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Der lange Marsch
"Na, heute bist du aber spät", ruft der alte Mann und winkt mit seiner kräftigen Pranke.
Er sitzt auf diesem Gartenstuhl, auf dem er immer sitzt, und beobachtet seinen Gemüsegarten.
Auf dem daneben verlaufenden Weg halte ich kurz inne und winke zurück.
"Überstunden." - Das muss für heute reichen.
Ich kenne den Mann nicht. Er sieht mich jeden Tag an seinem Garten vorbeigehen, wenn ich von der Arbeit komme.
Irgendwann, nachdem ich drei Tage lang krank gewesen war, sagte er einfach: "Da bist du ja wieder. Urlaub gehabt?"
Ich erwiderte: "Nein. Schlimme Erkältung."
Und so fing es an, dass wir jeden Tag ein paar Worte miteinander wechselten, wenn ich vorbeikam. Nie mehr als drei oder vier.
Der alte Mann ist Routine geworden, aber wenn ich zu Hause bin, kommt er mir erst nach dem nächsten Feierabend wieder in den Sinn, doch dann ist er fester Bestandteil, wie das allmorgendliche Kaffeetrinken.
Ich habe daher beschlossen, ihm eine Geschichte zu schreiben, die unsere ungewöhnliche Beziehung zum Inhalt hat.
Er wird sich vielleicht freuen. Sicher bin ich mir nicht. Ich kenne ihn ja kaum. Ich denke jedoch, dass er einsam ist.
Den Text habe ich ausgedruckt und in einen Umschlag gesteckt. Auf die Vorderseite habe ich Merkwürdige Bekanntschaft geschrieben. Das erschien mir im Nachhinein allerdings ziemlich fade und unpersönlich, daher habe ich auf dem Weg zu seinem Garten noch hastig Ich finde sie interessant, diese kurzen Wortwechsel mit Kugelschreiber darunter gekritzelt.
Doch der Garten ist leer vom alten Mann, und das Gemüse hat wohl auch schon bessere Tage gesehen. Der Stuhl ist ebenfalls nicht im besten Zustand. Ich stehe da und überlege.
Das Gartentor ist nicht verschlossen, trotzdem schließe ich es wieder.
Hier reihen sich weite Gärten an noch weitere. Der ursprüngliche Dorfkern. Keine neuzeitlichen Reihenhäuser, sondern riesige Gelände. Ehrlich gesagt habe ich bislang gar nicht darüber nachgedacht, wie man zur Vorderseite des Gebäudes gelangen kann.
Mir wird bewusst, dass ich den gesamten Feldweg zurücklaufen muss, um dann in eine Seitenstraße einzubiegen.
Hier kann doch keiner wohnen.
Der Weg von zerbrochenen Platten gesäumt, die Büsche als Unkraut manifestiert, blinde Fenster, die vor langer Zeit ihr eigenes Zerbersten gehört haben. Kein Klingelschild und nichts was auf ... nein, hier kann kein Mensch leben.
Die Klingel funktioniert nicht, was unbedeutend ist, da die Tür ohnehin von quer liegenden Brettern verbarrikadiert ist. Ich greife nach der Fußmatte und lege sie auf den Sims rechts neben mir, um mich nicht an den Scherben zu verletzen, während ich durch die Fensteröffnung in das Haus eindringe.
Ein Hundekadaver liegt auf den Kacheln. Töpfe reihen sich wie eine bizarre Armee der Vergammelung auf dem Gasherd.
Im Treppenhaus sitzt der tote alte Mann auf den Stufen und hält einen Brief in seiner Hand.
Sein Fleisch ist den Knochen gewichen, hängt nur noch hier und da wie lose Fetzen vom schmächtigen Körper. Ich sollte entsetzt sein.
Auf dem Briefumschlag steht: "Es gibt etwas, was du nicht weißt."
***
Immer, wenn ich von der Arbeit komme, sitzt dort der alte Mann auf seinem kaputten Stuhl.
"Na, heute bist du aber spät. Hast du den Brief gelesen?"
Ich ignoriere ihn, und gehe schnell weiter. Nur noch nach Hause.
Dieser verdammte Text von ihm.
Ich habe so oft hier gesessen. Dieser Stuhl ist Bestandteil meines Lebens gewesen. Das ist der Punkt. Du hast es immer eilig, arbeitest lange, und das Einzige, was du genießt, ist der Fußweg von der Arbeit nach Hause. Denke nach. Die Hölle mein Junge. Sie ist ewige Widerspiegelung von Routine. Du gehst ...
Wann habe ich zuletzt anderes gemacht? Ich laufe und laufe, und laufe, und laufe ... und dann kam der LKW.
... immer nur nach Hause. Immer und immer wieder.