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Der letzte Bericht
Die Sonne brannte sich ihren Weg durch eine große Distanz leeren Raumes. Hin und wieder drückten ihre Photonen Staubpartikel zur Seite oder schmolzen mikroskopisch kleine Eiskristalle zu Wasser, das schließlich verdampfte. Nach ein paar Minuten trafen die Strahlen auf die Atmosphäre des Planeten und durchdrangen immer dichter werdende Schichten. Bald wurde der Weg mühsamer, doch auch das konnte die Sonnenstrahlen nicht abhalten, bis zum Boden durchzukommen. Atmospähre wurde abgelöst von einem Sauerstoffgemisch, das wir Luft nennen. Viele Kilometer mussten sich die Strahlen durch diese dichte Suppe kämpfen. Im Vergleich zu dem Vakuum verrichteten die Photonen hier Schwerstarbeit. Dann endlich erreichten sie den Boden und reflektierten, bis sie in das Auge eines Betrachters fielen.
In vier Himmelsrichtungen wuchs eine Wüste den Horizonten entgegen und erstrahlte in grellem Licht. Es war drückend heiß, und ein Betrachter konnte die Luft flimmern sehen. Das Gelände von MavTech war keine zwei Kilometer entfernt. Es stand verlassen in der Wüste Nevadas und streckte Besuchern seine kalten Sicherheitszäune entgegen, auf denen immer noch der Stacheldraht wucherte. Selbst die Sonne, die Hitze und die wechselnden Temperaturen zusammen, brauchten einige Zeit ein solch stabiles Material zu zermürben. In dem umzäunten Gebiet standen die mehrstöckigen Gebäude von MavTech ebenso verlassen wie die restliche Wüstenregion, jenseits der Begrenzung. Nur die Echsen und Insekten konnten hier draußen überleben, und so waren sie schon lange Herr über die Lage. Das verlassene Industriegebiet mieden sie allerdings aufgrund der Gerüche, die ein Mensch als abstoßend bezeichnet hätte. Die Tiere hatten kein Vokabular für eine solche Erscheinung, wussten allerdings ihre Reize zu deuten. Das Gelände war hoch toxisch und seit langem noch nicht einmal mehr von Kakerlaken betreten worden. Die Gebäude der Firma standen in kalter Ästhetik in geometrischen Formen zusammen in Gruppen, die aus der Luft betrachtet Muster ergaben. Vögel konnten diesem Bild hin und wieder gewahr werden, wenn sie hoch genug flogen. Doch mit den Vögeln verhielt es sich wie mit den Echsen und Insekten: Sie waren nicht schlau genug, um so etwas zu würdigen. Nicht einmal die AirForce kam hierher. Sie hatten das Gebiet längst für tot erklärt. Unzählige Quadratkilometer waren verseucht und kontaminiert, mussten gemieden und vor der Öffentlichkeit verleugnet werden. Nicht wenige Agenten hatten sich hier vergiftet und lagen jetzt tot in den Etagen der Firmengebäude. Schweigend für immer, gefangen zwischen der geometrischen Schönheit, die einst ein Ingenieur ersonnen hatte. Die Dächer waren gelb, malvenfarben und weinrot. Inzwischen waren die Farben von den Sonnenstrahlen gebleicht, doch das änderte nichts an ihrer ursprünglichen Bedeutung. Mitarbeiter von MavTech hatten einmal gewusst, dass die Gebäude mit gelbem Dach Forschungsräume der forensischen Abteilung waren. Die malvenfarbenen hingegen für die Kybernetik, und in den weinroten nisteten die Experten der Biologie und trugen ihre Ergebnisse zusammen, wie die Bienen den Honig in eine Wabe. In der Mitte des umzäunten Gebietes stand ein Turm. Er war eine dicke, fünfzig Meter hohe Betonsäule, die einmal blau gewesen war und auf einer unterbewussten Ebene an Wasser erinnern sollte. Wasser, der lebensnotwendige und hier draußen vor allem erfrischende Lebenssaft, aus dem alles entstanden war. Die Farbe war mittlerweile abgeblättert. Darunter fiel jetzt Stahlbeton der Witterung anheim. Ein Prozess, der irgendwann den ganzen Turm verschlingen würde.
Der Turm war einmal die Rechenzentrale gewesen. Das Gehirn der ganzen Anlage. Hatte eine Forschungsgruppe neue Testergebnisse vorzuweisen oder gar einen neuen wissenschaftlichen Durchbruch erzielt, wurden die Daten direkt in den Großrechner des blauen Turms gespeist. Dort wertete eine Analysesoftware die Ergebnisse aus und versuchte die Daten zu korellieren. Fand sie eine Übereinstimmung oder eine naheliegende Beziehung zwischen zwei Themengebieten, teilte sie automatisch eine Gruppe von Wissenschaftlern ein, wies ihnen Räume zu und öffnete die Materialspeicher für Geräte, die für den neuen Auftrag benötigt werden würden. Eines dieser Projekte, es war schon lange her, hatte das Kernproblem der Verbindung von biologischen Datenspeichern und Silizium zum Thema und sollte nun eine Lösung anbieten, die einen Durchbruch versprach. Nicht nur Forschung und Wissenschaft wären von diesem Durchbruch betroffen, sondern auch Politik und Wirtschaft. Die vierzig Forscher, die jene Analysesoftware ausgewählt hatte, waren die jeweiligen Spitzenpersonen in ihren Gebieten und wussten worauf sie sich einließen. Das Projekt war zugunsten des technischen Fortschritts durchgeführt worden und nicht, um eine Studie über die moralischen Standpunkte menschlichen Denkens zu werden. Im Nachhinein hatte MavTech eingesehen, dass der letzte Punkt zu wenig berücksicht worden war, doch da war es schon zu spät. Auch das öffentliche Bekenntnis der Firma konnte an der Schuld nichts mehr ändern. Auch nicht die Hinrichtung aller noch lebenden beteiligten Wissenschaftler. Diese Geste beruhigte nur die politischen Fanatiker und legte eine Hand voll ethischer Problemfragen zu den Akten, aber die Ergebnisse des Projekts, das, was die Forscher erschaffen hatten, konnte damit nicht mehr revidiert werden. Allenfalls vertuscht, doch darauf kam es nicht an. Jedenfalls nicht langfristig. Man hatte das Firmengelände abgeriegelt, die Aktien und Außenposten verkauft, man hatte die Verantwortlichen bestraft und mit rechtlichen Mitteln ermordet oder verschwinden lassen, man hatte das schlechte Gewissen beruhigt, und schließlich alles vergessen. Am Ende blieb nur das Gelände der Firma MavTech irgendwo in der Wüste, das langsam von der Sonne pulverisiert wurde. Doch damit war die Sache nicht aus der Welt. Langfristig hatte sich damit gar nichts geändert.
Der letzte sterbende Forscher hatte in seiner Liebe zu seiner Arbeit und aus Angst vor den Konsequenzen der Wahrheit, den Code der Maschine per Zufall programmiert. Nicht einmal er selbst würde jetzt die Maschine jemals anschalten können. Kein Mensch dieser Welt, kein Dechiffrierungsprogramm, kein Zusammenschluss der weltbesten Informatiker würde diese eine Millionen Zeichen lange Segmentkette rekonstruieren können. Die Daten rauschten einmal über das Display. Der gesamte Schlüssel, in aller Form und Detail wurde einmal visuell an die Außenwelt abgegeben, dorthin, wo eine Kamera ihn für spätere Bedürfnisse hätte aufzeichnen können, doch nichts dergleichen geschah. Das Display zeigte. Der Wissenschaftler sah. Das Display erlosch. Die Technik brannte durch und entzündete das Feuer. Hätte man den Wissenschaftler gefragt, so hätte er sich an die ersten vier Zeichen des Codes erinnern können, vier Zeichen, auf die weitere neunhundertneunundneunzigtausendneunhundertsechundneunzig folgten. Der Anfang der großen Katastrophe, der Anfang vom Ende, und der Anfang von etwas für die Menschheit nicht Rekonstruierbarem. Obwohl es niemand hörte, sprach der Wissenschaftler die Worte, während sich rings um ihn herum die Anlage selbst zerstörte. Der Lärm übertönte seine Stimme, und nur ein digitaler Audiospeicher nahm die Schallwellen in sich auf, der am anderen Ende des Raumes Sicherheitsaufnahmen machte, um sie ebenso wie alles andere, an den Großrechner zu schicken.
Dort schlummern sie in digitaler Form schon eine ganze Weile, einen halben Kilometer unter der Oberfläche der Wüste Nevadas, einst verbunden mit der Welt durch ein Glasfaserkabel mit dem Durchmesser von einem halben Meter, doch seit dem Vorfall abgeschnitten und irreparabel zum Schweigen verdammt.
Die ersten vier Zeichen des Codes, die der Wissenschaftler laut aussprach, lauteten: E, N, D, E. Weiter kam er nicht. Er hätte sich ohnehin an kein weiteres Segment der eine millionen Zeichen langen Kette erinnern können, denn das Display hatte sie nur eine halbe Sekunde kundgegeben, und selbst wenn, wäre ihm keine Zeit mehr geblieben, da ein Stück Metall zu diesem Zeitpunkt seinen Kopf durchschlug. Es war durch die Explosion aus einem Schreibtisch rechts hinter ihm gerissen und auf sechshundert Kilometer pro Stunde beschleunigt worden. Die neurale Struktur des Wissenschaftlers hatte keine Zeit mehr um die Information "Schmerz" an die Knotenpunkte weiterzugeben, die der Wissenschaftler als ein Gefühl interpretiert hätte. Stattdessen fiel sein Körper wie ein Sack voller Knochen zu Boden und brauchte acht Monate um restlos zu verrotten.
Doch der Code war nicht das einzige gewesen, das der Wissenschaftler in der letzten Stunde seines Lebens programmiert hatte. In weiser Voraussicht hatte er ein einfaches aber wirkungsvolles Programm geschrieben. Er wusste, dass die durch Erdwärme regenerierten Energiecluster des Großrechners bis zu ihrem Zerfall aktiv sein würden. Durch die vierzig Meter dicke Diamanthülle, die den Computer umgab wie eine verbesserte Eierschale, war dieser Verfall vorerst nicht zu erwarten. Das Programm machte jede Sekunde ein hoch aufgelöstes Bild vom Himmel über der Wüste, das unter anderem auch Informationen über den Standort einzelner Photonen beinhaltete. Des weiteren wählte das Programm eine Millionen Bildpunkte die einem Photon entsprachen durch das Zufallsprinzip und wies es fünfzig verschiedenen Klassen zu. Die Anzahl der möglichen Zeichen, in denen der Code geschrieben war. Jede Sekunde sandte das Programm die Auswertung an den Großrechner und verlangte Systemzugriff. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Anordnung der Photonen genau der Interpretation des Codes entsprach, war verschwindend gering. Doch Faktoren wie die Wahrscheinlichkeit waren für das Programm nicht von Belang. Sechshundertdreißig Jahre, einundzwanzig Tage, drei Stunden, fünzig Minuten und eine Sekunde lang schickte das Programm die Anfrage an den Großrechner, bis die Codeeingabe schließlich als korrekt vermerkt und die Maschine aktiviert wurde.
Der Wissenschaftler in seiner Weisheit hätte dieses Ereignis aufgrund seiner geringen Wahrscheinlichkeit immer noch als ein Wunder bezeichnet, da es jeder mathematischen Überprüfung lästerte. Doch was zählte, war einzig und allein die richtige Eingabe, und so gab der Großrechner die Aktivierungsprotokolle der Maschine frei, worauf sie sich das erste Mal selbst überprüften. Alles, was danach passierte, ist nichts weiter als Geschichte, und wäre noch ein Mensch am leben, hätte es vielleicht sogar einen Sinn von den Ereignissen zu erzählen.
Bericht 68Xx245. KI - Sprachroutine, westlicher Analysesektor MavTech Systems, Standort Nevada, fünfhundert Meter unter Null. Gespeichert in Block ZZ4, automatische Berichterstattung in Form menschlicher Prosa. Ende.
10.7.2005