu formen; es wäre Unsinn den Tabak zu strecken. Irgendwann kam der Schlaf.
Er erwachte als die hämische Fratze Sonne auf ihm war. Durch sein Blinzeln sah er das Geäst über sich.
Und dann hörte er es.
Ein kurzes Krächzen, dann ein Flattern. In den Ästen hockte ein Vogel. Der Krämer sah nur diesen schwarzen Fleck über seiner Stirn irgendwo, ein unruhiges Köpfchen, das schief hing und auf ihn runter starrte.
Der erste kam immer allein.