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Der kriegsähnliche Zustand
Minus 1 Woche
Einen Brunnen bohren. Das wird er die nächsten Tage also hier machen. Für eine zivile Hilfsorganisation, eine NGO. Dieselbe Organisation hat gerade erst eine Mädchenschule in dem Dorf bauen lassen. Von wegen das sei riskant. Alle haben geholfen. Er denkt an die Leute zuhause, wie sie immer meckern: „Zu viel Militär, die können die Probleme nicht lösen“ Darum ist er hier: um als Zivilist zu helfen.
Minus 2 Tage
Es gab eine Drohung gegen das Team, die Mädchenschule sei ein Versuch der Imperialisten den Teufel in das Dorf zu bringen. Sie haben 24 Stunden zeit zu verschwinden.
Imperialist? Er?
Der Dorfrat hat doch selber beschlossen, dass sie diese Schule und den Brunnen wollen.
Die Ausländer hier, sind lediglich als Berater da, ehrenamtlich, nicht wie diese Söldner oder diese scheinheiligen UN-Angehörigen die mit ihrer Arroganz alles nur schlimmer machen.
Gebaut wurde die Schule von der Dorfgemeinschaft, nach deutschen Plänen und Standards zwar, schließlich zählt der was in der Welt, aber mit einheimischem Zement, mit Steinen aus einem Steinbruch fünf Kilometer die Talstrasse hoch.
Minus 1 Tag, früher Morgen
Es gab einen Anschlag auf die Schule und das Team.
Es ging so schnell.
Ein Brandsatz flog gegen die Schule .Nur eine Scheibe ist kaputt und der Boden ist versengt, aus Geldmangel gab es kaum brennbare Sachen in den Räumen. Die Helfer schlafen in einem Haus nebenan. Kurz darauf hat ein Auto, vermutlich ein Pickup, die Geräte an der Brunnenbaustelle umgefahren. Altes, russisches Bohrgerät. Robuste Technik. Das Dorf ist entsetzt, der Älteste entschuldigt sich, die Gemeinschaft kommt zusammen und hilft beim Wiederaufbau. Familien bringen essen und trinken. Er wird nicht gehen. Diese Leute sind es Wert, dass man ihnen hilft!
Minus 1 Tag, Nachmittag
Ein Konvoi der Armee aus dem Heimatland des Helfers ist bereits seit ein paar Stunden da. Sie sind hier weil die Sicherheit zuhause auch am Hindukusch verteidigt wird oder so. Wirklich verstanden hat er den Satz nie. Gebt den Menschen hier eine Chance, eine Perspektive, das würde der Sicherheit aller wesentlich mehr bringen. Aber das klappt ja noch nicht mal in den Vorstädten zuhause…
Wie haben die davon erfahren?
Sie seien zu ihrem Schutz hier. Sie sollen doch bitte über eine Evakuierung nachdenken.
Die verstehen gar nichts.
Die heimische Polizei hat zwei Checkpoints in dem Tal errichtet.
Ein neuer Konvoi kommt. Marsfahrzeuge. Diese riesigen Räder, die so flach anmutende, abgewinkelte Karosserie, überall Antennen und erst diese schrägen Türen. Noch ein LKW: Diesmal aus der Serie das A-Team. Kantig, unförmig, Platten an ihn geschraubt, sehen aus wie Gipskarton, ein hässliches Ding.
Der erste Konvoi zieht ab. Die anderen richten sich in der Schule häuslich ein. Anscheinend wurde beschlossen, dass wir bleiben dürfen, allerdings unter Schutz: militärischem Schutz.
Wie jung die einfachen Soldaten alle sind. Nur die Chef's sind Älter. Diese Hierarchie.
Sie hatten mittlerweile das ganze Dorf befragt. Immerhin schienen sie ganz freundlich zu sein, haben zugehört, waren immer freundlich, sind nie ungebeten in ein Haus. So sieht man das nie in den Nachrichten.
Hochgerüstete Soldaten, mit riesigen Gewehren und schweren Schutzwesten, sitzen da und trinken Tee, reden über Tafeln, die schnell aus Holz zusammengeschraubt und mit einer Plane als Schreibfläche bespannt schon Ende der Woche hier sein könnten. Sie haben Papier und Buntstifte dabei, einer hat sogar Legospielzeug ausgepackt, aber die Mädchen schauen ihm nur verwundert zu. Der Soldat hat offensichtlich mehr Spaß daran als die Mädels.
Was für ein Bild.
Minus 10 Stunden, eine ruhige Nacht
Manchmal sieht man Soldaten wie sie auf der Strasse patroullieren andere sind auf dem Schuldach, der Rest eine Etage tiefer. Ansonsten ist es ruhig. Angeblich gibt es noch ein Trupp dieser armen Schweine, die die Nacht in den umliegenden Bergen verbringen. Aufklärer oder so. Schnee leis stäubend vom Himmel fällt. Nachts ist es bereits saukalt!
Minus 3 Stunden, Morgenkaffee
Wieder Soldaten, man begegnet sich zuerst am Wassertank. Kaffee, Cornflakes, Toast. Einfaches Leben. Eigentlich sind sie ja ganz nett. Alle ruhig und freundlich. Wären diese Waffen nicht, könnte man meinen die wären hier auf Klassenfahrt.
Sogar die Befehle klingen freundlich. Wenn auch manchmal etwas steif nach Beamtensprache… so sind wir eben.
Minus 1Minute, Vormittag
Ein kleines Mädchen kommt auf uns zu, sie ist noch recht weit weg, aber sie hält ein Geschenk hoch. Sie strahlt voller Stolz. Sonnenschein. Was für freundliche Menschen.
Die zwei Soldaten an meiner Baustelle stehen auf.
Einer spricht in sein Funkgerät, der andere sucht die Gegend ab, beide schauen immer wieder in Richtung der Kleinen. Bedeuten ihr zu warten.
Wir kennen sie, sie war gestern in der Schule dabei.
Sie geht weiter, meine beiden militärischen Beschützer werden unruhig. -„Stopp!“-
Die spinnen, wußt’ ich’s doch.
Die plötzliche Veränderung der freundlichen jungen Männer macht mir Angst.
Ich blicke in ihre Gesichter, sie sind zehn Jahre älter. Wo sind die Schuljungen von heut morgen? Diese Veränderung. Wieso geht die Kleine weiter?
Sie sieht verwirrt aus. Sie lächelte doch gerade noch?
Oder?
Irgendwas hab ich übersehen. Es fallen bestimmt bald Schüsse. Ein Überfall vielleicht? Aber ich sehe und höre nichts, da ist nur dieses Mädchen und die Soldaten, die mit ernster Mine versuchen ihr zu verstehen zu geben, dass sie stoppen soll. Ihre Gesten sind nun eindeutig.
Was soll das?
--Sie stoppt einfach nicht. Sie sieht verwirrt aus, versteht nicht, gar nichts, das arme Ding. Aber eine Drohung ist eine Drohung. Oder ist es doch nur ein Brot? Nein, erinnere Dich an die Fotos, das Briefing, den Lehrgang. Es ist schon mal passiert. Und wenn sie doch nur eine Aufmerksamkeit der Familie vorbeibringt? Wo sind die dann? Sie ist ganz alleine.
30m
Ich schreie sie nun an.
Mein Herz bricht!
Ich bin aggressiv und entschieden, es darf keinen Zweifel geben.
Zweifel bedeutet Tod!
Alles in mir sträubt sich.
Eskalationsstufen. So ist das also…
Sie sieht meinen Blick, reagiert unsicher, aber versteht sie es?
25m
Wir müssen bald handeln.
„Warnschuß?“ – „Warte auf Weisung!“ – „Scheiße…“ - „Was habt ihr denn?“ – „Steig in den Wagen, steig ein verdammt!“ Unser Geländewagen, unsere Caroline, sie hat einen modularen Schutz – „Das war OPZ, vorgehen nach ROE’s, trotz Kind!“
Blöde Zivilisten, kapiert er das wirklich nicht? Hatten die kein Briefing?
Ich stell mich vor ihn.
Und sie?
Versteht sie das nicht?
Ein bewaffneter, aggressiver Soldat brüllt sie an.
Ich verzweifel!
20m
„Warnschuss, vor die Füße.“ – „Verstanden, Warnschuss“
--Er stellt sich vor mich, drängt mich nach hinten. Seine unglaubliche Masse schiebt mich weg, das ganze Zeug das an ihm hängt. Munition, Granaten, Funk, Messer, Trinken. Ein Trinkschlauchsystem. Ich hab auch ein ähnliches Modell, zum wandern. An seiner Schutzweste stoße ich mich, sollten Kevlar-Westen nicht weich sein?
Er hebt die Waffe, mein Gott.
„Nein, …nein, …“ Ich will aufwachen!
--Ich lade fertig, „Geladen“ – „Dann schieß!“ – noch einmal schrei ich sie an, bedeute ihr zu stoppen und wegzugehen. Jemand anderes schreit auch.
Nicht mein Ufz, nicht wichtig. Fokusierung.
Sie schaut schüchtern zu Boden, geht unsicher weiter. Oder hat sie Angst? Weint sie? Wird sie gezwungen? Der rote Punkt ist 2m vor ihren Füßen. Sie blickt ungefähr dorthin, aber ich weiß: nur ich sehe diesen Punkt. Das Reflexvisier projiziert ihn direkt auf meine Netzhaut. Moderne Technik. Ich versuche mich zu konzentrieren, zu funktionieren. Einatmen. Ausatmen. Hundertmal geübt, tausendmal in Gedanken. Habe ich entsichert? Ja! Mein Gewehr auf Einzelfeuer. Meine Handlung auf Automatik. Einatmen, der Punkt steht ruhig, kaum zittern, alles bereit, Ausatmen.
Ein kleines Mädchen mit einer kleinen Staubwolke vor ihren Füßen.
Wo war der Rückstoß?
Sie bleibt stehen. Erleichterung.
15m
Sie aufgelöst. Sie sieht mich an. Sie, das Kind mit den unschuldigen, braunen Augen. Plötzlich aufgewacht in der Welt der Erwachsenen. Eine seltsame Welt. Gestern hab ich ihr noch irgendein komisches Plastikspielzeug gezeigt. Lego. Sie weint hemmungslos. Blickt sich um.
Wohin blickt sie? Zu ihren Eltern? Zu erbarmungslosen Männern?
Scheiße, was mach ich hier. Es ist nur Brot. Leckeres Fladenbrot, von ihrer Mutter.
Egal, sie steht. Situation unter Kontrolle... Nein, sie sitzt, sie weint.
Mein Herz zerbirstet.
--Er hat geschossen. Diese Veränderung in seinem Gesicht.
Aber niemand sieht es. Auch ihm ist es nicht bewusst, wird es jahrelang nicht sein. Seine Kameraden kommen, sie haben ein System, niemand rennt einfach so. Sie suchen die Strasse ab, planvoll, kontrolliert, eingeübt. Gebiet sichern, warten auf EOD. Kampfmittelräumer, die Spezialisten für Sprengfallen.
In seinem Antlitz blitzt Mitleid auf, er verliert die Fassung, geht auf das Mädchen zu.
Er ist ein Mensch, ein empathiefähiges Wesen.
In seinem Sehfeld blitzt ein Licht auf, Splitter zerfetzen sein Gesicht, zerstören sein linkes Auge.
Er ist ein menschliches Wesen, ein weiches Ziel.
Plus 1 Minute
Ich muß die Blutung stillen, wo ist das Mädchen?
Wer spricht? Was mir?
„Mir fehlt nichts“ Ich muß schreien um mich selbst zu hören.
„Gut, halten sie, …, hier drücken“
Blut, so viel Blut. Metallischer Geschmack, stechender Geruch. Grillfleisch? Übelkeit! Halten, einfach nur halten. Das Mädchen, kümmert sich denn niemand um sie?
Wo ist sie?
Lärm, unglaublicher Lärm. Ein Donnern und ein riesiger Schatten.
Jemand nimmt uns mit.
Dieser entstellte Körper. Er hat sich ohne zu zögern vor mich gestellt. Mich vor einer Gefahr beschützt, die ich selber nicht begriffen habe. Diese grausam-martialisch anmutenden jungen Männer mit dem freundlichen Auftreten, mit ihren Laptops auf denen sie noch am Abend zuvor games zockten, wie meine Kinder zuhause.
Sein Gesicht: in Fetzen.
Seine Beine: voller Blut
Wo ist das Mädchen?
Wo?
Plus 5 Minuten
ein MedEvac Helikopter bringt die beiden weg
Plus 10 Minuten
Der Soldat liegt unter dem Messer, sein Zustand ist kritisch. Er hat Schwere Blutungen im Unterleib. Eines seiner Augen ist nicht mehr zu retten.
Der Helfer hat nur ein paar Schnitte, ein paar Prellungen. Die Detonationswelle hat auch ihn durch die Luft geschleudert, aber er war sicher vor den Splittern, geschützt, hinter dem Soldaten.
Auch er wird leben, seine durchschusshemmende Weste mit den schweren Einschubplatten hat die wichtigsten Organe geschützt. Nur nicht seine Leistengegend. Da der Dresscode es nicht forderte, hat er den Unterleibschutz seiner Bristol zuhause im Camp gelassen. Man ist schließlich dankbar für jedes Kilo!
Er wird nie eine Tochter trösten.
Plus 2 Stunden
Zwei Zivilisten in einem staubigen Toyota Pickup fahren die Strasse entlang, ein Handy fliegt aus dem Fenster. Moderne Ein-Weg Produkte. Später wird es vom EOD gefunden und als Fernzünder erkannt.
Nun stehen sie gelassen in der Schlange am letzten Checkpoint.
Niemand verlässt einfach das Tal nach so einem Anschlag, wie üblich.
Wie üblich sind sie ein paar Stunden später wieder zu Hause. Sitzen zu Tisch, mit ihrer Familie. Naja, nicht ganz wie üblich. Normalerweise nehmen sie ein Auto. Oder eine alte Panzermine, aber diese verfluchten Checkpoints…
Man fand keine Waffen in ihrem Auto, keine Hinweise. Im Gegenteil, einer von beiden hat sogar aktiv am Bau der Schule mitgeholfen, mit seinem Pickup Zementsäcke gefahren.
Es sind gute Menschen, treu sorgende Familienväter, Zivilisten, keine irregulären Kämpfer.
Die Wahrheit hat viele Gesichter.
Plus 1 Jahr
Leben…?
Nein. Er hätte fast ein Kind erschossen. Oder hätte er genau das tun sollen? Was wenn er stehen geblieben wäre? Höher gezielt hätte? Was für ein Monster wäre er dann? Moralisch? Was für ein Monster ist er jetzt? Körperlich? Was hat er falsch gemacht? Die fünf Meter? Waren sie der Unterschied? Hätten sie sonst überhaupt gezündet? Hätten die Kameraden sie vorher aufgespürt? Sie waren so gut, so schnell, elegant wie Profis. Die Nacht zuvor sahen sie Ice Age III.
Süße Unschuld, sie haben sie alle für immer verloren.
Seine Schuld?
Diese Bilder. Jede Faser schreit, doch kein Ton dringt nach draußen.
...und keine Stimme nach drinnen.
Plus 1,5 Jahre, nachts, schweißgebadet
Er schreit, doch kein Ton seiner Kehle entrinnt.
Er schreit weiter, versucht es, die Seele wird blind.
Er schreit um sein Leben, oder um Ihres?
Ein Schrei: laut, real. "Was ist?" - "Nichts Schlimmes!"
Seine beiden Augen starren in die Dunkelheit.
Sein Körper liegt ruhig, doch die Seele, sie schreit.
Plus 3 Jahre, Heimatland der zivilen Helfer und der Soldaten
Immer noch Schmerzen, Immer noch ein entstelltes Gesicht. Ein Auge hat man retten können, den Unterleib auch, nur Sex wird es nie mehr geben.
Jedenfalls nicht so einfach. Ohne tiefgreifende OP’s. Auch das Gesicht kann Schritt für Schritt repariert werden. Moderne Medizin, moderne plastische Chirurgie, moderne Implantate, moderne Körperpanzer, moderne von Handy’s gezündete Geschenke…
Bis auf letztes alles sehr teuer.
Kann man nicht einfach sterben wenn die Zeit dafür gekommen ist?
MedEvac und anschließende Versorgung übernahm die Armee. Aber nach dem Ende der Dienstzeit? Der Staat muß sparen. Und Kriegsversehrte gibt es nicht. Man ist ja nicht im Krieg! Die Soldaten waren auf einer Friedensmission! Also war es ein Unfall. Ein Fall für die Versichrung. Moment? Was ist passiert? Eine Bombe? Ein Unfall? Ein Lacher! Wo ist das passiert? Nein, es steht deutlich in jeder Police: Kriegsgebiete ausgeschlossen, und dort herschte doch ein kriegsähnlicher Zustand, nicht wahr? Moderne Ein-weg Helden.
Plus 3 Jahre, Heimatland des Mädchens und der Männer im Pickup
Auch die Familie des Mädchens kriegt kein Geld, keine Entschädigung von den irregulär kämpfenden Kräften. Sie starb ja für die gerechte Sache. Die Söhne des Tals gehen jetzt in eine richtige Schule. Eine Religionsschule und lernen dort friedlich die Schrift. Die Mädchen sitzen wieder brav bei ihren Müttern zu Hause. Jetzt, da die Fremden weg sind, ist der Frieden zurück ins Tal gekehrt. Was braucht man mehr?
Vielleicht Geld… wäre das Mädchen erschossen worden, der Staat der Besatzer zahlt ordentliches Geld als Entschädigung. Weizen kommt billigst von verschiedenen Hilfsorganisationen, Handy’s immer billiger aus China.
Nur Sprengstoff und Munition bleiben auch in einer globalisierten Welt teuer! Marktwirtschaft.