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Der lange Marsch

Seniors
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24.04.2003
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Der lange Marsch

"Na, heute bist du aber spät", ruft der alte Mann und winkt mit seiner kräftigen Pranke.
Er sitzt auf diesem Gartenstuhl, auf dem er immer sitzt, und beobachtet seinen Gemüsegarten.
Auf dem daneben verlaufenden Weg halte ich kurz inne und winke zurück.
"Überstunden." - Das muss für heute reichen.
Ich kenne den Mann nicht. Er sieht mich jeden Tag an seinem Garten vorbeigehen, wenn ich von der Arbeit komme.
Irgendwann, nachdem ich drei Tage lang krank gewesen war, sagte er einfach: "Da bist du ja wieder. Urlaub gehabt?"
Ich erwiderte: "Nein. Schlimme Erkältung."
Und so fing es an, dass wir jeden Tag ein paar Worte miteinander wechselten, wenn ich vorbeikam. Nie mehr als drei oder vier.
Der alte Mann ist Routine geworden, aber wenn ich zu Hause bin, kommt er mir erst nach dem nächsten Feierabend wieder in den Sinn, doch dann ist er fester Bestandteil, wie das allmorgendliche Kaffeetrinken.

Ich habe daher beschlossen, ihm eine Geschichte zu schreiben, die unsere ungewöhnliche Beziehung zum Inhalt hat.
Er wird sich vielleicht freuen. Sicher bin ich mir nicht. Ich kenne ihn ja kaum. Ich denke jedoch, dass er einsam ist.
Den Text habe ich ausgedruckt und in einen Umschlag gesteckt. Auf die Vorderseite habe ich Merkwürdige Bekanntschaft geschrieben. Das erschien mir im Nachhinein allerdings ziemlich fade und unpersönlich, daher habe ich auf dem Weg zu seinem Garten noch hastig Ich finde sie interessant, diese kurzen Wortwechsel mit Kugelschreiber darunter gekritzelt.
Doch der Garten ist leer vom alten Mann, und das Gemüse hat wohl auch schon bessere Tage gesehen. Der Stuhl ist ebenfalls nicht im besten Zustand. Ich stehe da und überlege.
Das Gartentor ist nicht verschlossen, trotzdem schließe ich es wieder.
Hier reihen sich weite Gärten an noch weitere. Der ursprüngliche Dorfkern. Keine neuzeitlichen Reihenhäuser, sondern riesige Gelände. Ehrlich gesagt habe ich bislang gar nicht darüber nachgedacht, wie man zur Vorderseite des Gebäudes gelangen kann.
Mir wird bewusst, dass ich den gesamten Feldweg zurücklaufen muss, um dann in eine Seitenstraße einzubiegen.


Hier kann doch keiner wohnen.
Der Weg von zerbrochenen Platten gesäumt, die Büsche als Unkraut manifestiert, blinde Fenster, die vor langer Zeit ihr eigenes Zerbersten gehört haben. Kein Klingelschild und nichts was auf ... nein, hier kann kein Mensch leben.
Die Klingel funktioniert nicht, was unbedeutend ist, da die Tür ohnehin von quer liegenden Brettern verbarrikadiert ist. Ich greife nach der Fußmatte und lege sie auf den Sims rechts neben mir, um mich nicht an den Scherben zu verletzen, während ich durch die Fensteröffnung in das Haus eindringe.
Ein Hundekadaver liegt auf den Kacheln. Töpfe reihen sich wie eine bizarre Armee der Vergammelung auf dem Gasherd.
Im Treppenhaus sitzt der tote alte Mann auf den Stufen und hält einen Brief in seiner Hand.
Sein Fleisch ist den Knochen gewichen, hängt nur noch hier und da wie lose Fetzen vom schmächtigen Körper. Ich sollte entsetzt sein.
Auf dem Briefumschlag steht: "Es gibt etwas, was du nicht weißt."

***

Immer, wenn ich von der Arbeit komme, sitzt dort der alte Mann auf seinem kaputten Stuhl.
"Na, heute bist du aber spät. Hast du den Brief gelesen?"
Ich ignoriere ihn, und gehe schnell weiter. Nur noch nach Hause.
Dieser verdammte Text von ihm.

Ich habe so oft hier gesessen. Dieser Stuhl ist Bestandteil meines Lebens gewesen. Das ist der Punkt. Du hast es immer eilig, arbeitest lange, und das Einzige, was du genießt, ist der Fußweg von der Arbeit nach Hause. Denke nach. Die Hölle mein Junge. Sie ist ewige Widerspiegelung von Routine. Du gehst ...

Wann habe ich zuletzt anderes gemacht? Ich laufe und laufe, und laufe, und laufe ... und dann kam der LKW.

... immer nur nach Hause. Immer und immer wieder.

 

Eine durchaus lesenswerte Geschichte. Stilistisch ist sie auf jeden Fall in Ordnung, wenn auch gewohnt knapp. Die Pointe war eine runde Sache, ich hatte schon schlimmes vermutet - nämlich dass sie einfach nur darin besteht, dass der Alte tot ist (was leider relativ schnell klar war). Einzig störend war, darüber im Unklaren gelassen zu werden, was der Protagonist denn in seiner Geschichte im einzelnen schrieb. Oder soll es sich dabei um die vorliegende Erzählung handeln? Das wäre dann aber seltsam, da er dafür über die Gabe der Hellseherei verfügen müsste.
Das Ende habe ich so verstanden, dass auch der Protagonist tot ist, aus seiner Routine gerissen von einem LKW, der ihn erwischte. Wenn ich recht habe bleibt natürlich fraglich, wann genau das geschah, im engeren Zeitrahmen der Geschichte oder in der Vergangenheit. Die Zeitform des Präteritums

... und dann kam der LKW.
scheint mir hier allerdings ungünstig, bedenkt man die sonstige Präsenzform und das "und dann" in dem Satz. Vielleicht hättest du für den Schluss insgesamt die Vergangenheit wählen sollen.
Wann habe ich zuletzt anderes gemacht? Ich lief und lief, und lief, und lief ... und dann kam der LKW.
Es sei denn, dich würde an dieser Lösung stören, dass die Handlung des Laufens dann als abgeschlossen angesehen werden könnte.


Gruß,
Abdul

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Cerberus,


erst dachte ich, ist das die richtige Rubrik? Als "Horror" würde ich die Geschichte nicht sehen, aber gegen Ende wirds doch gruslig, insofern passt's. Die Geschichte habe ich gern gelesen, auch wenn sie rein zwischenmenschlich einen bedenklichen Aspekt enthält: Der Prot kennt den alten Mann, hat sogar eine gewisse Beziehung zu ihm aufgebaut. Er stellt fest, dass der alte Mann plötzlich weg ist, sein Garten zuwuchert. Müsste es ihn nicht interessieren, ob dem Alten etwas widerfahren ist und er mal nach dem Rechten sehen? Er macht es zwar, aber offensichtlich reichlich spät...;)

Das "Wegschauen" ist leider die eher natürliche Reaktion in unserer Gesellschaft, aber zwischen den beiden bestand ja eine vage Beziehung.

Beste Grüße
nic

 

Nette kleine Miniatur. War echt spannend zu lesen. Was mich etwas verstört ist der Bruch nach den drei Sternchen. Einerseits die Sache mit dem LKW, was die Vorredner schon zur Genüge angesprochen hatten, aber andererseits, dass der alte wieder in seinem Stuhl auftaucht und ignoriert wird ... bin ich da irgendwie zu doff für irgendwas?

LG,

N

 

Tja ist irgendwie schade, dass den Autoren die Geschichte gar nicht zu interessieren scheint... aber sei's drumm.

Nein, sorry.
War unhöflich von mir, bislang nicht zu antworten. Wollte das eigentlich schon vor ein paar Tagen, hab dann aber später vergessen.

Der von euch angesprochene LKW gefällt mir mittlerweile auch nicht mehr so richtig. Er war halt als Mittel zum Zweck gedacht, damit klar wird, das der Protagonist auf seinem Weg nach Hause tödlich verunglückt ist, und nun immer und immer wieder diesen Weg geht.
Ich weiß nicht recht, wie ich das ändern sollte.
Ich muss mal schauen.

Vielen Dank für eure Kommentare und fürs lesen sowieso.

Grüße

Cerberus

 

Hallo Cerberus,

Eine gute Idee gut umgesetzt. Ich habe eigentlich nur einige kleinere Maengel feststellen koennen.

Der Weg von zerbrochenen Platten gesäumt, die Büsche als Unkraut manifestiert, blinde Fenster, die vor langer Zeit ihr eigenes Zerbersten gehört haben.
Ab gesehen davon, dass ich mich an dem "manifestiert" stosse, begehst du hier einen ziemlich groben Stilwechsel im Vergleich zum Rest des Textes. Dein Protagonist ist ein einfacher Mann, der einfache Geschehnisse mit einfachen Worten beschreibt, bis er ploetzlich einen literarischen Ausbruch bekommt.

Das Gartentor ist nicht verschlossen, trotzdem schließe ich es wieder.
Haeh? :confused: An dieser Stelle bin ich gestolpert. Ich glaube was du sagen willst ist in etwa:
"Ich schliesse das Gartentor hinter mir, obwohl es vorhin offen stand."

Die Klingel funktioniert nicht, was unbedeutend ist, da die Tür ohnehin von quer liegenden Brettern verbarrikadiert ist.
Wenn es unbedeutend ist, warum erzaehlst du es uns dann? Warum nicht einfach:
"Die Tür ist mit quer liegenden Brettern verbarrikadiert. Die Klingel funktioniert nicht."

Töpfe reihen sich wie eine bizarre Armee der Vergammelung auf dem Gasherd.
Nicht ganz so ein Stilbruch wie davor, aber das Wort Vergammelung stoert mich etwas.

"Na, heute bist du aber spät. Hast du den Brief gelesen?"
Ich ignoriere ihn, und gehe schnell weiter. Nur noch nach Hause.
Dieser verdammte Text von ihm.
Ein weiterer Satz, der mir einfach unangenehm aufgefallen ist. Viel Besseres faellt mir aber auch nicht ein, vielleicht:
"Ja, ich hatte ihn gelesen."

Die drei Sternchen kannst du streichen. Es ist auch so klar, dass Zeit zwischen den Absaezten vergangen ist, und es kommt nicht darauf an wieviel.

Mit dem LKW habe ich genauso Probleme. Vielleicht solltest du es umstellen:
"Wann habe ich zuletzt etwas anderes gemacht? Nicht seit dem LKW."

 

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